Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Nachmittags saß Kosel im Zimmer Elikas, auf seinem gewohnten Platz, einem niedrigen 64 Fauteuil in der Ecke neben dem Fenster, aus dem sich ein Ausblick über den Gruftgarten bot. Er war durch die Straße vom Parke getrennt, der das Schloß umgab, und bildete eine breite, eingefriedete Bucht in die angrenzenden Felder. Das vergoldete Kreuz der Kapelle glänzte im Sonnenschein zwischen den Bäumen und sprühte feurige Funken durch ihre Wipfel, die der Wind leise schaukelte.

Kosel war in eine seiner dumpfen Träumereien versunken. Ja, dachte er, es kommt wirklich vor, daß wer sucht, findet. Da habe ich jetzt einen Hofmeister für die Buben gefunden und habe ihn engagiert, habe einen solchen Entschluß gefaßt – ich allein – ohne sie . . . Aber . . . wer weiß? vielleicht nicht ohne sie. Vielleicht war sie's, die den Mann geschickt hat, vielleicht wacht sie drüben über ihre Kinder und sorgt für sie, und ist noch bei uns, im Geiste . . . und das ist so viel . . . so viel . . .

Aber dieses »viel« schien ihm doch lange nicht genug. Eine brennende, rat- und hilflose Sehnsucht erfaßte ihn gar oft. Er senkte das Haupt und begegnete einem fest und unverwandt auf 65 ihn gerichteten Blick. Dem Blick des Kindes. Elika saß außerhalb der Gehschule auf dem Teppich, ganz und gar als glückliche Mutter. Sie hielt eine Puppe ans Herz gepreßt, eine lag auf ihrem Schoße, ein halbes Dutzend anderer umgab sie im Halbkreis, teils auf Stühlchen sitzend, teils in Wiegen gebettet. Seit einer Weile jedoch hatte sich ihre Aufmerksamkeit von ihnen ab und Herrn von Kosel zugewendet. Forschend, durchdringend betrachtete sie ihn. Auf einmal ließ sie ihre Puppen zur Erde fallen, und mit Bedacht und mit einer wunderbaren Energie erhob sich das winzige Ding und stand auf seinen Beinchen.

Frau Budik, die sich still in der Tiefe des Zimmers gehalten hatte, um den gnädigen Herrn in seinen Gedanken nicht zu stören, stieß einen Schrei der Überraschung aus. Vorgestern erst hatte sie versucht, die Kleine auf die Füße zu stellen, und sie war hin und her gewankt und hatte gewarnt: »Nicht fallen lassen! nicht fallen lassen!« . . .

Bei dem Kind kam alles anders als bei andern Kindern. Sie sprach wenig, aber von 66 Anfang an deutlich und verständlich. Einen einzigen Schritt zu machen, war sie bisher unfähig gewesen – und jetzt ging sie, weil sie wollte, weil sie den Entschluß gefaßt hatte – ging graden Weges auf ihren Vater zu, legte, bei ihm angelangt, die Ärmchen auf sein Knie, sah zu ihm hinauf und sagte:

»Armer Papa!«

Er war verwundert, er blickte sie nicht ohne Interesse an. Regungen der Zärtlichkeit für seine Kinder kamen selten bei ihm vor; nun aber empfand er eine Art von wohlwollender und mitleidiger Zuneigung für diese Jüngste, für die unschuldige Muttermörderin. Er ließ die Hand über die Haare des Kindes gleiten.

»Sie ist herzig,« sprach er zu Frau Budik. »Schad, daß sie nicht bei uns bleiben soll.«

*

Es war die Gewohnheit des Nachtwächters von Velice, sich, nachdem er Zehn getutet hatte, in seinen Mantel zu wickeln, auf eine der breiten, steinernen Bänke auszustrecken, die rechts und links vom Portale des Schlosses standen, und 67 einzuschlafen. Wenn er erwachte, gleichviel ob in stockfinsterer Nacht, ob im Morgengrauen, tutete er Elf. Von der Schloßuhr hatte er keine Berichtigung zu befürchten, die ging längst nicht mehr, weil sie entweder sehr krank oder vielleicht nur nicht aufgezogen war.

Aus seinem ersten, seinem allerbesten Schlafe wurde der Nachtwächter heute durch heftiges Niesen, in das er ausbrechen mußte, geweckt. Er fuhr auf. Das war kein natürliches, innerlich bedingtes Niesen, das war ein tückisch von außen hervorgerufenes gewesen. Jemand hatte ihn an der Nase gekitzelt, sie juckte ihn noch, und nun war ihm, als ob er ein Kichern vernehme. Sehen konnte er nichts, es war sehr dunkel, und nicht ein Stern am Himmel. »Wer da?« rief er emporschnellend . . . Stellte ihm jemand ein Bein, stolperte er über seinen Mantel – wer weiß es? – im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden und brüllte: »Diebe! Diebe!«

»Still!« raunte eine Stimme ihm zu, die er als die des jungen Herrn Josef erkannte, und eine kräftige Hand preßte sich mit solcher Stärke auf seinen Mund, daß er zu ersticken 68 meinte. »Wenn Ihr nicht schweigt, erfährt der Verwalter morgen, wie Ihr Euren Dienst verseht. Dann freut Euch!«

»Herr Jesus, Sie werden mich nicht unglücklich machen wollen!« stammelte Kaspar.

»Wir werden schon sehen, was ich will. Jetzt sag ich Euch nur eins: drüben, auf der andern Seite des Schlosses, wo unsere Zimmer sind, steht ein Fenster offen, und von ihm hängt ein Seil herab. Haltet Wache bei dem Seil. Ich muß es wiederfinden, wenn ich zurückkomme in einer Stunde oder in zwei.«

»Wohin denn, jetzt in der Nacht, Herr Josef? Sie sollen zu Hause bleiben . . .«

»Ja, ja! Ihr werdet mir sagen, was ich soll! Mit Gott, Kaspar, und denkt an den Herrn Verwalter!«

Der Kies knisterte nicht lauter, als wenn ein welkes Blatt über ihn hingeraschelt wäre . . .

»He! He! Herr Josef!« Kaspar sagte sich, daß er ihm nach, ihn einholen und zurückbringen sollte. Der junge Herr hat nicht herumzulaufen in der Nacht. So zündete der Wächter seine Blendlaterne an und rannte die Scarpe 69 hinauf in der Richtung, von der aus er meinte, das Knistern vernommen zu haben. Aber o je! o je! – fange du den Wind im Felde! Der junge Herr, der die Kraft eines Bären hatte, hatte zugleich die Leichtigkeit einer Schwalbe. Auf den frisch gerechten Wegen war nicht die Spur eines Fußes zu entdecken. Ja, ja, so einer, der auf verbotenen Pfaden geht, springt über die Wege und läuft über die Wiesen. Der Nachtwächter gab die aussichtslose Verfolgung auf und näherte sich wieder dem Hause. Dunkel und totenstill lag der große Würfel da, nur im Sibyllenturm brannte noch Licht. Das fromme Fräulein Renate erwartete wie gewöhnlich die Mitternacht im Gebete. Kaspar ging weiter, die Mauer entlang, sich zu überzeugen, ob wirklich ein Seil von dem Fenster, das Josef ihm bezeichnet hatte, niederhing. Es war da. Der vermaledeite Bursche hatte sich wirklich an ihm herunterlassen müssen. Wie wäre er sonst unbemerkt aus dem Hause gekommen? – und jagte jetzt weiß der Teufel welchen Abenteuern nach.

Früh fängt er an, und man muß sagen: da 70 fällt der Apfel weit vom Stamm. Da war der Vater sein Lebtag anders, dem hat die böseste Zunge »nie nichts« nachsagen können. – Der Josef indessen . . . Was das nur sein mag, das den nicht schlafen läßt? Kaspar bringt eine Weile mit Kopfschütteln zu und schüttelt wirklich allerlei Gedanken heraus, die aber sämtlich nichts wert sind. Zuletzt kommt dennoch ein guter. Nach Valahora wird er gegangen sein. Um Valahora schnüffeln sie immer herum, die jungen Herren, obwohl es ihnen verboten ist, oder eben deswegen . . . Und jetzt ist ja der Bornholm da, der Teufelsbraten. Und zu dem schleicht er sich. Gut zu wissen, Herr Josef, so, so! Jetzt verklagen Sie mich beim Verwalter, Herr Josef!

Kaspar breitet seinen Mantel auf den Rasen aus und legt sich nieder, um das Seil bequemer zu überwachen.



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