Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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»Die drei V«, Velice, Valahora, Vrobek, liegen nahe beieinander an der breiten und gut erhaltenen Landstraße, die sich fast immer auf- und absteigend zwischen Feldern, Obstgärten, Wiesen und Wäldchen meilenlang an den Ausläufern der Beskiden hinzieht. Das stattliche Schloß Velice, weithin sichtbar im Bouquet seiner Gärten, rechts und weiter ab vom Verkehr das düstere Valahora, und kaum eine Viertelstunde davon entfernt das kleine Vrobek. Jetzt nicht mehr größer als ein Bauerngut, aber geziert mit einem köstlichen Wohnhaus im Zopfstiel, einem Kleinod. Allerdings nur noch für den Antiquar; dem Unkundigen gar zu alt und verfallen. Den Besitzern hatten längst die Mittel gefehlt, das hübsche Bauwerk in gutem Stande zu erhalten. Ihr geringes Vermögen war bis auf einen Bruchteil durch das lange Siechtum der alten Leute aufgezehrt worden. Sie hatten, von ihrer Tochter begleitet und 138 gepflegt, ihre letzten Jahre fern von der Heimat, im Süden, zugebracht und rasch nacheinander in einem Städtchen Welschtirols ihr bißchen Leben ausgehaucht.

Verwaist kehrte ihr einziges Kind, die letzte der jüngeren Linie Kosel, nach Vrobek zurück. Seelenallein kam sie von der Bahnstation in dürftigen Trauerkleidern. Sie klopfte an die Tür des Bürgermeisters, der auch Pächter ihres Gütchens und Hüter ihres Hauses war.

»Ich bin wieder da, Bürgermeister, und melde mich.«

Er betrachtete sie eine Weile, sein Blick ruhte auf ihrer feinen Gestalt, ihrem freundlichen, lieblichen Gesicht. »Ja, Sie sind's,« sagte er dann, nahm die Pfeife aus dem Munde und steckte sie noch brennend in die Rocktasche: »Also, wenn Sie's sind, herzlich willkommen! Wollen Sie ins Schloß, gnädiges Fräulein, so hole ich die Schlüssel.«

»Ich bitte, Herr Bürgermeister.«

Er begleitete sie. Der kleine Garten, der das Haus umgab, war eine Wüstenei geworden. Von dem Lattenzaun standen nur noch einzelne 139 Stücke sozusagen aufrecht, der größte Teil hatte sich morsch und müde ins Gras gelegt und war unter ihm und üppig wucherndem Unkraut verschwunden.

Vor der Haustür blieb Luise zögernd stehen: »Wie sieht's da drin aus?« fragte sie – ihre Augen lächelten, aber die ausdrucksvollen Lippen verrieten eine schmerzvolle Spannung, eine tiefe Wehmut.

»Wie halt immer. Viel Fledermäus'. Aber die sind gut gegen das Ungeziefer.«

Er schloß auf und ging voran, um auch den Fensterladen und das Fenster in der kleinen, achteckigen Halle zu öffnen, von der aus die Treppe ins obere Geschoß hinaufführte. Licht und Luft drangen herein, liebe Heimatluft, liebes, heimatliches Sonnenlicht. Es beleuchtete grell alle Risse in den Mauern, alle klaffenden Lücken in den Kapitälen, Kanten, Sockeln, Verzierungen der Pilaster und die Schadhaftigkeit der Treppe und ihres Geländers und die Wellenlinien des Deckengewölbes.

Er war eben aufrichtig wie ein Freund, der 140 geliebte Sonnenschein, brachte die Wahrheit an den Tag, vertuschte nichts.

Der erste Besuch, den Luise am folgenden Tage machte, galt den Verwandten in Velice. Man empfing sie mit offenen Armen, und was das Haus vermochte, wurde ihr von den Tanten zur Verfügung gestellt. Aber – sie war gewohnt, selbst eine Stütze zu sein. Sie nahm Hilfe von andern, auch von den Teuersten, Verehrtesten, nur ungern und zögernd an. Am liebsten half sie doch selbst, hantierte mit Nadel und Schere, mit dem Hammer und der Leimpfanne und auch mit der Maurerkelle, und gar oft ersparte die Axt im Haus den Zimmermann.

Zwei Gehilfen standen ihr bald zur Seite. Eine rüstige, von Charlotte empfohlene Magd und Neffe Josef, der ihr vom ersten Tage an einen Kultus der Begeisterung und Bewunderung widmete. Wie vom Himmel war sie ihm gefallen, diese Tante, deren er sich kaum noch erinnerte, an die er nie gedacht hatte. Und wenn er es getan hätte, ihm wäre doch nicht in den Sinn gekommen, daß eine Tante auch jung und hübsch sein könne. Nun war ihm eine solche beschert 141 worden, und – o guter Gott! – er durfte sich ihr nützlich machen, sich vor ihr in seinem Glanze zeigen und mehr sein in ihren Augen als ein durchgefallener Schuljunge. Er setzte seinen Ehrgeiz darein, ihr verwahrlostes Heim in ein behagliches und trauliches zu verwandeln. Er verstand den Taglöhnern Eifer einzuflößen, gab den Werkleuten Handgriffe an, auf die sie von selbst nicht gekommen wären, war unerschöpflich an guten Einfällen, unermüdlich in ihrer Ausführung.

»Wenn ich dich nicht hätte, was würde ich anfangen?« sagte sie oft, und dann war er glückselig für den ganzen Rest des Tages und darüber hinaus und so lange, bis sie ihm wieder etwas Liebes sagte.

Fast täglich kamen die Tanten und erstaunten über die Tätigkeit, die entfaltet wurde, und beteiligten sich nach Kräften an ihr. Renate nähte Kapuzen aus hübschem Kattun für die gänzlich verschlissenen, seidenen Überzüge der Sitzmöbel, und Charlotte übernahm die Tapeziererarbeit und wurde einmal sogar überrascht, wie sie auf eine Leiter stieg, um einen Fenstervorhang zu befestigen.

142 Auch Kosel fand sich manchmal in Vrobek ein, warf zerstreute Blicke umher, schien nichts zu sehen und sah doch hier und da etwas. Er hielt auch kleine Vorträge über die Nützlichkeit gut gebohnter Fußböden und undurchlässiger Dachdecken. Einmal durfte Elika ihn begleiten, und sie kamen zu dem kleinen Hof am Ende des Gartens, der einst einen Meier, eine Kuh und einige Schafe beherbergt hatte. Auch ein Paar Pferde war damals vorhanden gewesen, die der Meier an Wochentagen in der Wirtschaft verwendete und Sonntags vor die Kalesche spannte. Er selbst schlüpfte dann in einen kurzschößigen, grauen Frack mit Wappenknöpfen, die einst versilbert gewesen waren und nur einiger Ermunterung bedurften, um wie Gold zu glänzen, und kutschierte seine Herrschaft nach Velice in die Kirche. Eine eigene Kirche besaß Vrobek ebensowenig wie Valahora.

Kosels Jugenderinnerungen erwachten beim Anblick des Miniatur-Meierhofs mit seltener Lebhaftigkeit.

»Da sind Pferde gestanden,« sagte er zu seiner Tochter und deutete auf die leeren Stände. 143 »Mit denen sind dein Großonkel und deine Großtante zur Kirche gefahren.« Und nun spann er seine Erzählung in Gedanken weiter. Er war als Kind angewiesen worden, dem alten mürrischen Onkel und der Tante, die ihn immer so ungut ansah, unter dem Kirchentor das Weihwasser zu reichen. Er besann sich, wie es ihn durchfröstelt hatte, wenn die steifen, kalten Finger der beiden Alten die seinen berührten. Als großer Junge noch hatte er eine unüberwindliche Scheu vor den einzigen Menschen gehabt, die ihm nie einen freundlichen Blick gegönnt. Und als Luise zum ersten Male in die Kirche mitgenommen wurde, und ihr hübsches, kluges Kindergesicht glückselig lächelnd hinter dem Elternpaar hervorgeguckt, und sie dem Vetter ein kleines, altes Gebetbüchlein triumphierend entgegen geschwungen – da hatte er förmlich aufgeatmet. Sie war immer nett gewesen.

»Papa,« unterbrach ihn Elika in seinen Betrachtungen, »und was war denn da?« Sie zeigte auf den dritten leeren Platz.

»Da war die Kuh, die Schekovska.«

»Schekovska hat sie geheißen?«

144 »Tante Luise hat sie so genannt.«

»Und warum hat Tante Luise sie so genannt? War sie vielleicht ein Scheck?«

Er lächelte: »Nein, braun war sie.«

»Und warum steht heute keine Schekovska da?«

»Schau hinauf. Es würde ihr ja auf den Kopf regnen.«

»Du mußt das zumachen lassen, Papa,« entschied Elika. »Du mußt das ganz schön machen lassen, und dann mußt du eine Kuh herschicken. Josef sagt, die Tante Luise hat keine einzige Kuh, und wir haben so viele. Wieviele haben wir?«

So gut er konnte, gab er Rechenschaft. Im Gespräch mit ihr war er nicht zerstreut, alles, was sie sprach, gefiel ihm, interessierte ihn. Apollonia hatte recht, zu behaupten, im Geistigen sei ihm Elika »absolut« ähnlich, keiner seiner Söhne gleiche ihm so sehr wie sie.

Kosel dachte darüber nach, wie leid ihm sein würde, wenn er sein kleines, geistiges Ebenbild nicht mehr um sich haben könnte. In der weichen Stimmung, die ihn ergriffen hatte, versprach er seiner Tochter alles, was sie wollte. Ja, der Stall wird neu ausgebaut, und eine Kuh wird 145 hineingestellt, und Elika darf dann der Tante sagen: »Das schenk ich dir.« So wünschte sie's, und so sollte es sein; alles so, wie seine kleine, kluge Tochter es wünschte.

»Ja, wenn es dich freut,« sagte er immer.

O, es freute sie! Erbauerin eines Stalles und Spenderin einer Kuh sein, das ist doch was! Aber sie ließ nicht allzuviel von ihrer Freude zum Durchbruch kommen, sie hatte eine bestimmte Ahnung von der Macht, die sie als arme Kleine besaß.

Luise mußte eine Zeitlang den unteren Teil des Gartens meiden, durfte nichts hören und nichts sehen bis zu der Stunde, in der sie eingeladen wurde, eine wiedererstandene alte Bekannte begrüßen zu gehen.

Ganz Velice hatte sich zur Überraschungsfeier in Vrobek eingefunden. Vor dem restaurierten Höfchen standen Kosel und die beiden Tanten, Apollonia, die unerhört Konservierte, prangte neben ihnen in der Farbe der Rose ohne ihre Vergänglichkeit. Etwas abseits hielt sich – ein Bild stillen Glückes – das Ehepaar Heideschmied. Er, würdig und stolz, sie fein, 146 freundlich und voll Anmut noch im Alter. Wenn er zu ihr niederblickte, schimmerte helle Wonne durch das Grau seines Teints, und er hatte etwas vom verschleierten Mond. Josef war ins Haus gelaufen, um Luise abzuholen, und als sie kamen, legte Leopold eben einen Kranz um die Hörner der neuen Schekovska, die aber diese Zierde lieber in ihrem Magen beherbergt hätte. Franz war auf das Dach geklettert, saß rittlings auf dem Firste und krähte wie ein Hahn.

Elika stand an der offenen Stalltür im weißen Kleide, das Köpfchen zur Seite geneigt, und ihre sanfte Duldermiene schien zu sagen: Wem du diese Freude verdankst, mußt du durch andere erfahren; ich bin bescheiden, ich verrate es nicht.

Sie hatte ihr achtes Jahr erreicht, wuchs in die Höhe und blieb dabei beunruhigend zart und schmächtig. Nicht oft gab es einen Tag, an dem sie ohne Kopfschmerzen blieb, kam aber einmal ein solcher, dann entschädigte er sie für eine lange Zeit der Leiden; eine ungewohnte Erscheinung trat ein – die arme Kleine war seelenvergnügt.

»Ich habe nicht gewußt, wie gut das ist, 147 vergnügt zu sein,« sagte sie zu Josef und brachte es nach und nach dahin, sich durch körperliche Schmerzen die Laune nicht verderben zu lassen.

Den Gedanken, daß sie früh sterben werde, gab sie nicht auf. Er war ihr immer noch lieb. Sie spielte mit ihm, dichtete an ihm herum, stellte sich vor, wie der Abschied von Papa und von den Tanten, von den Brüdern und von den Hausleuten sein werde. Sie wollte an jeden einzelnen rührende Worte richten und sterben bei offenen Fenstern im Schein der aufgehenden Sonne, wie eine Heldin und wie eine Heilige.

Ihr Lerneifer hatte sich abgekühlt, seitdem sie des Lesens und Schreibens kundig war. Unter allen Gegenständen, die ihr Heideschmied in unnachahmlich liebenswürdiger und den Wissensdurst reizender Weise vortrug, liebte sie nur Geschichte, und besonders die alte, die der Sagenzeit am nächsten ist. Ihr Gebiet, das Daheim ihrer Träume, war das Märchen. Ein wonniges Glücksgefühl durchdrang sie, wenn sie vor dem Gartenhause, in dem ihre Puppen verblichen und verstaubten, unter den alten Erlen auf und ab ging wie eine kleine Schildwache, ihr Buch 148 in der Hand, und Märchen las. Mit größtem Entzücken die des alten französischen Märchensammlers Perrault. Sie hatte in wenigen Monaten von Frau Heideschmied französisch sprechen und lesen gelernt.

O Prinzessin Gracieuse, o Prinz Percinet, wie wurdet ihr geliebt! Wie wurdest du gehaßt, elende Fee Grognon! Und du Holde mit den goldenen Haaren, und du blauer Vogel und du gelber Zwerg, welche Gefühle der Lust und Unlust erwecktet ihr! . . . Und du guter dummer Königssohn mit der ellenlangen Nase, die sich in eine wohlproportionierte nicht verwandeln durfte, ehe du sprachst: »Ich seh es ein, meine Nase ist zu lang!« wie wurdest du verspottet! O lachen und weinen, gesegnete Qual seliger oder gruseliger Erwartung, die dadurch nicht im geringsten vermindert wurde, daß die eifrige Leserin ihre Bücher, die unerschöpflichen Quellen all der Wunder, fast auswendig wußte.

Wenn die Brüder von der Lehrstunde kamen – und ihr erster Weg führte sie immer zur Kleinen, ob sie im Garten oder auf ihrem Zimmer war – versank die Märchenwelt. Sie 149 lief den Brüdern in die Stallungen nach, und bald mußte auch für sie ein Pony gezäumt und gesattelt werden. Kosel selbst nahm ihr Pferdchen an den langen Zügel, und sie trabte neben ihrem zerstreuten Papa einher, der ihr oft zulächelte, ihr aber gar keinen Unterricht gab. So wurde sie eine ungeschulte, aber kecke Reiterin und nahm die »arme Kleine« nicht mit auf den Rücken des Pferdes. Die legte sie ab mit ihrem weißen Kleidchen, wenn sie ihre »Amazone« anzog, um wieder hineinzuschlüpfen, sobald sie von ihrem Rößlein gehoben wurde.

Auf dem Turnplatz zeichnete sie sich ebenfalls aus, vor einem ständigen Publikum, das jetzt weniger feindselige Elemente zählte, weil die Kleine mit ihrer um Liebe und Mitleid werbenden Miene öfters vor ihm erschien und Geschenke verteilte.

Seitdem Josef den größten Teil des Tages in Vrobek zubrachte, war überhaupt ein längerer Waffenstillstand eingetreten, und erst gegen Ende der Ferienzeit wurde er unterbrochen.

In den Gärten von Leopold und von Franz waren neu angelegte Blumenbeete zerstampft, 150 Bäume ihrer schönsten Zweige beraubt worden. Zum Überfluß flogen eines Morgens Steine von der Straße herüber, von denen einer die Schulter Elikas streifte. Da sprang Franz über den Zaun, erwischte den Übeltäter und bläute ihn durch.

Auf das hin Klage der Eltern des Gezüchtigten beim Bezirksgericht, Zeugenverhör, wachsende Erbitterung der drei jungen Herren, als die Entscheidung des Gerichts günstig für die Dorfbewohner ausfiel.

Um die Zeit fand ein Ereignis statt, dessen wirklicher Hergang für die Dorfbewohner in Dunkel gehüllt blieb. In ganz Velice hätte nur ein Erwachsener genaue Auskunft darüber geben können: der Herr Schullehrer. Und der schwieg, verriet nicht, daß er Zeuge einer Schlacht gewesen war.

Etwa zwanzig Knaben aus dem Dorfe hatten die drei Brüder gestellt. In einem Hohlweg, der zwischen Bauernfeldern lag.

»O je, die Herren!« rief der rote Vichoda, grinste und riß höhnisch die Mütze vom Kopf.

Baros, der Bürgermeisterssohn, blies sich auf, steckte die Hände in die Taschen:

151 »Woher? Vom Bauernfeld. Was haben Sie auf dem Bauernfeld zu suchen?«

Sogleich ging's zu wie im ersten Auftritt von »Romeo und Julie«.

»Sucht ihr Händel?«

»Wenn ihr Händel sucht, ist's recht.«

»Wir stehen zu Diensten.«

»So, ihr drei?«

»Hierher, Franz, Leopold, hier Schloß!«

»Hier Dorf!«

»Gesindel!«

»Wer – Gesindel?«

»Wer fragt.«

»Oho: Wartet ihr!«

Eine Schar wilder Jungen stürzt sich über die drei. Die sind gewandter als die Gegner, mutiger, ruhiger. Ein halbes Dutzend Feinde haben sie bald unlustig gemacht, den Krieg fortzusetzen. Doch ist die Überzahl zu groß, sie müssen weichen, und der älteste und kühnste von ihnen kommt nicht dazu, seine ganze Kraft zu entfalten, weil er beim Angriff immer zugleich für die Verteidigung seiner Brüder sorgt.

Der Kampf war schon heiß entbrannt, als 152 der Schullehrer, von einem Spaziergange heimkehrend, in die Nähe des Schlachtfeldes kam. Ein Strauch wilder Rosen an der Biegung des Weges verbarg ihn, und behaglich konnte er zusehen, wie die jungen Herren geklopft wurden.

Am härtesten bedrängt war Franz und auch am erregtesten von allen. Josef verfolgte ihn mit den Augen und rief ihm einmal ums andere zu:

»Ärgere dich nicht, wehr dich!«

Leopold bewahrte seinen guten Humor. Seine Spottreden prasselten und flogen, mancher Schlag, der ihn treffen sollte, ging fehl, weil der Angreifer beim Ausholen hatte lachen müssen. Aber die Schläge, die er austeilte, trafen alle und saßen fest. Jetzt unterliefen ihn ein paar Buben, er verlor das Gleichgewicht und war schon im Stürzen, als Josef zu Hilfe kam und ihn aufrecht erhielt. Im nächsten Augenblick waren ihrer zehn über den beiden, und die verdienten sich heute wieder ihren Spitznamen: die Löwen. So schön und großartig war ihre Kampfweise, daß einige, die mitgetan hatten, austraten, um zuzusehen. Sogar einen 153 Bundesgenossen bekamen sie. Hanusch, der Sohn des Zimmermanns, ein Knopf von einem Burschen, stämmig wie ein Amboß, mit Fäusten wie Holzschlägel, rief auf einmal: »Hie Schloß!« und parierte einen Hieb, der nach Josef geführt wurde.

Nun gellte ein Schrei der Wut aus dem Getümmel, aus dem eben noch der Kopf des Bruders Franz geragt hatte. Eine Schar kleiner Jungen warf sich über einen, der am Boden lag.

Josef brüllte: »Franz! Franz! sie haben ihn niedergerissen!«

Mit der Bewegung eines kräftigen Schwimmers keilt er die Arme in das Rudel der Feinde, schiebt sie aneinander und schleudert sie hinter sich, daß sie reihenweise hinpurzeln, Leopold und der Hanusch vom Zimmermann decken ihm den Rücken. Ein paar Schritte und er ist bei Franz, ein paar Fußtritte und die kleinen Bedränger kugeln nach rechts und nach links. Den letzten hebt er beim Hosengurt in die Höhe, und der zappelt wie eine aufgespießte Kreuzspinne.

Der Schullehrer eilt aus seinem Versteck 154 herbei und zetert: »Mein Wenzi! Lassen Sie ihn! Ruhe! Ruhe!«

Josef wendet sich, spricht kein Wort, wirft mit einer verächtlichen Gebärde dem Lehrer seinen Sprößling in die Arme und blickt zu Franz nieder.

Leopold kniet schon bei ihm und will ihn aufrichten. »Laß, laß, ich kann schon allein,« sagt er, sieht mit unheimlich glasigen Augen um sich und sinkt zurück.

»Wenn er tot ist, müßt ihr alle sterben!« donnert Josef die Bauernkinder an; einige bleiben trotzig stehen, die meisten wenden sich eingeschüchtert ab, der Schullehrer tritt hinzu, seinen Wenzi führend, erschrickt und ruft:

»Franz! Jesus Maria, was ist mit ihm?«

Leopold hat die Hand auf das Herz seines Bruders gelegt – es schlägt – nach kurzem Stillstand schlägt es wieder, hastig, unregelmäßig . . . aber es schlägt doch wieder. »Was habt ihr ihm getan?« fragt Leopold, der immer Ruhigere, seine Angst verbeißend.

»Wir haben ihm nichts getan!« antwortet einer, und der rote Vichoda setzt boshaft hinzu:

155 »Er hat sich nur geärgert . . . ärgert sich immer.«

»Ja, ja, nur geärgert,« klingt's im Chor.

Und jetzt, ganz energisch setzt Franz sich auf, wischt mit der Rechten übers Gesicht, sie blutet. »Nichts haben sie mir getan,« sagt er laut.

»Franz! Herr Franz!« wimmert eine Kinderstimme. Wenzi macht sich vom Vater los und läuft auf Franz zu und küßt ihm die blutende Hand, und stellt sich hin und heult und plärrt wie nur ein slavisches Kind heulen und plärren kann. Bäche fließen aus seinen Augen in seinen Mund, über sein Gesicht, das auf einmal voll Falten ist und ordentlich alt aussieht. »Lieber Herr Franz, ich hab Ihnen nichts getan, ich hab Sie nur gebissen, ein wenig, ein wenig gebissen!«

Am nächsten Tage ging im Dorfe viel junges Volk hinkend und mit verbundenen Köpfen umher, und Heideschmied staunte über die blauen Flecke, mit denen seine Zöglinge bedeckt waren. Da ihnen aber nichts fehlte und sie seine Fragen über den Ursprung dieser vorübergehenden 156 Tätowierung ausweichend beantworteten, versuchte er nicht, sich in ihr Vertrauen zu drängen.

Zu einer Schlacht kam es seitdem zwischen der kriegerischen Dorf- und Schloßjugend nicht mehr. Wie immer ihre Beziehungen zueinander sich auch gestalteten, die Tätlichkeiten hatten ihr Ende gefunden.

*


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