Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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244 Herr Kosel war noch da. Er machte manchmal nur deshalb unmäßig lange Besuche, weil er vergaß, fortzugehen. Nun wurde er durch seine Tochter erinnert, daß es Zeit sei, aufzubrechen.

»Willst du mir erlauben, noch ein bißchen bei dir zu bleiben?« fragte sie. »Ich führe die Meta, ich tue das so gern, und wir sprechen zusammen, du und ich. Luise muß in die Wirtschaft und ist froh, wenn sie Ruhe hat.«

Sie holten Meta aus der Meierei ab, wo sie eingestellt worden war. Kosel warf ihr den Zaum über den Kopf, und Elika führte das schöne Tier, das hinter ihr herging wie ein gehorsamer Hund. Sie wandte sich oft um, küßte es auf die Nüstern und versicherte es ihrer Liebe. Dazwischen sagte sie auf einmal langsam und bedächtig:

»Der Herr Pfarrer wird also nicht zu Herrn Bornholm gehen?«

»Es ist schwer – es ist wohl schwer – weil doch . . .«

»Denke nur, Papa,« unterbrach sie ihn, mit einem leichten, entschuldigenden Neigen des Kopfes, 245 »was Bartolomäus mir gesagt hat, wie er mich nach Hause getragen hat: Herr Bornholm bleibt den ganzen Winter in Valahora.«

»Ach geh! den ganzen Winter; was wird er denn den ganzen Winter in Valahora bleiben!«

»Er will Sammlungen ordnen für Museen« – sie lachte: »Bartolomäus sagt, ›Musen‹ in Schweden oder in Norwegen, oder wo. Es sind schon viele Kisten gekommen, und Josef schickt noch viele nach mit Waffen und Pflanzen, Mineralien und Gerätschaften . . .«

»Mineralien und Gerätschaften.« Kosel blieb stehen, dachte nach und richtete seine Augen fragend auf die Kleine:

»Wie sie wohl verpackt sein werden, die Mineralien und Gerätschaften? Gut verpackt werden sie wohl sein?«

»In Zeitungen,« erwiderte Elika, die Gedanken ihres Vaters erratend – o nur zu recht hatte Apollonia, sie eine Hellseherin zu nennen! – »Ganz gewiß erscheinen in Australien eine Masse Zeitungen.«

»Eine Masse. Soviel ich weiß, in Sidney allein fünf große Blätter. Was der ›Sidney 246 Morning Herald‹ für eine Zeitung ist! und ›Echo‹, ›Daily‹ . . . und die Wochenschriften und die Monatsrevuen. Einzelne Nummern sind da, Josef schickt ja einiges, aber der Zusammenhang fehlt, und alle Zeitungen kann man nicht halten. Denk nur, die Masse!«

»Herr Bornholm ist gewiß auf einige abonniert, glaubst du nicht, Papa? . . . Aber pfui, Meta!« Sie sah sich um und gab dem Pferde einen Klaps auf das Maul. »Was tust du, dumme Alte? Schau nur, Papa, sie knuspert an meinem Hut herum, die dumme, liebe, alte Gans!«

»Die alte Gans,« wiederholte Kosel mechanisch, und dabei ging sein Geist seine eigenen Wege oder stand vielmehr still und wurzelte sich fest ein. »Er muß wohl Zeitungen halten. Es ist nicht anders möglich. Ein Wollhändler! ›Daily Shipping Gazette‹ muß er halten.«

»Schau nur! . . . Wenn wir im Verkehr mit ihm wären, könnten wir uns bei ihm alle Zeitungen ausleihen, die er hält. Willst du nicht in Verkehr mit ihm treten, Papa? Gib Ruh, Meta – gib Ruh, Alte! . . . Nachbarn sind wir 247 einmal. Der Herr Pfarrer geht nicht zu ihm. Schau Papa. ich glaube, du solltest zu ihm gehen.«

– »Ja,« versetzte Kosel, und seine Augen hatten ein so schönes Blau und eine so liebliche Freundlichkeit wie der wolkenlose Himmel, »es ist nicht anders möglich, ›Daily Shipping Gazette‹ wird er halten müssen.«

Elika ließ sich durch diese Zwischenrede keinen Augenblick irre machen.

»Geh zu ihm, Papa, mache mir die Freude! Ich sage dir auch, warum es mir eine Freude machen würde. Ich habe mit Bartolomäus gesprochen, gestern, du weißt, und ihm gesagt: ›Ihr habt einen bösen Herrn.‹ – ›Is bös,‹ hat er geantwortet, ›hat niemand ihn gern.‹ – ›Habt auch Ihr ihn nicht gern, Bartolomäus?‹ – ›Ich nicht, is bös.‹ Ich frag ihn weiter, recht aufs Gewissen: ›Was tat er Ihnen denn Böses?‹ ›Kommandierte,‹ kommt heraus. Er kommandiert! ja, das verträgt der alte Bartolomäus nicht. Er will allein Herr sein in Valahora. Denk nur, Papa, ist das nicht traurig, in seinem eigenen Hause als Eindringling betrachtet zu werden? Einen einzigen alten Diener haben und von ihm 248 angefeindet zu werden? Denke nur, wie viele Menschen haben uns lieb und ihn niemand. Wie arm ist man, wenn einen niemand lieb hat. Nicht einmal seine Hunde mögen ihn, die hat Bartolomäus, glaube ich, schon darauf dressiert. Man erkennt das gleich, daß sie nur Furcht vor ihm haben. Vor dem Einschlafen ist mir das alles eingefallen . . . und auch einmal in der Nacht, wie ich aufgewacht bin . . . und weißt du, was ich getan habe? Geweint habe ich. Ein Mensch, den niemand mag – das ist zu traurig, man kann gar nicht begreifen, wie traurig das ist. Und ich habe mir vorgenommen, über einen so Armen ärgerst du dich nie mehr, und du tust ihm etwas Gutes, du schickst den Herrn Pfarrer oder den Papa zu ihm.« Sie lehnte den Kopf schmeichelnd an seinen Arm. »Papa, wirst du zu ihm gehen?«

»Ich?« sprach Kosel wie erwachend, »zu wem?«

»Zu Herrn Bornholm.«

»Zu Herrn Bornholm, ja so.«

»Der die australischen Zeitungen hat, und der« – ihre Augen leuchteten, ihre Stimme 249 zitterte leise – »und der Freund unseres Josef ist.«

Sie hatte halb und halb das Bewußtsein gehabt, daß sie ein Selbstgespräch führe, und doch nicht zu reden aufgehört. Die feste Zuversicht beseelte sie, daß eines oder das andere ihrer Worte den Nebel der Zerstreutheit durchbrechen werde, in dem ihr Vater zu wandeln pflegte.

Nun waren sie am Fuß der Anhöhe angelangt, von der aus man noch hinab nach Vrobek und schon hinauf nach Valahora sehen konnte.

»Unseres Josef,« wiederholte Kosel, »ja, ja – unseres Josef,« und hatte nun auf einmal ein merkwürdig wehmütiges Lächeln und etwas in seinem Blick, das sein kleines Mädchen umschmeichelte wie eine Liebkosung: »Kränke dich nicht, das ist nicht gut für dich.« Er brachte die Zügel des Pferdes in Ordnung und stieg in den Sattel. »Ja, aber die Tante – wo die ist –«

»Euch nachgegangen ist sie,« antwortete Luise selbst, »und hat euch eingeholt. Es war nicht schwer, ihr seid alle fingerlang stehen geblieben.«

Man nahm Abschied. Kosel ritt in kurzem 250 Galopp die Anhöhe hinauf und bog dann links in den Wald ein. Die beiden Fräulein hatten ihm nachgesehen.

»Wohin denn?« fragte Luise.

»Nach Valahora.«

»Das hast du durchgesetzt, Kleine? Was soll dabei herauskommen?«

»Was Gutes.« Sie schlang den Arm um die Taille der Tante, und sie schritten auf dem Feldweg längs der Kastanienallee dem Sonnenuntergang entgegen. Blendend und strahlensprühend versank das Tagesgestirn hinter der fast geraden Linie, die von den fernen Karpathen am Horizont gebildet wurde. Elika hatte einen Augenblick hingesehen. »So sterben!« rief sie.

»Das hat sich schon Karl Moor gewünscht. Mir wäre lieb, wenn mein Liebling lieber nicht vom Sterben spräche,« versetzte Luise und legte auf die Silbe »lieb« jedesmal besonderen Nachdruck.

»Ist's nicht besser, als wenn ich euch eine Überraschung mache mit meinem Tode? So seid ihr wenigstens vorbereitet.« Elika sagte das scherzend, es war aber sehr ernst gemeint. »Es 251 ist schön, früh zu sterben, und am schönsten, wenn noch so früh, doch schon nach einer gelösten Aufgabe.«

»Das gewiß. Aber höre mich an, laß uns jetzt vernünftig sein und pedantisch zum Entsetzen. Pro primo: Warum glaubst du denn, daß du früh sterben wirst?«

Elika wurde durch diese Frage in große Verwunderung versetzt. »Alle glauben's doch,« erwiderte sie gedehnt, »und ich – ich, weißt du, ich weiß es.«

»So? Wieso weißt du's?«

»O – ich bekomme manchmal solche Stiche im Kopf, und Herzklopfen habe ich auch, und ohnmächtig bin ich schon zweimal geworden. Und Frau Heideschmied hat gewimmert: ›Elle se meurt!‹«

»Mit ›pro primo‹ wären wir im reinen. Jetzt kommt pro secundo. Was ist das für eine Aufgabe, die du vor deinem Tode noch lösen willst? Antworte, sei nicht beleidigt!«

»Du lachst mich aus.«

»Kind, geliebtes, wie fern liegt mir das! Und du wärst stumpfsinnig, wenn du's nicht 252 wüßtest. Also. Heraus mit der Sprache! Die Aufgabe –«

»Die Aufgabe ist,« sagte Elika und schmiegte sich in warm aufwallender Zärtlichkeit an Luise, »einen bösen Menschen zu einem guten machen.«

»Aha – den dort oben. Ich staune, daß du an den Halbwilden noch denkst.«

»Weil er jetzt fort ist von dem einzigen, der ihn mag. Weil ich noch nie einen Menschen gesehen habe, den niemand mag. Wenn man etwas ganz Neues sieht, bildet man sich allerlei ein. Das tut doch jeder.«

»Glaubst du? Ich weiß es nicht aus Erfahrung.«

Elika zuckte ihre magern Achseln: »Bei mir ist es so. Und von Herrn Bornholm bilde ich mir jetzt ein: Der geht in einer Verkleidung. Nicht zufleiß, er kann vielleicht nichts dafür, er ist vielleicht ein Verwunschener, wie die in den Märchen, die ich als Kind so gern gelesen habe. In einem Ungeheuer, einem Bären, einem Delphin steckt ein schöner, lieber Prinz . . . Am Ende steckt in der groben Hülle des Herrn Bornholm ein feiner, netter Mensch.«

253 »So löse ihn aus, aus der Hülle, versuch's! Sei die Fee mit dem Zauberstabe, die ihm seine wahre Gestalt wiedergibt!«

»Ich kann das nicht. Das könntest eher du. Ja, ja, an dir liegt ihm sehr viel, ich hab's bemerkt – lache, wenn's dich freut – ich hab's bemerkt,« wiederholte sie eindringlich und setzte nach kurzer Überlegung plötzlich, in rauhem Tone hinzu: »Und deinen Schirm hat er auch gebracht.«

»Was dir einfällt! Bornholm?«

»Bornholm.«

»Höchst unwahrscheinlich. Er hätte den Schirm gestern so leicht fangen können und hat, auffällig, mit Absicht unartig, nicht einmal die Hand nach ihm ausgestreckt. Dafür« – sie machte eine komisch altkluge Miene: »scheint sein Gewissen ihm einen Biß versetzt zu haben, denn – heute hat er den Schirm zurückgebracht.«

»Hellseherei,« erwiderte Luise.

»Keine Hell, eine ganz ordinäre Seherei.« Elika nahm wieder Luisens Arm und sprach zutraulich: »Ich war früher auf als du, ich bin zum Fenster gegangen und habe durch die 254 Jalousien nach dem Wetter ausgeguckt. Da habe ich ihn gesehen. Er hat am Gitter gerüttelt, und wie er merkt, daß zugesperrt ist, steigt er drüber, kommt her, lehnt den Schirm an die Mauer und geht wieder. Glaubst du's jetzt?«

»Ja – wenn du es sagst, will ich auch das Unglaubliche glauben.«

*


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