Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Heller, lieblicher Herbstmorgen, köstliches Geschenk des alternden Jahres. Nach all dem Blüten- und Früchtesegen, den es verschwenderisch gespendet hat, noch so leuchtender Sonnenglanz, so erquickende Wärme, so mild wehende Luft! Jeder Blick über die lichtverklärte Erde wird Wonne, jeder Atemzug wird Dank. Luise empfand ihn, sein herrliches Gefühl durchdrang und erweiterte ihr Herz. Selig, wer es hat! selig, wer seinen himmlischen Reichtum auszuströmen vermag im vollen Maß – ohne Maß.

Luise preßte ihre Hände, die sich unwillkürlich gefaltet hatten, zusammen: Für alles Dank! auch für die Fähigkeit, zu danken.

Sie war unter dem Haustor stehen geblieben und überblickte ihr Vorgärtchen: ein Rasenplatz 233 mit einer Gruppe Monatsrosen, von einem Resedenkranz umgeben, und, vor dem neu aufgerichteten, grün angestrichenen Zaun junges Flieder- und Jasmingebüsch, das hoffentlich schon im nächsten Jahre blühen wird. Das Vorgärtchen machte den ganzen Luxus aus, den sie sich gestatten durfte; hinter dem Hause pflegte sie einige Gemüsebeete, da machte der Nutzen sich so breit, als der Raum es irgend zuließ; einige Obstbäume, der Schuppen mit dem Holzvorrat, eine kleine Bleiche füllten ihn aus. Am »End der Ende« kam dann die zierliche Meierei, der eine Magd vorstand. Ein ältliches Wesen, an äußeren Vorzügen arm, an guten Charaktereigenschaften groß und im Besitz des wohlverdienten Vertrauens ihrer Gebieterin.

Als Luise über die Schwelle trat, wurde sie angenehm überrascht. Da stand an die Wand gelehnt ein Flüchtling – ihr windverwehter Sonnenschirm, und trug alle Spuren einer im Freien auf feuchtem Grunde zugebrachten Nacht. So ganz echt konnte seine braunrote Färbung wohl nie gewesen sein und erschien jetzt marmorartig gesprenkelt und gefleckt. Ja, das kommt 234 davon, wenn einer eine Lustreise unternimmt, der nicht fliegen kann. Seine Eigentümerin betrachtete ihn, drehte ihn hin und her: in mangelhaftem Zustand ist er mir heimgekehrt, aber besser doch als gar nicht. Und der ihn gebracht hat, der redliche Finder, muß wie ein Einbrecher über den Zaun gestiegen sein, denn das Gitterpförtchen ist noch verschlossen.

Wer mag das gewesen sein? Ein Heger, oder einer der Jünglinge aus Velice, der vor Tau und Tage einen Spaziergang unternommen hat?

Sie nahm sich nicht Zeit, lange darüber nachzudenken, sie spannte den Wiedergeschenkten auf, mehr zu seinem als zu ihrem Nutzen, und ging ihre Wirtschaft bestellen. Wenn auch nur klein, gab sie doch zu tun; ein paar Stunden vergingen, ehe Luise zurückkehrte. Sie meinte ihren Gast noch schlafend zu finden. Indessen wurde sie in der Nähe des Hauses von den zirpigen Tönen des greisen Spinetts begrüßt. Es stand im Salon neben der Tür, die auf einen schmalen Altan mit bauchigem Gitter führte und geöffnet war. Elika musizierte. Sie spielte in 235 allerfreiester Manier – eine offenbar eigene Komposition. Einem ohrenbeleidigenden Allegro folgte ein wunderliches Andante, dem eine Coda angehängt war, die kein Ende finden konnte. Höchst lächerlich und doch wieder rührend, dies ausdauernde Suchen und nicht Finden. Endlich beschied sie sich, die Kompositeurin gab das vergebliche Bemühen, ihr Gefühl musikalisch zum Ausdruck zu bringen, auf, und die Sängerin machte sich ans Werk. Ihre junge, noch etwas schrille Stimme erhob sich und schmetterte laut, jubelvoll und begeistert in die Lüfte hinaus:

»Willkommen, du neuer, du sonniger Tag,
Du reiner, du heller, pulsierender Schlag
Vom klopfenden Herzen der Zeit!«

Es war aus, fing aber gleich wieder von neuem an. Unermüdlich, mit immer höherem Schwung trug Elika ihr Jubellied vor. Sie ließ sich durch Luisens Eintreten nicht stören, saß da, wie sie aus dem Bette gestiegen war, in einem langen Nachthemde, das ihr bis an die Knöchel reichte, und trat das Pedal mit nackten Füßchen.

»Hör nur zu,« sagte sie, »das ist mir 236 eingefallen gleich beim Erwachen, wie ich gesehen habe, daß es so schön ist.«

»Das Wetter?«

»Freilich. Gefällt dir mein Lied? . . . Ja? Nein? Sag's aufrichtig.«

»Soll ich wirklich? Nun, ich weiß nicht recht; es kommt mir ein bißchen wie ein Unsinn vor. Aber jetzt an deine Toilette, Kind!«

Am Nachmittag kam ganz Velice herüber. Die Tanten mit Frau Heideschmied und Apollonia zu Wagen, Kosel und seine Söhne zu Pferde, Herr Pfarrer und Herr Heideschmied zu Fuße. Man versammelte sich im Salon, dem sogenannten »gemütlichen Prunkgemach«. Für die Gemütlichkeit sorgten die traulichen Kattunschlafröcke der Möbel, den Prunk vertraten die Wände. Als man von ihnen die zerfetzten Tapeten herabgerissen hatte, waren schadhafte, aber schöne Panneaux zum Vorschein gelangt, die sorgfältig aus den Rahmen gelöst, geputzt, geflickt und gestopft wurden. Eine herrliche Winterarbeit, an der die Damen aus Velice und ihre Gefolgschaft sich eifrig beteiligten. Nun erfreute der alte Wandschmuck sich wieder des Tageslichtes. 237 Bescheiden und würdig grüßte er herunter in seinen diskreten Farben, seiner richtigen, braven Zeichnung. Goldene Karossen fuhren, kühne Reiter sprengten vorbei, blauseidene Herren verbeugten sich zierlich vor rosaseidenen Damen unter einem grünlich schimmernden seidenen Himmel. Und die Wölbungen und die Decke zeigten, nachdem sie gehörig gefegt worden und jede Spur der häuslichen Niederlassung auch der letzten Fledermausfamilie weggetilgt war, noch Überreste von Freskomalereien. Was sie vorstellten, war aber nicht mehr zu erkennen. – Und das ist gut, dachte Renate, denn es war gewiß etwas Mythologisches.

Liebe alte Renate! Da saß sie jetzt in ihrer Sofaecke, hörte der Schilderung zu, die Luise und Elika von ihrem gestrigen Abenteuer im Walde machten, hatte den großen Arbeitssack vor sich auf dem Tische liegen und hatte ihn noch nicht einmal aufgemacht.

Die Jahre verflogen immer rascher, wie ihr schien, und jedes der leise hineilenden legte ihr auf den Rücken eine Last, unter der ihre einst hohe und tannengerade Gestalt sich immer etwas 238 tiefer, immer etwas schiefer neigte. Unaussprechlich sorgenvoll konnte sie manchmal aussehen, so tief bekümmert, daß die Optimistin Charlotte unruhig wurde und wie in diesem Augenblick ihre Hand auf die der Schwester legte und in aufmunterndem Tone fragte:

»Nun, was ist denn?«

»Nichts zum Glück! die Tante macht sich nachträglich noch unnötige Sorgen,« sagte Leopold. »Aber wie war Ihr denn, als der Blitz so nahe von Ihr eingeschlagen hat?« wandte er sich an Elika. Wenn er sie besonders lieb hatte, sprach er immer zu ihr in der dritten Person. Er rückte seinen Sessel an den ihren heran und umschlang zärtlich dessen Lehne. Franz hatte auf einem Schemel zu ihren Füßen Platz genommen – die Sitzgelegenheiten des Prunkgemachs reichten für die zahlreiche Gesellschaft nicht aus – und sah mit brummiger Liebe zu der Kleinen hinauf:

»Was hat sie auch auszugehen beim Gewitter! Herr Bornholm hat recht, daß er gefragt hat.«

Jetzt war der Name des Mannes 239 ausgesprochen, der schon die ganze Zeit hindurch die Gedanken Tante Renatens peinlich beschäftigte. Bornholm, Bornholm! – War der Verkehr mit ihm nun angebahnt zum Unheil für die beiden Jünglinge, die einem schlechten Einfluß vielleicht zugänglicher waren als ihr Bruder Josef? Sie hatte zur Strickerei gegriffen, förderte mit bedächtigem Eifer die Vollendung eines ausgezeichneten »Seelenwärmers« und seufzte einmal ums andere tief auf, denn es war nur noch die Rede von Bornholm.

»Ich muß ihn sehen! ich gehe zu ihm!« rief Leopold, und Franz erklärte: »Ich gehe mit!«

»Aber junge Herren!« »Was fällt euch – was fällt Ihnen ein?« »Aber Kinder, Kinder!« wurde ihnen fast zugleich von dem Herrn Pfarrer, von Kosel, von Heideschmied und von den alten Tanten erwidert. Die junge Tante aber sprach:

»Denkt nicht daran; ihr würdet miserabel empfangen, und von Josef erfahrt ihr durch Herrn Bornholm nichts. Wenn ihr gesehen hättet, wie er gegen Elika war! . . . Noch nie ist jemand so widerwärtig gegen sie gewesen.«

Die Röte der Entrüstung stieg Franz in die 240 Wangen: »O je, dieser, dieser . . . wirklich? und wie denn?«

»Als ob es lächerlich und vorwitzig wäre, daß sie nach ihrem Bruder fragt: ›Wissen Sie das nicht?‹ ›Das wissen Sie ohnehin.‹ ›Schreibt er Ihnen denn nicht?‹ – das waren seine Antworten. Die Kleine ist aber auch böse geworden. Nach dem Gewitter am Himmel gab's eines in einem Fingerhut.«

Sie erzählte von dem Zorn Elikas, und die Damen schüttelten die Köpfe, Apollonia schlug die Hände zusammen:

»Nein, das Kind!« murmelte sie in zärtlicher Bewunderung.

Der Herr Pfarrer jedoch erhob drohend den Finger: »Ei, ei, Fräulein Elika, wo ist da die Geduld geblieben, die weibliche Sanftmut?«

Die Kleine hatte bis jetzt geschwiegen, ein lammfrommes Gesicht gemacht und nachdenklich vor sich hingesehen. Langsam erhob sie nun ihren Blick zu dem geistlichen Herrn und bat inständig: »O, Herr Pfarrer erbarmen Sie sich seiner, gehen Sie zu ihm!«

241 »Was?« »Wer?« »Wohin?« erscholl's im Kreise.

»Ich? Was soll ich bei ihm?« fragte der Priester, und Leopold sprach:

»Er ist ja ein Atheist.«

Renate ließ ein warnendes »Pst!« vernehmen, von einem Augenwink begleitet, den leider Elika bemerkte. Ein sogleich unterdrücktes Lächeln glitt über ihre Lippen.

»Auf alle Fälle ist Bornholm ein Protestant,« sagte Kosel.

»Das macht nichts, Papa, trotzdem könnte der Herr Pfarrer ihm doch zureden, ein besserer Mensch zu werden und gut gegen die Verwandten von seinem Freund; denn Josef ist sein Freund.«

Alle sahen einander erstaunt an. Leopold hatte einen seiner gewohnten Heiterkeitsanfälle:

»Ich sag's ja, unsere arme Kleine, ein Engel, ein purer Geist! . . . Und daß der Bornholm so grob mit Ihr war, ärgert Sie gar nicht?«

»O ja! es hat mich ja geärgert, ich bin ja zornig gewesen.«

»Sie zornig? Da hätte ich dabei sein mögen. Sie ist so komisch, wenn Sie zornig ist.«

242 »Und so herzig!« fiel Apollonia ein. »Weil es dem Engel nie ernst ist mit seinem Zorn.« O, sie kannte den Engel, durch und durch kannte sie ihn.

Elika lehnte das Lob, das ihr gespendet wurde, ziemlich ungeduldig ab. »Wer weiß, wer weiß, ob du mich kennst,« meinte sie, und behelligte den Herrn Pfarrer von neuem mit ihrer Bitte, diesem Bornholm geistlichen Zuspruch zu gewähren, und von neuem bemerkte Kosel, daß Bornholm »auf jeden Fall« ein Protestant sei. Auch die übrigen sagten etwas, sogar die vorsichtige Frau Heideschmied wagte ein »petit mot«. Jeder und jede wiederholte sich mit Ausdauer, und die Konversation wurde ein gesprochenes Ringelspiel.

Franz brachte zuerst Abwechslung in die Sache, indem er laut ausrief: »Und ich gehe hin und nehme den Monsieur Bornholm bei den Ohren, damit er lernt artig sein.«

»Richtig!« seufzte Renate, »da haben wir schon südaustralische Sitten!«

»Monsieur Bornholm! Wenn er einen Herrn nicht mag, nennt er ihn Monsieur,« sagte Elika 243 vorwurfsvoll und sah schwer bekümmert aus. Franz war unzufrieden mit ihr und mit sich und dem feinfühligen Heideschmied dankbar, als der zu ihm trat, ihm auf die Schulter tippte und, zum Haken gekrümmt, leise sprach:

»Kommt mir nicht vor, lieber Franz, daß Sie beabsichtigten, sich heute noch mit Mathematik zu beschäftigen?«

»Es wird Ihnen schon so vorgekommen sein und mir auch,« erwiderte der Jüngling und sprang auf. »Also adieu!«

Leopold, der ihn begleiten wollte, empfahl sich ebenfalls. Die Gesellschaft ging, wie sie gekommen war, partienweise. Das Behagen war längst entwichen. Etwas peinlich Bedrückendes, das alle empfanden, lag in der Luft. Erst im Wagen wurde der Tante Charlotte wieder wohl.

»Welche Atmosphäre dort oben!« sagte sie. »Ganz voll von Stoff zu drohenden Streitigkeiten. Kommt über den fünften Weltteil aus Valahora dahergeweht. Wirklich unangenehm!«

*


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