Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Elika kam nach Velice zurück, und Frau Heideschmied und Apollonia ließen es sich nicht nehmen, das Ereignis durch die Errichtung eines Triumphbogens vor dem Schloßtore zu feiern. Sie nahm die Huldigung sehr gnädig und sogar gerührt entgegen, war liebenswürdig und sehr sanft und ein bißchen verträumt. Charlotte fand, das Kind habe seit der Heimkehr »etwas Eigenes«. Eine Veränderung war ganz entschieden während der letzten vierzehn Tage mit ihr vorgegangen. 283 Jeder fand es, und jeder wollte an ihr etwas ungewohntes entdecken.

»Gewachsen ist sie,« meinte Franz, »das ist das Ganze.«

Aber Elika lachte: »In vierzehn Tagen so gewachsen, daß man's merkt? Du bist nicht gescheit!«

»Gut also, so bin ich nicht gescheit: dann aber war Hanusch es auch nicht. Der hat gleich gesagt: ›Wie groß sie geworden ist und –,‹« jetzt brach er in Lachen ans, »›wie schön!‹ Ein guter Kerl, der Hanusch.«

»Ja freilich, weil er mit dir auf die Jagd geht und dir die Hasen trägt.«

»Freilich, immer sagst du: freilich. Freilich geht Hanusch mit mir auf die Jagd, er geht aber auch durchs Feuer für mich.« Er sprudelte das zornig heraus und wurde purpurrot. Das war jetzt so und völlig unheimlich, daß er über die kleinste Kleinigkeit, über den geringsten Widerspruch förmlich in Wut geraten konnte.

»Und das schadet ihm,« hatte Apollonia seiner Schwester anvertraut.

284 Die war in Schrecken versetzt: »Es fehlt ihm doch nichts?«

»Nichts, mein Herzerl . . . daß du gleich so erschrickst! nichts fehlt ihm . . . Nur – weißt, wenn einer so im Wachsen ist und das viele Studieren – die Plag.«

Jawohl, das Studieren strengte ihn an, war eine große Plage für ihn, und nur aus Pflichtgefühl unterzog er sich ihr. Elika besann sich eines Wortes, das Heideschmied einmal zu Tante Charlotte gesprochen hatte, die ihren Großneffen einige Professorensöhne zum nachahmenswürdigen Beispiel angeführt hatte.

»Kaum zu verlangen, kaum zu vergleichen, meine Gnädigste; jene jungen Leute haben von Vater und vielleicht schon von Groß- und Urgroßvater her trainierte Gehirne.«

Es kamen stille Wochen. Der Verkehr mit den entfernteren Nachbarn hatte seit dem Tode Frau von Kosels völlig aufgehört. Nur während der Treibjagden im November füllte Schloß Velice sich drei Tage lang mit Gästen. Vorläufig war Luise die einzige, die sich Nachmittag für Nachmittag einfand, die man immer freudig 285 begrüßte, immer ungern scheiden ließ, die immer wohltuend und erheiternd wirkte. Es war ein Ereignis, als sie einmal ausblieb. Bis sieben Uhr warteten die Tanten in Aufregung und Sorge; dann ritt Leopold nach Vrobek, um zu fragen, was denn geschehen, ob denn Luise unterwegs verunglückt sei. Nun – gottlob, nein; sie war schon deshalb unterwegs nicht verunglückt, weil sie gar nicht ausgegangen war. Ein Besuch hatte sie aufgehalten. Bornholm war bei ihr gewesen.

Die Nachricht setzte Herrn von Kosel in großes Staunen. »Bornholm ist bei ihr gewesen? . . . Höre, Tante Renate, höre einmal, Tante Charlotte – Bornholm!« wiederholte er eindringlich nach einer langen Zwischenpause.

Im Sybillenturm wurde Luise am nächsten Tage womöglich noch liebevoller als sonst empfangen, und dennoch machte etwas Störendes, eine gewisse Zurückhaltung sich bemerkbar. Mit großer Selbstüberwindung fragte Renate, nachdem man von allerlei gleichgültigen Dingen gesprochen hatte, endlich:

»Sage mir, Kind, findest du es ganz passend, 286 daß Bornholm dir einen Besuch gemacht hat? Denke nur, Tante Charlotte und ich können es nicht ganz passend finden.«

Luise hatte sich schon die Zeit über auf diese Bemerkung vorbereitet, sich auch die Antwort ausgedacht, die sie darauf geben wollten und war nun doch befangen und ratlos und sagte mit forcierter Heiterkeit: »Ein erster und letzter Besuch und gar nicht gern abgestattet. Herr Bornholm hat sich vielleicht verpflichtet gefunden, mir den meinen zu erwidern.«

»Erwidern? einen unabsichtlichen Besuch? . . . Nun ja, du spaßest. O Kind! du bist ja deine eigene Herrin, aber ich meine nur, du stehst so allein, und er ist doch ein junger Mann und hat nicht den besten Ruf, und du bist ein junges Mädchen . . .«

Luise küßte ihr aufs Innigste die Hand: »Bin ich? Du schmeichelst mir, gute, gute Tante . . . Wenn du wüßtest, wie ich mich fühle – älter als alt.«

Kosel und seine Kinder kamen, Luise zu begrüßen, die man schon lange nicht gesehen hatte, und Elika schlug vor, das Vesperbrot in der 287 Laubhütte im Wäldchen auftragen zu lassen. »Dorthin wird der Wagen bestellt, und Luise fährt nach Hause, aber erst sehr spät. Sie muß heute vier Stunden bei uns bleiben, sie hat noch zwei von gestern einzubringen.«

Die »arme Kleine« hatte gesprochen, das Gesetz war gegeben.

Eigentlich gehörte das Wäldchen noch zum Garten und war nur durch ein leichtes Drahtgitter von ihm getrennt. Seine grünen Wiesen, seine freundlichen Auen reichten bis zur Grenze der großen Waldungen Velices, die sich hügelauf, hügelab hinter denen von Valahora im Halbkreise hinzogen.

Ein breiter, gerader Weg durchschnitt das Wäldchen. Wenig befahren, ganz eben, mit kurzem, dichtem Gras bewachsen – ein unübertrefflicher Reitboden. Von diesem Weg zweigte ein schmaler ins Innere des Gehölzes ab und führte mehr oder weniger sanft ansteigend zur Laubhütte, dem Ziel der heutigen Wanderung. Die ganze Gesellschaft, Menschen und Tiere – jeder der Herren, Heideschmied ausgenommen, hatte einen Hund mit – bog auf den Fußpfad 288 ein, nur Franz, nach Jägerart immer lauschend, spähend, blieb zurück. Elika wendete sich nach ihm um:

»Nun, Monsieur, ist's gefällig?«

»Still!« Er warf ihr einen seiner strengsten Blicke zu.

»Jetzt schaut er wieder wie ein Bushranger, dieser Mensch. Franzl, schau nicht so!«

Er legte den Finger auf den Mund: »Still! wenn ich dir schon sag . . . Still, er kommt, kommt auf dem Hansl.« Mit einem Satz war er an Elikas Seite. »Ruhig, verstecken wir uns.«

»Und kuschen die Hunde!« befahl Kosel.

»Kuschen, hörst, daß der Hansl nicht erschrickt, sonst gibt's ein Malheur,« flüsterte Leopold seiner braunen Lady zu. Elika und Franz brannten die Wangen. Sie drängten sich vor, guckten durchs Gebüsch und verkündeten leise: »Da ist er, da ist er schon!«

Die alten Tanten hatten einen und denselben Gedanken: Wenn es hieß »er«, brauchte man nicht mehr zu fragen, wer gemeint war.

Der Hufschlag eines Pferdes ließ sich gedämpft auf dem weichen Grunde vernehmen. In 289 kurzem Trabe kam Bornholm auf dem Hansl einhergeritten. Das war nicht mehr der scheue Bosnickel, das war ein seines Daseins frohes Tier und stolz in seiner Dienstbarkeit. Sie war nicht drückend, erniedrigte es nicht zur Maschine, ließ ihm die goldene Freiheit eigener Initiative, auf die sein Herr auch offenbar vertraute. Er saß in nachlässiger Haltung ohne Peitsche, ohne Sporen, scheinbar mit allem anderen mehr beschäftigt als mit seinem Pferde. So still die Späher im Gehölz auch meinten, sich gehalten zu haben, er hatte die Nähe von etwas Lebendigem bemerkt und den Blick – einen scharfen unguten Blick – sogleich nach der richtigen Fährte gelenkt. Ihm kam es nicht überraschend, als sich die Zweige plötzlich auseinander bogen und die braune Lady, die Leopold einen Augenblick unbeaufsichtigt gelassen hatte, hervor und mit wildem Gebell auf Hansl losstürzte. Der machte einen Seitensprung, die zuredenden Worte des Herrn gaben ihm aber bald seine Seelenruhe zurück. Leopold war seinem Hunde nachgeeilt, machte ihm die bittersten Vorwürfe und entschuldigte sich bei Bornholm.

290 Alle kamen nach und nach herbei, und Hansl erntete viel Lob. Kosel wünschte zu erfahren, was Bornholm mit dem Pferde »angefangen« habe. Nichts, durchaus nichts Besonderes. Er hatte sich gefaßt gemacht, alles erdenkliche Böse von ihm zu erfahren, und »er tut ja nichts«.

»Was Sie sagen!« Kosel dachte nach: »Ja, hat er Sie denn nicht gebissen?«

»Ach das – das war nur ein kleines Mißverständnis. Nicht wahr, Hansl, mein Alter?« Er war abgesessen, legte den Arm auf den Hals seines Pferdes und lachte, und der Plumpsack – Leopold hatte Bornholm mit diesem Spitznamen dekoriert – war unglaublich gewinnend, wenn er lachte. Schade, daß es so selten vorkam. Eine warme, freundschaftliche Regung stieg in Leopold empor.

»Bleiben Sie bei uns!« rief er, »wir vespern in der Laubhütte. Kommen Sie mit! Gute Tanten, lieber Papa, sag' ihm, er soll mitkommen!«

»Er soll, er soll! Herr Bornholm, kommen Sie mit!« fielen Franz und Elika ein.

Einige Betroffenheit über diese unversehens 291 vorgebrachte Einladung malte sich in den Gesichtern der alten Damen, und auch Kosel sah nicht besonders erfreut aus. Aber was war zu tun? Unartig sein gegen den Freund Josefs konnte man nicht, und so wurde denn die Aufforderung der Kinder von den Tanten und Kosel wiederholt. Die Augen Bornholms richteten sich fragend auf Luise; sie war die einzige von der Familie, die geschwiegen hatte, und gab auch jetzt kein Zeichen der Zustimmung.

»Tausend Dank,« sprach Bornholm, »es ist unmöglich. ich bin ja nicht allein.« Mit einer Kopfbewegung deutete er nach Hansl.

»O, deswegen!« sprach Franz. »Geben Sie ihn mir, ich reit ihn nach Hause,« und er trat dicht an das Pferd heran.

»Was ihm einfallt!« »Das ist eine Idee!« »Nein, das wirst du nicht!« klang es durcheinander. Elika lief auf ihren Bruder zu und wollte seine Hand ergreifen. Voll Ungeduld wich er aus. »Franz, um Gotteswillen, wenn du mich nur ein bißchen lieb hast . . . Franz!« Mit einem Schrei des Schmerzes stieß sie es hervor. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie 292 ihn umsonst bei seiner Liebe zu ihr angerufen. Er schob sie weg, gleichgültig, hörte nicht sie, sondern nur Bornholm, der zu Kosel sprach:

»Lassen Sie ihn. Er ist ein guter Reiter, ich habe ihn schon zu Pferd gesehen.«

Franz hatte wieder alles Blut im Kopfe, machte seine dicke, trotzige Lippe und schwang sich rasch in den Sattel.

»Nur abgeben, dem Bartolomäus, im Hof – sich nicht weiter mit ihm zu tun machen!« warnte Bornholm.

Als Hansl den fremden Reiter auf seinem Rücken spürte, bog er den Hals wie eine Schlange und schnappte, aber nur Luft, es war ihm nicht ernst, es war nur eine Reminiszenz an frühere Tölpeleien. Den ersten Hilfen schon gehorsam, schlug er seinen weitausgreifenden Trab an und eine Freude für jedes Reiterauge war seine freie und korrekte Aktion.

Alle blieben auf der Straße stehen und sahen ihm nach.

»Ja – wenn ich wüßte, was Sie mit dem Tier angefangen haben,« begann Kosel von neuem.

293 »Ich sage Ihnen ja – nichts, es war nur verprügelt durch Ihre Leute.«

»Auch durch uns,« gestand Leopold. »Wir haben ihn auch geritten und mißverstanden.«

»Geritten? den Hansl? Es war euch verboten!« rief Elika streng und verweisend und hätte gleich darauf vor Beschämung und Reue in den Boden sinken mögen. Bornholm hatte sich nach ihr umgesehen – so geringschätzig, so deutlich fragend: Hast du mitzureden? . . . . O grausam! grausam! . . . Der bewunderte sie nicht und bemitleidete sie nicht. Für den war sie nichts. Der begriff wohl kaum, daß sie anderen etwas war.

Mit erratendem Verständnis las Luise ihr vom Gesichte ab, was in ihr vorging. Sie nahm ihren Arm, und so folgten sie den Tanten, die schon rüstig voran wanderten, von Heideschmied und seiner Gattin umschwärmt. Die feine Frau machte zirpend auf das Gezirpe der Waldvögelchen aufmerksam, und der Gemahl flüsterte ihr ins Ohr:

»Sie singen nicht so lieblich wie du.«

Kosel, Leopold und Bornholm schlossen den 294 Zug. Levin vernahm die Erörterungen Kosels über Pferdedressur nur noch wie ein Geräusch, das unartikuliert und gleichmäßig an ihm vorüberzog. Er horchte einer andern Stimme. Gedämpft und doch voll edlen Klanges sprach sie zu einem Kinde. Was sie sagte, verstand er nicht; aber sie tat ihm wohl, glitt wie ein belebender Hauch über längst entschlafene Erinnerungen. Liebliche, holde aus der Kinderzeit, andere, die ihm schwer aufs Herz fielen. Sie mahnten an den Undank, mit dem er gar oft Liebe gelohnt, an die Opfer, die seine wilde Genußsucht gefordert hatte: Glück und Zukunft so manchen jungen Lebens für eine Stunde des Rausches. Häßlich mutete ihn heute an, was ihm damals süß und schön erschienen war. Er hätte die Gedanken daran aus seinem Gedächtnis wegtilgen mögen, aber sie blieben, sie bohrten sich ein, sie peinigten. Warum das auf einmal? War das Reue, die er abgeschworen hatte, war das das sogenannte Gewissen, das er doch längst als etwas künstlich Anerzogenes abgetan zu haben glaubte?

Als er diese Frage an sich stellte, klang leise 295 Luisens Lachen zu ihm herüber mit seinem sanften, weichen Schalle. Ihm war, als müsse er es schon einmal gehört haben in besseren Tagen, in einer helleren Welt.

*


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