Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Elika hatte um Josefs willen noch eine schwere Stunde zu bestehen gehabt. Sie war in dem Augenblick in ihr ehemaliges Zimmer getreten, in dem Apollonia beim Aufräumen des Schrankes die erbrochene Sparbüchse gefunden hatte. An diese Sparbüchse hatte die Kleine gar nicht mehr gedacht, und eine schreckliche Ratlosigkeit ergriff sie, als die Wärterin ihr möglichst schonend mitteilte, daß alles Geld, das der gute Papa und die guten Tanten ihr geschenkt hatten, gestohlen sei.

»Nein, nein, nicht gestohlen!« rief Elika und 200 fuhr mit beiden Händen nach ihrem Kopf. »Poli, ich bitte dich, ich bitte dich . . . glaube nur nicht, daß es gestohlen ist . . .«

»Nicht gestohlen – aber fort. Wer hat's genommen? Du selbst? Elika!«

»Ich – ich . . .«

Was tun? Wenn sie sagte, wem sie das Geld gegeben hatte, was mußte sie dann nicht alles sagen? Daß sie gewußt um Josefs Flucht und sie hätte verhindern können, und gewiß – sollen! die Leute wecken, ihm nachsetzen, ihn einholen lassen . . . Nein und hundertmal nein, das sagt sie nicht – Poli kann ja nicht schweigen, die Kinder hatten es schon oft erfahren: nie ganz schweigen, höchstens halb und halb, wenn man sie »fürchterlich« bittet. Elika fleht also und beschwört:

»Frage mich nicht! frage mich nicht! Ich hab's verschenkt, mehr sage ich nicht, lieber sterben!«

Guter Gott, da war das Kind wieder da mit seinem Sterben! Wenn einem das Kind nur damit nicht käme, das hält man ja nicht aus. Und verschenkt also, der Engel – alles, was er hatte, verschenkt? Und will nicht einmal sagen, 201 wem er aus der Not geholfen hat. O, der gute Engel!

»Lobe mich nicht!« . . . Im Ton des tiefsten Schmerzes stieß die Kleine es hervor, und Apollonia erschrak über ihre Aufregung und suchte sie zu beschwichtigen und beteuerte, daß sie schweigen und auch nie wieder fragen werde, wohin das Geld des guten Engels gekommen sei.

In derselben Nacht aber hatte Apollonia von Josef geträumt, war plötzlich aus dem Schlafe aufgefahren und dann lange wach gelegen. Und allerlei war ihr »vorgegangen«. Etwas höchst Merkwürdiges – und geradezu wunderbar, daß es ihr nicht früher zum Bewußtsein kam. Jetzt, mit einem Male, stand es vor ihr. Damals in der Nacht, in der Josef entfloh, hatte ein herzzerreißender Schrei Apollonia geweckt. Die Kleine stieß ihn aus: »Josef!« rief das Kind. Sie hatte gewußt, was geschah, eine Ahnung hatte es ihr gesagt, ein zweites Gesicht. Sie hatte den Bruder gesehen, sich aus dem Hause stehlen, in Nacht und Sturm des Weges ziehen, und ihn gerufen voll Todesangst! Und was sie gelitten hatte durch ihr unheimliches Traumleben, hatte sich 202 am nächsten Morgen in ihren Zügen ausgesprochen; es war jedem aufgefallen. Apollonia beeilte sich, ihre spät gemachte Entdeckung der Tante Renate mitzuteilen. Diese meinte:

»Es kann auch Zufall sein; ich glaube, daß Sie nicht davon sprechen sollten.«

Aber zwei Geheimnisse auf einmal bewahren konnte Apollonia nicht, das war zuviel von ihr verlangt. Wenigstens Frau Heideschmied mußte sie sich anvertrauen, und doch auch der Frau des Kochs, mit der sie besonders innig befreundet war. Und die schwieg nicht, die erstaunliche Tatsache kam im ganzen Hause herum. Man setzte hinzu, schmückte aus, und bald war Elika von dem Nimbus einer kleinen Hellseherin umgeben.

Sie betete viel und heiß, mit exaltierter Frömmigkeit. Sie fühlte sich im Gebete, unter der unmittelbaren Einwirkung des höchsten Wesens, von Schauern der Ehrfurcht und Glückseligkeit durchrieselt im Bewußtsein seiner Nähe.

Sie hatte Augenblicke süßer, wonniger Begeisterung. Besonders abends im Oratorium der Schloßkapelle, wenn sie ruhesehnend und schon etwas schläfrig dort kniete neben Tante Renate 203 auf dem verschossenen Sammet des Betstuhls und ihren Gutenachtgruß an den lieben Gott sprach. Sie hatte ihn selbst »gedichtet«. »Meine Gedanken flattern mit müden Schwingen, aber zu Dir. Die Augen meiner Seele sind verschleiert, schauen aber aus nach Dir!«

Durch die hohen Fenster blinkten die Sterne, und ein anderes Sternlein, das ewige Licht in seiner geschliffenen Kristallschale, grüßte zu ihnen hinauf. Elika lieh ihm Worte: »Das Flämmchen spricht zu euch Sterne, es sagt: Euer Licht hat der Finger Gottes entfacht, das meine die Andacht der Menschen, unsterblich sind wir beide.«

Wenn der Mond einen verklärenden Lichtblick hereinwarf und ihn ruhen ließ auf dem großen Engel, der mit entfalteten Flügeln über dem Altare schwebte, ein goldenes Kreuz in der ausgestreckten Rechten, da hefteten Elikas Augen sich wie gebannt auf ihn, da meinte sie, dem Blick der seinen zu begegnen, ihr wandte er sein schönes Angesicht zu und hielt ihr das Zeichen des Heiles entgegen. Seine stummen Lippen sprachen nur ihr vernehmbare Worte himmlischer Liebe und geheimnisvoller Verheißungen.

204 Ihren Brüdern erzählte sie nichts von ihren Entzückungen beim Gebete. Sie hatte kein Mitteilungsbedürfnis über die Vorgänge in ihrer tiefsten Seele. Ihre Brüder hingegen sagten ihr alles, was ihnen durch die Köpfe und die Herzen flog, sie war die Vertraute ihrer Zukunftspläne. Leopold, der seine Studien immer noch etwas von oben herab betrieb, aber die Prüfungen glanzvoll bestand, wollte Staatsmann werden und das Vaterland aus allen Wirren erlösen. Franz gedachte sich der Landwirtschaft zu widmen. Ihm machte das Lernen fortwährend große Schwierigkeiten, doch gelang es der sieghaften Lehrkunst Heideschmieds, ihn durch die Schulen zu quetschen.

Dem Einfluß seiner eignen biedern und sympathischen Persönlichkeit verdankte der Junge auch etwas. Die Gesichter der strengsten Professoren am Gymnasium heiterten sich auf, wenn er sorgenvoll dreinschauend erschien, tief und ehrerbietig grüßte und mit heroischer Anstrengung seinen Denkapparat in Bewegung setzte. Jedes einzelne seiner hellen, kurzgehaltenen Haare strebte empor und schien um Beistand zum Himmel zu 205 rufen. Falten bildeten sich auf der breiten, vorspringenden Stirn, die Augen glänzten, die Flügel der kurzen Nase zitterten, und der Mund, der liebe, schöne, unschuldige Mund öffnete sich, die Spitze der Zunge kroch schüchtern hervor und benetzte die glühenden, trockenen Lippen. Und die Antwort, die der prüfende Professor unfehlbar auf seine erste Frage erhielt, lautete:

»– Ja – ja – ja – ja – ja!«

Wenn man ihn aber nur mit einer kleinen Nachhilfe auf den rechten Weg wies, ihm nur Mut machte, dann ging's, dann holperte er weiter und trug immer Zensuren davon, die er, streng genommen, nicht verdient hätte, und nur erhielt, weil die Herren Professoren erwarteten, es werde im nächsten Jahre besser gehen.

Seit einiger Zeit war übrigens der starke, blühende Junge ein Sorgenkind geworden. Der Arzt hatte ein Herzleiden bei ihm konstatiert und dringend empfohlen, ihn vor Gemütsaufregungen und vor heftiger körperlicher Anstrengung zu bewahren. Möglichst unauffällig; er selbst brauchte den Grund des unbehaglichen Gefühls, das er oft haben mußte, nicht zu kennen. »Man schiebt 206 alles aufs Wachsen,« meinte der Arzt, »und wenn er einmal glücklich über die Entwicklungsjahre hinausgebracht ist, haben wir viel gewonnen.«

In aller Gemächlichkeit verdiente sich Leopold sein Zeugnis der Reife und sollte bald nach Wien auf die Universität kommen, ein Glück, nach dem er sich das ganze Jahr hindurch heiß gesehnt hatte. Selbständig sein, endlich selbständig, endlich sein eigener Herr! Es ging ihm ja gut zu Hause, und er liebte die Seinen, aber die Unabhängigkeit ist doch das Schönste, und ein Mann wird man nur draußen in der Freiheit, in der Welt!

Der Tag der Abreise war schon bestimmt, und je näher er kam, eine um so größere Ungeduld erfaßte den Jüngling. Er fing an, die Stunden zu zählen . . . doch – er zählte und rechnete ohne Elika. Die arme Kleine wurde immer trauriger, immer blasser. Frau Heideschmied, ihre begeisterte Verehrerin und untertänige Sklavin, hörte sie des Nachts in ihrem Bette schluchzen. Sie sekundierte im stillen. Der Schmerz des Kindes war ihr Schmerz, Elikas geringste Verstimmung brachte sie um alle Freudigkeit, Elikas geringstes 207 Unwohlsein schien ihr der Beginn einer schweren Krankheit, und sie beunruhigte mehr als einmal die Tanten mit der Versicherung:

»Mesdames, elle se meurt!«

Es kam so weit, daß Charlotte zu ihr sagte: »Verzeihen Sie mir, liebe Frau Heideschmied, aber Ihre Ängstlichkeit übersteigt schon die Grenzen des Unvernünftigen.«

Indessen machte der Trübsinn, in den Elika versank, als der Augenblick der Trennung von Leopold mehr und mehr heranrückte, dem ganzen Hause Kosel und allen, die zu ihm gehörten, große Sorge.

Die Kleine sprach nicht von dem bevorstehenden Abschied, man sah aber, daß sie an nichts anderes dachte. Sie bat ihren Bruder nicht ein einziges Mal, daß er ihr das Opfer bringen möge, dazubleiben; wenn sie aber mit ihm sprach, klang ein leiser Vorwurf aus ihrem Tone, und aus ihren Augen fluteten ihm solche Wogen des Leids entgegen, daß er es nicht aushielt, daß er sich vorkam wie ein Verbrecher, wie ein Schwestermörder, und nach schwerem Kampfe mit sich selbst eines Morgens erklärte:

208 »Ich habe es mir überlegt, ich bleibe. Das erste Jahr Jus kann ich am Ende auch in Velice durchmachen.«

Elika dankte nicht mit Worten, aber sie lebte wieder auf, sie entzückte ihre Brüder, erheiterte das ganze Haus mit ihrer lieben Munterkeit, die in alle Herzen eindrang wie mildes, lauteres Licht.

»Jetzt bist du wieder nett,« sagte Leopold zu ihr, und sie antwortete:

»Weil ich glücklich bin.«

»In einem Jahr gehe ich aber doch,« sprach er nach kurzer Überlegung mit Festigkeit.

»Ach was – in einem Jahr!« –

Er wußte wohl, was das heißen sollte: Geh du nur in einem Jahr! Mir tut's dann nicht mehr weh. Ich bin dann nicht mehr da.

Sie sah oft danach aus, als ob sie in einem Jahr nicht mehr da sein sollte, und plötzlich, ohne sichtbare Veranlassung, war das blasse Alabastersäulchen in ein frisches, rosiges Mädchen verwandelt, das von Lebenslust sprühte und, schwimmend und rudernd, reitend und pferdelenkend, mit ihren Brüdern an Geschicklichkeit und Kühnheit wetteiferte.

209 Im Gegensatz zu ihrer früheren Lernfaulheit war sie jetzt von einem fieberhaften Wissensdurst ergriffen. Sie hatte zu oft auf ihre Frage: Warum? die Antwort erhalten: Weil Gott es so eingerichtet hat, um nicht endlich zu der weiteren Frage: Warum hat Gott es so eingerichtet? zu gelangen.

Sie fühlte sich immer etwas beleidigt, wenn ihr erwidert wurde, darüber ließen sich höchstens Vermutungen anstellen, die aber selten das Rechte träfen. In die Absichten Gottes einzudringen, vermag kein menschlicher Verstand. Das glaubte sie einmal nicht! Tante Renate, die so fromm ist, der Herr Pfarrer, der ein Priester ist, werden doch die Absichten Gottes kennen. Sie wollen ihr nur nicht sagen, was sie wissen, sie finden sie noch zu jung, zu kindisch. Nun, wenn die Menschen ihr allerlei verheimlichen und Versteckens mit ihr spielen, nimmt sie ihre Zuflucht zu Büchern. Bücher sind offenherzig, die braucht man nur aufzuschlagen, und sie geben uns großmütig und freimütig ihren ganzen Reichtum.

Und jetzt war keines der Bücher ihrer Brüder mehr vor ihr sicher; sie studierte mit glühendem 210 Eifer und eisernem Fleiße wochen- und manchmal monatelang, aber – einmal das, einmal jenes, und Heideschmied prophezeite ihr:

»Ihr Wissen wird immer Stückwerk bleiben, Elika.«

Seit Josef fort war, hatte sie sich mit großer Innigkeit an Luise geschlossen. Ihr kam vor, daß diese junge Tante sie ungemein zu schätzen wußte und ein Verständnis für sie habe, das den Großtanten fehlte. Besonders Renate, deren Leben eine lange Übung in der Selbstbeherrschung gewesen war, sah die Launen, denen Elika sich hingab, ihr Schwanken von einem zum andern als etwas höchst Beklagenswertes und als einen Freibrief auf alle möglichen Irrungen und Leiden an.

Einige Wochen vor ihrem dreizehnten Geburtstag erbat sich die Kleine als liebstes Geschenk die Erlaubnis, vierzehn Tage ganz allein bei Luise in Vrobek zubringen zu dürfen. Apollonia packte einen Koffer, und schon geraume Zeit vor der Übersiedlung hielt Elika ihre Bekannten im Dorfe und die Arbeitsleute im Garten an und sprach mit großem Ernste:

211 »Wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte vor meiner Abreise, sage ich Ihnen also heute Lebewohl.«

Die meisten fanden das herzig und rührend, einige lachten sie aus, aber niemand versäumte, sie seiner Hingebung zu versichern. Beim wirklichen Abschied empfahl sie ihren Brüdern, sie morgen, und den Tanten, sie spätestens übermorgen zu besuchen. Überhaupt solle ja nur täglich jemand aus Velice hinüberkommen, sich nach ihr zu erkundigen.

Dann wurde sie Luisen übergeben und fuhr unter ihrem Schutze fort. Im Wagen stand sie auf und winkte mit dem Taschentuche, so lange auch nur die Spitze eines Schornsteins des väterlichen Hauses zu erblicken war. Sie fühlte einen großen Trennungsschmerz und kostete ihn mit wahrem Hochgenuß aus.

Im raschen Trabe war der Weg längs der Parkmauer zurückgelegt worden, nun ging es den Berg hinunter zwischen zwei Reihen alter Apfelbäume. Ihre Früchte waren schon abgenommen. Es war ein gutes Obstjahr gewesen. Zu Hügeln aufgeschichtet, lagen Äpfel, Pflaumen 212 und Nüsse auf den Feldern und daneben die Wächter im leichten oder schweren Branntweinrausche.

In einer Viertelstunde hatte man die Hälfte der großen Reise zurückgelegt, Valahora kam in Sicht.

»Du! Du!« rief Elika ihre Tante an, »schau hin. Bartolomäus hat alle Fenster aufgemacht. Was heißt denn das? was geschieht ihm denn? Dem muß was sein, daß er sich entschließt, die Fenster aufzumachen . . . . Oder,« unterbrach sie sich plötzlich, und eine helle, fliegende Röte stieg ihr ins Gesicht, »lüftet er, weil er seinen Herrn erwartet? . . . Luise – wenn Bornholm käme, käme Josef mit . . .« Sie konnte nicht weiter sprechen, ihr Atem versagte.

Luise nahm sie in die Arme: »Mache dir keine falschen Hoffnungen. Josef denkt noch nicht an die Heimkehr. Das sieht man ja aus seinen Briefen.«

In Vrobek kam Elika sich doch ein wenig vor wie eine verwunschene Prinzessin. Es war alles gar so einfach; das Zimmer, in dem Luise sie neben dem ihren einquartiert hatte, wie jenes 213 weißgetüncht und spärlich eingerichtet. Am Abend brachte die Tante sie zu Bette und blieb bei ihr, bis der Kleinen die Augen zufielen. Aber sie hatte einen unruhigen Schlaf, eine Deckenrutschung fand statt, und Elika erwachte im blanken Hemdchen, fröstelnd, zähneklappernd. Da dachte sie sogleich, daß sie Fieber habe, malte sich rasch und lebhaft die ganze Traurigkeit eines Sterbens in der Fremde aus und schlief, wieder fest in ihre Decke gehüllt, sanft und ruhig bis zum Morgen. Als aber Luise kam, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein, und fragte, ob sie gut geschlafen habe, antwortete sie: »O, fast gar nicht!« und glaubte es.

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