Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Es war ein wenig lichter, der schwere Dunst, der auf den Feldern und Wiesen lag, durchsichtiger geworden, am Himmel blinkten matt einzelne Sterne. Levin sah dem Enteilenden nach. Ein herzlicher Wunsch erfaßte ihn, ihm zu folgen, ihn einzuholen, ihm noch einmal tüchtig die Hand zu schütteln und zu sagen: »Laß auch du dich nicht auffressen vom Hergebrachten, vom Alltäglichen und Kleinlichen und von der Philistermoral.« Aber er widerstand der Versuchung. Möge jeder seine Wege gehen, auch der dort! Wohin sie führen, kümmert Levin Bornholm nicht. Er will keine Teilnahme empfinden und am wenigsten – verraten. Liebe, Freundschaft, Anhänglichkeit – fort damit, fort mit allem, was uns ein Gängelband anlegt, uns beeinflußt, uns zwingt! Ein Vierteljahrhundert hatte er gelebt, und dieses Leben bedeutete im Grunde einen Schiffbruch. Aber Köstliches hatte er gerettet: den Glauben an sich selbst, die absolute Freiheit, die Kraft, den Verteidigungskrieg zu 81 führen, aus dem das Dasein des Mannes besteht, der sich keinem Joche des Herkommens beugt, dem Heiligkeit, Edelmut, Mitleid, Nächstenliebe – Worte sind. Levin kehrte in seine Stube zurück, nahm die Lampe vom Tische und durchwanderte sein trauriges Daheim. Er ging durch düstere, mit Ziegeln gepflasterte Gänge, in denen die Luft selbst eingeschlafen schien, in denen der Schritt nicht hallte, über steinerne Treppen und Treppchen, durch öde Gemächer mit gewölbten Decken, schmalen Fenstern, bestaubter, verwitterter Einrichtung. Er haßte den mittelalterlichen, romantischen Anstrich des Hauses und die abscheulichen Erinnerungen an seine Kindheit, die ihm aus allen Ecken und Enden entgegenstoben. Die Vergangenheit stand da wie ein Feind, aber vor Feinden flieht man nicht, man ringt mit ihnen. Er schritt vorwärts und betrat endlich die Stätte, an der seine Mutter den letzten Atemzug getan hatte.

Du qualerfülltes Totenzimmer, deine Wände schreien!

Alles noch so wie am Morgen, an dem die Leiche fortgetragen wurde. Der Vater hatte den 82 Raum nie betreten, der Sohn ihn nur verstohlen betreten dürfen. Kein Blick ins Freie aus der zellenartigen Stube. Die zwei durch einen weit vorspringenden Pfeiler getrennten Fenster hatten die Aussicht auf einen kleinen Burghof. Kahle Mauern und einer der steinernen Türme umschlossen ihn, und in die Fensternische mußte man treten und sich tief bücken, um ein Stückchen Himmel zu sehen. Und da stand noch der Schemel, auf dem die Gefangene gesessen und zum Himmel hinausgeblickt hatte, das bißchen Sonnenlicht und Sternenschein suchend, das in ihre Klause eindringen konnte.

Levin stellte die Lampe auf den Tisch. Grelles Licht fiel auf die kärgliche Einrichtung: ein Schrank, ein paar Holzstühle, ein eisernes Gestell mit einem Waschbecken. An der Wand neben dem Bette hing eine Zeichnung, das Bild Levins als Kind. Darüber ein dürrer Weidekätzchenzweig. Es war auch ein Kruzifix dagewesen; das aber hatte die alte Alwilde, die Dienerin und Gefangenwärterin, der Toten in die gefalteten Hände gelegt.

An den Schrank gelehnt, die Hände in den 83 Taschen, den Kopf geneigt, stand Bornholm und starrte zu dem ausgebröckelten Ziegelboden nieder. Er sah – sah so deutlich wie einst als Kind, den Sarg vor sich, in dem die schöne Leiche seiner Mutter lag. Ein zerschlissenes, schwarzes Seidenkleid hatte Alwilde ihr angezogen und ihr ein weißes Tuch über der Brust gekreuzt. Ach, das stille, wachsbleiche Gesicht . . . die weißen Lippen . . . Gab es einen beredten Mund, gab es leidenschaftlich bewegte Züge, die so eindringlich sprechen konnten wie dieses verklärte Totenantlitz? – »Ich bin im Frieden gestorben,« sagte es, »und es gibt nichts Schöneres als den Frieden.«

Bornholm sah auch sich selbst – sah, wie er sich damals über den Sarg geworfen und gerast hatte in wilder Reue:

Daß er sich belügen, daß er sich Abscheu einflößen ließ gegen seine Mutter, daß es nur eins gab, womit der Vater ihn zu schrecken vermochte, die Drohung: »Warte, du wirst zur Mutter gesperrt!«

Wäre er nicht ein dummer Junge gewesen! hätte er eine deutlichere Erinnerung an seine frühe Kindheit und an seine Mutter gehabt, er 84 würde die Trennung von ihr nicht erduldet, er würde nie geglaubt haben, daß sie eine Sünderin war, die Gewissensqualen zum Wahnsinn getrieben, und die nun eine böse und gewalttätige Irre sei.

Wäre er nicht ein dummer Junge gewesen! Er würde sie nicht erst in ihrer Todesstunde wiedergesehen haben, er wäre zu ihr gedrungen, ihrem Kerkermeister zum Trotz, und wäre bei ihr geblieben und hätte sie getröstet und angebetet, oder sie befreit . . .

O dummer Junge! dummer Junge!

Ein Lächeln voll Bitternis spielte um Bornholms Lippen; jahrelang schlummerndes Leid erwachte wieder. Er fühlte einen Nachhall des Schmerzes von einst. Einen Nachhall der Reuequal, die ihn zu Boden geworfen hatte, der Wut, mit der er sich die Stirn am Rande des Sarges blutig geschlagen und seinen Kopf zerschmettern wollte, seinen dummen Kopf.

Reue – an dem Tage hatte er erfahren, wie sie tut, und später die schwächliche, nutzlose Empfindung in sich auszurotten gesucht. Die neue Lehre war verkündet worden, und gierig, 85 mit tausend Lippen, hatte er sie eingesogen. Er hatte alles von sich gewiesen, was nagt und peinigt, er hatte gelebt und genossen und war ein moderner Mensch und ein eifriger Apostel des rosengekrönten Heilands geworden.

Und doch nicht glücklich – doch schon ergriffen von dem nagenden Hunger des Übersättigten, dem Hunger nach einer Stunde inneren Friedens!

*


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