Alexander Dumas Sohn
Die Dame mit den Kamelien
Alexander Dumas Sohn

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XIV.

»Was sich seit unserer Trennung zugetragen, weißt Du so gut wie ich; aber was ich seitdem gelitten habe, weißt Du nicht und kannst es auch nicht ahnen.

Ich hatte erfahren, daß Dein Vater Dich mit nach C*** genommen; aber ich dachte mir wohl, daß Du nicht lange fern von mir leben könntest, und an dem Tage, als ich Dir in den Champs Elysées begegnete, war ich tief ergriffen, aber nicht erstaunt.

Nun begann jene Reihe von Tagen, deren jeder mir eine neue Verhöhnung und Beleidigung von Dir brachte. Ich nahm letztere fast mit Freuden hin, denn ich sah darin nicht nur einen Beweis, daß Du mich noch liebtest, sondern es schien mir auch, daß ich einst, wenn Du die Wahrheit erfahren, eben wegen dieser Verfolgungen in Deinen Augen größer erscheinen würde.

Wundere Dich nicht, Armand, über dieses mit Freuden übernommene Märtyrertum; Deine Liebe zu mir hatte mein Herz zu edler Begeisterung erfüllt.

Ich war jedoch nicht gleich anfangs so stark gewesen. Zwischen der Ausführung des Entschlusses, den ich Dir zu Liebe gefaßt hatte und Deiner Rückkehr war eine ziemlich lange Zeit verflossen, in welcher ich mich durch beständige Zerstreuungen und rauschende Vergnügungen betäuben mußte, um den Verstand nicht zu verlieren. Prudence wird Dir gesagt haben, daß ich an allen Festlichkeiten, Bällen und Gelagen teilnahm.

Ich hegte dabei die Hoffnung, meinem Leben schnell ein Ende zu machen, und heute glaube ich, daß diese Hoffnung bald in Erfüllung gehen wird. Meine Gesundheit wurde natürlich immer wankender, und an dem Tage, wo ich Madame Duvernoy zu Dir schickte, war ich körperlich und geistig erschöpft.

Unsere letzte Unterredung, Armand, ließ mich recht deutlich erkennen, wie elend ich war. Ich sah die Unmöglichkeit ein, die zwischen uns liegende weite Kluft zu überschreiten und die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Ich beschloß daher, mich gewaltsam diesem quälenden Verhältnis zu entreißen; ich schrieb an den Grafen von N***, es sei alles aus zwischen uns. Olympe, die meine Stelle bei ihm ersetzt hat, soll ihn, wie ich erfahren, mit der Ursache meiner Abreise bekannt gemacht haben. Der Graf von G*** befand sich in London. Er gehört zu den Männern, welche in einem Liebesverhältnis mit Mädchen meinesgleichen nur einen angenehmen Zeitvertreib erblicken, und in der Folge recht gute Freunde ihrer früheren Geliebten bleiben, denn da ihnen früher die Eifersucht fremd war, so hegen sie auch später keinen Haß. Kurz, er ist einer jener reichen Kavaliere, die uns nur einen sehr kleinen Winkel ihres Herzens, aber meist ihre ganze Börse öffnen. An ihn dachte ich nunmehr und ich begab mich sogleich zu ihm. Er nahm mich sehr gut auf, aber er hatte in London ein zärtliches Verhältnis mit einer sehr vornehmen Dame angeknüpft und er fürchtete sich zu kompromittieren, wenn er in ein offenkundiges Verhältnis zu mir träte.

Was sollte ich tun, lieber Armand? Mir das Leben nehmen? Dadurch würde ich mein Leben, das alle Ansprüche auf Glück hat, mit einer unnötigen Reue beladen haben, und warum soll man sich das Leben nehmen, wenn man fühlt, daß der Tod nicht mehr fern ist?

Ich wurde fast zum Automat, zur gedankenlosen Maschine. Ich kehrte nach Paris zurück und erkundigte mich nach Dir; ich erfuhr, daß Du eine lange Reise angetreten. Ich fand nun keine Stütze mehr. Ich suchte den Herzog wieder zu versöhnen, aber ich hatte ihn zu tief verletzt und die Greise sind nicht geduldig, ohne Zweifel, weil sie wahrnehmen, daß sie nicht ewig sind. Mein Gesundheitszustand verschlimmerte sich mit jedem Tage; ich war blaß und traurig ... und wurde fast ganz vergessen.

Jetzt bin ich ganz krank. Ich habe an den Herzog geschrieben, denn meine Kasse ist erschöpft und die Gläubiger, die sich wieder eingefunden haben, bestürmen mich schonungslos mit ihren Rechnungen.

Ob mir der Herzog antworten wird?

Warum bist Du nicht in Paris, Armand? Du würdest mich besuchen und Deine Besuche würden mich trösten.«

»20. Dezember.

Das Wetter ist fürchterlich, es schneit, ich bin allein zu Hause. Seit drei Tagen habe ich einen so heftigen Fieberanfall, daß ich Dir kein Wort schreiben konnte. Nichts neues, lieber Armand; es ist mir immer, als ob ich einen Brief von Dir zu erwarten hätte; aber der Brief kommt nicht und wird auch wohl nie kommen.

Nur die Menschen haben die Kraft nicht zu verzeihen. Der Herzog hat mir nicht geantwortet.

Prudence hat ihre Wanderungen zum Leihhause wieder angefangen. Ich huste fast unaufhörlich Blut. Oh! mein Anblick würde Dir sehr peinlich sein, wenn Du mich sähest. Du bist sehr glücklich, unter einem warmen Himmel zu leben und Deine Brust von keinem eisigen Winter belastet zu fühlen. Heute bin ich aufgestanden und habe am Fenster das geräuschvolle Pariser Leben betrachtet, aus welchem ich nun wohl für immer geschieden bin. Einige bekannte Gesichter eilten heiter und sorglos vorüber. Nicht ein einziger hat zu meinen Fenstern heraufgeblickt. Einige junge Herren haben jedoch ihre Karten abgegeben. Ich war schon einmal krank und Du erkundigtest Dich jeden Morgen nach meinem Befinden, obwohl Du mich nicht kanntest und sogar bei unserem ersten Zusammentreffen von mir verhöhnt worden warst. Jetzt bin ich wieder krank. Wir haben uns seit sechs Monaten innig und aufrichtig geliebt ... und nun bist Du fern und verwünschest mich und ich erhalte kein Wort des Trostes von Dir. Aber ich bin überzeugt, daß diese Verlassenheit nur ein Werk des Zufalls ist; denn wärest Du in Paris, so würdest Du gewiß nicht von meinem Krankenlager weichen.«

»23. Dezember.

Gaston, mein Arzt, hat mir verboten, täglich zu schreiben. Mein Fieber wird auch in der Tat immer heftiger, wenn ich mich all diesen Erinnerungen überlasse; aber gestern erhielt ich einen Brief, der mich weit mehr durch die darin ausgedrückten Gefühle, als durch die materielle Hilfe, die er mir brachte, erfreut hat. Ich kann Dir also heute schreiben. Der Brief war von Deinem Vater und enthielt folgendes:

»Mademoiselle, eben erfahre ich, daß Sie krank sind. Wenn ich in Paris wäre, so würde ich mich persönlich nach Ihrem Befinden erkundigen; wenn mein Sohn bei mir wäre, so würde ich ihn sogleich auffordern, sich zu Ihnen zu begeben; aber ich kann mich von C*** nicht entfernen und Armand ist tausend Meilen von hier; erlauben Sie mir also, Ihnen mein inniges Bedauern über Ihre Krankheit schriftlich auszudrücken und halten Sie sich überzeugt, daß ich Ihre baldige Genesung aufrichtig wünsche.«

»Ein Freund von mir, Herr H***, wird Ihnen in meinem Namen einen Besuch machen; er hat sich eines Auftrages bei Ihnen zu entledigen und ich erwarte mit Ungeduld, daß er mir das Resultat seines Besuches anzeige.«

»Genehmigen Sie die Versicherung meiner wärmsten Teilnahme.«

Dies ist der Brief, den ich erhalten habe, Armand. Halte Deinen Vater stets in Ehren, denn er ist ein edler Mann und es gibt wenige Menschen, die der Liebe und Hochschätzung so würdig sind, wie er. Dieses mit seinem Namen unterzeichnete Schreiben hat einen heilsameren Einfluß auf mein Befinden gehabt als alle Rezepte unseres berühmten Arztes.

Diesen Morgen kam Herr H***. Der Auftrag, den er von Herrn Duval erhalten hatte, schien ihn sehr verlegen zu machen. Er überbrachte mir tausend Taler von Deinem Vater. Ich wollte das Geschenk anfangs ablehnen, aber Herr H*** versicherte, eine Weigerung würde Deinen Vater beleidigen und er sei von letzterem ermächtigt, mir diese Summe sogleich zu übergeben und sodann noch für alle meine Bedürfnisse zu sorgen. Ich nahm diesen Dienst endlich an, den ich nicht als Almosen betrachten kann, da Dein Vater mir ihn erwiesen. Wenn ich tot bin, so zeige ihm, was ich soeben geschrieben habe und sage ihm, das arme Mädchen, dem er diesen Trostbrief geschrieben, habe Tränen des Dankes dabei vergossen und für ihn gebetet.«

»4. Januar.

Ich habe mehrere schmerzliche Tage verlebt. Ich wußte nicht, daß man so viel leiden könne. Oh! ich büße schwer für mein vergangenes Leben.

Meine Wärterin war alle Nächte hindurch vor meinem Bette. Ich konnte kaum noch atmen und phantasierte fast unaufhörlich.

Mein Speisezimmer ist voll von Leckerbissen und Geschenken aller Art, die mir meine Freunde gebracht haben. Einige unter ihnen hoffen wahrscheinlich, in der Folge noch manche Stunde mit mir vertändeln zu können. Wenn sie sähen, was die Krankheit aus mir gemacht hat, so würden sie erschrocken die Flucht ergreifen.

Prudence hat ihren Bekannten Neujahrsgeschenke gemacht mit den hübschen Sachen, die ich erhalten habe.

Es ist helles Frostwetter und der Arzt sagt, ich könne in einigen Tagen ausfahren, wenn das Wetter anhält.«

»8. Januar.

Gestern bin ich in meinem Wagen ausgefahren. Das Wetter war herrlich. Die Champs Elysées waren voll von Menschen. Man hätte glauben können, der Frühling lächle den Parisern zum ersten Male wieder zu. Alles schien ein Festgewand angelegt zu haben. Ich hätte nie geglaubt, daß mir ein Sonnenstrahl so viel Freude und Trost gewähren könne.

Ich sah fast alle meine Bekannten, und alle waren heiter und guter Dinge, das Streben aller war auf Lebensgenuß gerichtet. Wie viele Glückliche gibt es doch, die nicht wissen, daß sie es sind.

Olympe fuhr in einem eleganten Wagen, den ihr der Graf von N*** zum Geschenk gemacht hat. Sie machte einen Versuch, mich mit Blicken zu versöhnen. Das arme Mädchen! Sie weiß nicht, wie weit ich über solche Erbärmlichkeiten hinweg bin.

Ein junger Mann, den ich seit langer Zeit kenne, fragte mich, ob ich mit ihm und einem Freunde, der meine Bekanntschaft zu machen wünsche, soupieren wolle. Ich sah ihn mit traurigem Lächeln an und reichte ihm meine vom Fieber glühende Hand. Er war im höchsten Grade überrascht und betroffen.

Ich fuhr um vier Uhr nach Hause und speiste mit ziemlich gutem Appetit.

Diese Spazierfahrt hat mir wohlgetan. O Gott! wenn ich wieder gesund würde!

Wie stark wird doch durch den Anblick des Glückes anderer die Lebenslust erregt bei denen, die noch tags zuvor in ihrem einsamen, dunklen Krankenzimmer den Tod herbeiwünschten!«

»10. Januar.

Diese Gesundheitshoffnung war nur ein Traum. Ich bin wieder an das Bett gefesselt und meine Leiden werden durch die brennenden Schmerzen, die mir die Zugpflaster verursachen, noch vermehrt. Armes Mädchen, wie schnell sind sie verschwunden, Deine Bewunderer, die sich einst glücklich schätzten, ein Lächeln oder einen Kuß von Dir zu erhaschen!«

Wir unglücklichen Opfer der Eitelkeit müssen vor unserer Geburt viel Böses getan haben oder es muß uns nach unserem Tode ein sehr großes Glück bestimmt sein, denn sonst würde Gott wohl nicht alle Qualen der Sühne und alle Schmerzen der Prüfung über uns verhängen.«

»11. Januar.

Ich leide noch große Schmerzen.

Der Graf von N*** schickte mir gestern Geld, ich habe es nicht angenommen. Ich will nichts von ihm, er ist ja die Ursache, daß Du nicht bei mir bist ... Oh! ihr schönen Tage von Bougival! wo seid ihr!

Wenn ich dieses Zimmer lebend verlasse, so wird mein erster Weg eine Wallfahrt sein zu dem Hause, wo wir einst so glücklich waren. Aber ich werde dieses Haus nur als Leiche verlassen. Wer weiß, ob ich Dir morgen schreiben werde!«

»25. Januar.

Seit elf Nächten habe ich keinen Schlaf gehabt und ich bin oft dem Ersticken nahe. Der Arzt hat mir verboten die Feder anzurühren. Julie Duprat, die bei mir wachte, erlaubte mir diese wenigen Zeilen zu schreiben. Wirst Du denn nicht wieder kommen, ehe ich sterbe? Sollen wir uns denn nie wiedersehen? Es ist mir, als ob ich genesen würde, wenn Du bei mir wärest ... Doch wozu könnte mir die Genesung nützen?«

»28. Januar.

Diesen Morgen wurde ich durch einen großen Lärm geweckt. Julie, die in meinem Zimmer schlief, eilte in den Speisesaal. Ich hörte Männerstimmen, gegen welche die Stimme des armen Mädchens vergebens kämpfte. Sie kam weinend in mein Zimmer zurück.

Man hatte soeben die Pfändung vorgenommen. Ich sagte, sie möge nur der sogenannten Gerechtigkeit ihren Lauf lassen. Der Gerichtsdiener trat in mein Zimmer, mit dem Hut auf dem Kopfe. Er öffnete die Schubladen, schrieb alles auf, was sich vorfand und schien gar nicht zu bemerken, daß in dem Bette, welches mir die Barmherzigkeit des Gesetzes glücklicherweise läßt, eine Sterbende lag.

Ehe er sich entfernte, zeigte er mir an, daß ich binnen neun Tagen Einsprache tun könne, aber er ließ einen Hüter zurück. Mein Gott! was soll aus mir werden? Dieser Auftritt hat mich noch kränker gemacht. Prudence wollte den Freund Deines Vaters um eine Summe Geldes ersuchen, aber ich gab es nicht zu.«

»30. Januar.

Diesen Morgen erhielt ich Deinen Brief. Es war wirklich ein Bedürfnis für mich. Wirst Du meine Antwort noch zeitig genug erhalten? Wirst Du mich noch sehen? Der heutige glückliche Tag läßt mich alle seit sechs Wochen verlebten traurigen Tage vergessen. Mich dünkt, daß ich mich besser befinde, ungeachtet der trüben Stimmung, in welcher ich Dir geantwortet habe. Man muß ja auch nicht immer unglücklich sein.

Wenn ich mir denke, daß ich doch vielleicht nicht sterbe, daß Du wieder hierher kommst, daß ich den Frühling wiedersehe, daß Du mich noch liebst, und daß wir wieder so glücklich werden, wie im verflossenen Jahre! ... Oh! wie töricht bin ich doch! Ich bin ja kaum imstande, die Feder zu halten, mit der ich diesen wahnwitzigen Traum meines Herzens schreibe.

Genug, Armand, ich bin auf alles gefaßt, was sich auch ereignen möge. Ich wäre schon längst tot, wenn mich nicht die Erinnerung an unser Liebesglück und eine schwache Hoffnung, Dich noch bei mir zu sehen, aufrecht erhalten hätte.«

»4. Februar.

Der Graf von G*** ist wieder gekommen. Seine Geliebte hat ihn betrogen. Er ist sehr traurig, denn er war ihr sehr zugetan. Er hat mir das alles erzählt. Der arme Graf befindet sich in etwas zerrütteten Umständen, aber er hat dennoch meinen Gerichtsdiener bezahlt und die Wächter fortgeschickt. Ich sprach von Dir, und er hat mir versprochen, Dir bei dem ersten Zusammentreffen von mir zu erzählen. In jenem Augenblicke vergaß ich ganz, daß ich seine Geliebte gewesen war, und er bot ebenfalls alles auf, um meine Gedanken von diesem kurzen Verhältnisse, das nur peinliche Erinnerungen in mir wecken konnte, abzulenken. Er besitzt ein edles Herz.

Gestern ließ sich der Herzog nach mir erkundigen und diesen Morgen kam er selbst. Ich weiß nicht, was den alten Mann noch am Leben erhält. Er blieb drei Stunden bei mir und hat nicht zwanzig Worte zu mir gesprochen. Zwei dicke Tränen rollten ihm über die Wangen, als er mich so blaß sah. Gewiß wurden ihm diese Tränen durch die Erinnerung an den Tod seiner Tochter entlockt. Der arme alte Mann, er wird nun auch bald ihr Ebenbild sterben sehen. Sein Rücken ist gekrümmt, sein Haupt zur Erde gebeugt, seine Lippe hängt herab, sein Blick ist erloschen, Alter und Schmerz lasten mit ihrem doppelten Gewicht auf seinem erschöpften Körper. Er machte mir keinen Vorwurf. Es schien sogar, als ob er sich meines hoffnungslosen Zustandes innerlich freute. Er schien stolz zu sein, daß er in seinem hohen Alter noch umherging, während ich, trotz meiner Jugend, durch Krankheit an mein Schmerzenslager gefesselt war.

Das Wetter ist wieder stürmisch und unfreundlich geworden. Niemand besucht mich. Julie wacht bei mir so viel, als sie kann. Prudence, der ich nicht mehr so viele Geschenke machen kann als sonst, fängt an Geschäfte vorzuschützen, um sich zu entfernen.

Ich habe die Überzeugung, daß ich dem Tode nahe bin, trotz den Versicherungen der Ärzte, denn ich habe deren mehrere, ein Beweis, daß sich die Krankheit verschlimmert. Jetzt bereue ich beinahe, den Vorstellungen Deines Vaters Gehör gegeben zu haben. Wenn es in meiner Macht gestanden hätte, nur ein Jahr von Deiner Zukunft zu nehmen, so würde ich dem Wunsche nicht widerstanden haben, dieses Jahr bei Dir zu verleben; ich würde dann in meinen letzten Augenblicken wenigstens die Hand eines Freundes halten. Wenn wir dieses Jahr beieinander gewesen wären, so würde ich freilich nicht so schnell sterben.

Doch der Wille Gottes geschehe!«

»5. Februar.

Oh! komm, komm, Armand, ich leide entsetzlich! Mein Gott, sollte mein Ende schon so nahe sein? Ich war gestern so traurig, daß ich den Abend, der so lang wie der vorige zu werden versprach, außer dem Hause zubringen wollte. Der Herzog war vormittags dagewesen. Mich dünkt, der Anblick dieses vom Tode vergessenen Greises beschleunigt mein Ende.

Trotz des Fiebers, das in mir glühte, ließ ich mich ankleiden und fuhr in das Vaudeville-Theater. Julie hatte mich geschminkt, denn sonst würde ich wie eine wandelnde Leiche ausgesehen haben. Ich nahm die Loge, in welcher ich Dir unser erstes Stelldichein gegeben habe; ich ließ den Sperrsitz, den Du damals inne hattest, fast keine Minute aus den Augen. Gestern saß auf diesem Platze ein plumper, roher Mensch, der über alle schlechten Witze der Schauspieler laut lachte. Man hat mich halb tot nach Hause gebracht. Ich habe die ganze Nacht hindurch Blut gehustet. Heute kann ich nicht mehr sprechen, ich bin kaum imstande die Arme zu bewegen ... Mein Gott! mein Gott! wenn das Vorzeichen des Todes wären! Ich war wohl darauf gefaßt, aber ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, noch mehr zu leiden, als ich schon leide.«

Alle diesen letzten Worten folgenden Zeilen, die Margarete zu schreiben versucht hatte, waren unlesbar, und Julie Duprat hatte das Tagebuch fortgesetzt.

»18. Februar.

Seit dem Tage, an welchem Margarete in das Theater fuhr, wurde ihr Zustand mit jeder Stunde bedenklicher. Sie hat die Stimme ganz verloren und ist keiner freien Bewegung mehr mächtig. Was unsere arme Freundin leidet, ist nicht zu beschreiben. Ich bin an derlei Aufregungen nicht gewöhnt und lebe beständig in Furcht und Schrecken.

Wie sehr wünsche ich, daß Sie bei uns sein könnten! Margarete hat fast unaufhörlich phantasiert; aber sie mag nun ihre Besinnung haben oder nicht, so spricht sie immer Ihren Namen aus, wenn sie von Zeit zu Zeit einige Worte zu stammeln vermag.

Der Arzt sagt, es könne nicht mehr lange mit ihr dauern. Seit dieser großen Verschlimmerung ihres Zustandes ist der alte Herzog nicht wieder gekommen. Er hat zu dem Arzte gesagt, der Anblick sei ihm gar zu peinlich.

Madame Duvernoy hat sich sehr schlecht gegen Margarete benommen. Diese Frau, welche fast ganz auf Margaretens Kosten lebte, glaubte von letzterer mehr Geld ziehen zu können, und hat Verbindlichkeiten übernommen, die sie nicht halten kann. Da sie nun sieht, daß ihre Nachbarin ihr nichts mehr nützen kann, macht sie ihr nicht einmal mehr einen Besuch. Jedermann verläßt sie. Der Graf von G***, der von seinen Gläubigern verfolgt wird, hat sich genötigt gesehen, wieder nach London zu gehen. Vor seiner Abreise hat er uns eine kleine Summe Geldes geschickt; er hat getan, was er konnte, aber man hat wieder gepfändet und Margaretens Gläubiger erwarten nur ihren Tod, um ihre ganze Habe zu verkaufen.

Ich wollte meine letzten Hilfsquellen daran setzen, um dieser Pfändung vorzubeugen; aber der Gerichtsdiener sagte mir, es sei unnütz, und es wären noch andere Urteile zu vollziehen. Da sie einmal nicht zu retten ist, so ist es besser, den Gläubigern alles zu überlassen, als ein Opfer zu bringen, aus welchem doch nur Margaretens Verwandte, die ihr niemals gut waren, Nutzen ziehen könnten. Sie können sich nicht vorstellen, in welchem schimmernden Elende das arme Mädchen stirbt. Gestern fehlte es uns an allen Mitteln. Bestecke, Geschmeide, Schals, alles ist versetzt, das Übrige ist teils verkauft, teils gepfändet. Margarete ist sich dessen, was um sie vorgeht, noch bewußt, und sie leidet am Körper, am Geist und am Herzen. Dicke Tränen rollen über ihre Wangen, die so eingefallen und bleich sind, daß Sie das Ihnen einst so teure Gesicht, wenn Sie es sehen könnten, kaum wieder erkennen würden. Ich mußte ihr versprechen, Ihnen zu schreiben, wenn sie selbst zu schwach dazu sein würde, und ich schreibe vor dem Krankenbett. Sie wendet die Augen nach meiner Seite, aber sie sieht mich nicht, ihr Blick ist schon von dem nahen Tode verschleiert; aber sie lächelt noch immer, und ich bin überzeugt, daß alle ihre Gedanken bei Ihnen sind.

So oft die Tür aufgeht, fangen Margaretens Augen an zu leuchten, und sie glaubt immer, Sie würden kommen; wenn sie dann sieht, daß Sie es nicht sind, so nimmt ihr Gesicht den vorigen schmerzlichen Ausdruck wieder an, ein kalter Schweiß bedeckt ihre Stirn und ihre Wangen werden glühend rot.«

»18. Februar, Mitternacht.

Welchen traurigen Tag haben wir heute verlebt! Diesen Morgen war Margarete dem Ersticken nahe, der Arzt hat ihr eine Ader geöffnet und sie hat einigermaßen den Gebrauch der Sprache wieder bekommen. Der Doktor hat ihr geraten, einen Priester kommen zu lassen. Sie willigte ein, und er selbst holte einen Geistlichen.

Unterdessen rief mich Margarete an ihr Bett, ersuchte mich ihren Schrank zu öffnen, bezeichnete mir eine Haube und ein mit vielen Spitzen besetztes langes Hemd, und sagte mit matter Stimme zu mir:

»Ich werde jetzt beichten; dann bekleide mich mit diesen Sachen ... Es ist eine Eitelkeit, die ich im Tode nicht verleugnen kann.«

Dann küßte sie mich mit Tränen und setzte hinzu:

»Ich kann sprechen, aber ich ersticke, wenn ich rede. Luft! ich ersticke!«

Ich brach in Tränen aus und öffnete das Fenster. Einige Augenblicke danach trat der Priester ein. Ich ging ihm entgegen.

Als er erfuhr, bei wem er war, schien er einen üblen Empfang zu fürchten.

»Treten Sie nur ein, hochwürdiger Herr,« sagte ich zu ihm. »Fürchten Sie nichts.«

Er blieb nicht lange in dem Krankenzimmer und als er wieder herauskam, sagte er zu mir:

»Sie hat wie eine Sünderin gelebt, aber sie wird wie eine Christin sterben.«

Einige Augenblicke darauf kam er zurück in Begleitung eines Chorknaben, der ein Kruzifix trug und eines Meßners, der klingelnd vor ihnen her ging.

Sie traten alle drei in das Krankenzimmer. Ich kniete nieder. Ich weiß nicht, wie lange der Eindruck, den dieser feierliche Akt auf mich machte, dauern wird; aber ich glaube nicht, daß mich bis zu meinem letzten Augenblicke irgendein Anblick so tief ergreifen wird.

Der Priester benetzte Hände, Füße und Stirn der Sterbenden mit dem heiligen Öl, sprach ein kurzes Gebet und Margarete war bereit, aus diesem Leben zu scheiden. Gott wird ihr gnädig sein, wegen der Prüfungen, die sie im Leben überstanden und wegen der Frömmigkeit, die sie im Tode bewiesen hat.

Seit jenem Augenblicke hat sie kein Wort mehr gesprochen und keine Bewegung mehr gemacht. Zwanzigmal würde ich sie für tot gehalten haben, wenn ich ihr schweres Atmen nicht gehört hätte.«

»20. Februar, 5 Uhr abends.

Es ist vorüber. Margarete hatte in dieser Nacht etwa um zwei Uhr ihren letzten Kampf zu bestehen. Das arme Mädchen muß in ihrer letzten Stunde schrecklich gelitten haben, denn ihr Angstgeschrei war herzzerreißend. Zwei- oder dreimal richtete sie sich im Bette auf, als ob sie das zu Gott entfliehende Leben hätte zurückhalten wollen.

Zwei- oder dreimal rief sie auch Ihren Namen, dann war alles still, sie sank erschöpft auf das Kissen zurück. Stille Tränen perlten aus ihren Augen und sie verschied.

Ich trat an das Bett und rief ihren Namen, und da sie mir nicht antwortete, drückte ich ihr die Augen zu und küßte sie auf die Stirn.

Arme, teure Margarete, ich hätte eine Heilige sein mögen, um durch diesen Kuß alle Deine Vergehen zu sühnen.

Dann kleidete ich sie an, wie sie es gewünscht hatte, holte einen Priester, zündete zwei Wachskerzen an und betete eine Stunde lang in der Kirche. Das wenige Geld, das ich vorfand, gab ich den Armen.

Ich weiß nicht viel von der Religion, aber ich glaube, der gütige Gott wird die Wahrheit meiner Tränen, die Inbrunst meines Gebetes und die Aufrichtigkeit meiner Almosen anerkennen; und ich hoffe, er wird sich der Verblichenen erbarmen, die in ihrer Jugend und Schönheit aus dem Leben geschieden ist und der nur eine Buhlerin die letzte Ehre erweisen wird.«

»22. Februar.

Heute hat das Begräbnis stattgefunden. Viele Freundinnen Margaretens waren in der Kirche. Einige weinten aufrichtige Tränen. Als sich der Leichenzug nach dem Friedhofe Père Lachaise in Bewegung setzte, schlossen sich demselben nur zwei Männer an: der Graf von G***, der in dieser Absicht von London herübergekommen war und der alte Herzog, der sich von zwei Dienern führen ließ.

Ich schreibe Ihnen dies in Margaretens Wohnung, mitten in meinen Tränen und vor einer düster brennenden Lampe. Da ich seit länger als vierundzwanzig Stunden keinen Bissen gegessen hatte, so ließ mir Nanine ein Diner bringen, aber Sie können leicht denken, daß ich es nicht anrührte.

Diese traurigen Eindrücke werden nicht lange dauern, denn ich habe so wenig über mein Leben zu gebieten, wie Margarete über das ihrige zu gebieten hatte; daher schreibe ich Ihnen dies alles an der Stelle, wo es sich ereignet hat: wenn zwischen diesen Vorfällen und Ihrer Rückkehr eine allzu lange Zeit verginge, so würde ich vielleicht nicht mehr imstande sein, sie Ihnen in all ihrer traurigen Genauigkeit mitzuteilen.«


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