Alexander Dumas Sohn
Die Dame mit den Kamelien
Alexander Dumas Sohn

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IX.

»Endlich,« rief Margarete, indem sie mich zärtlich umarmte. »Endlich bist Du da! Aber wie blaß Du bist!« setzte sie, mich ansehend, hinzu.

Ich erzählte ihr den Auftritt, den ich mit meinem Vater gehabt hatte.

»Ach! mein Gott, ich dachte es wohl,« sagte sie. »Als uns Josef die Ankunft Deines Vaters meldete, erschrak ich wie bei einer Unglücksnachricht. Armer Freund! Und ich bin die Ursache aller dieser Verdrießlichkeiten. Du würdest vielleicht besser tun, mich zu verlassen, als Dich mit Deinem Vater zu entzweien. Ich habe ihm aber doch nichts getan. Wir haben ganz ruhig gelebt und werden künftig noch ruhiger leben. Er weiß wohl, daß Du eine Geliebte haben mußt, und er sollte sich glücklich schätzen, daß ich es bin, weil ich Dich aufrichtig liebe und mich mit dem begnüge, was Du für mich tun kannst ... Hast Du ihm gesagt, was wir uns für die Zukunft vorgenommen haben?«

»Ja, und eben das hat ihn am meisten erzürnt, denn er hat in diesem Entschlusse den Beweis unserer gegenseitigen Liebe gesehen.«

»Was ist also zu tun?«

»Wir bleiben beisammen, teuerste Margarete, und lassen das Ungewitter vorüberziehen.«

»Glaubst Du, daß es vorüberziehen wird?«

»Es muß wohl.«

»Aber Dein Vater wird es nicht dabei bewenden lassen.«

»Was soll er denn tun?«

»Was weiß ich? Alles, was ein Vater tun kann, um seinen Sohn zum Gehorsam zu bewegen. Er wird Dich wegen meiner Vergangenheit beschämen, und mir die Ehre erweisen und Geschichten erfinden, um Dich von mir zu trennen.«

»Du weißt ja, daß ich Dich lieb ...e«

»Ja wohl, aber ich weiß auch, daß Du Deinem Vater früher oder später gehorchen mußt und daß Du Dich am Ende vielleicht überzeugst, daß er recht hat.«

»Nein, Margarete, ich werde ihn überzeugen, daß er unrecht hat. Sein jetziger Zorn ist nur aus den Ohrenbläsereien einiger Freunde entstanden; aber er ist gut, er ist gerecht und billigdenkend, und er wird auf seinen früheren Anforderungen nicht bestehen. Und was liegt mir im Grunde daran!«

»Sage das nicht, Armand, ich würde Dir lieber entsagen, als für die Ursache eines Zerwürfnisses mit Deinem Vater gehalten werden. Lass' diesen Tag vergehen und morgen kehre nach Paris zurück. Dein Vater wird dann die Sache reiflicher erwogen haben, Du wirst mit kälterem Blute überlegt haben, und vielleicht werdet Ihr Euch besser verständigen. Tritt seinen Grundsätzen nicht verletzend entgegen, gib Dir das Ansehen, als ob Du seinen Wünschen einige Zugeständnisse machtest, und nicht mit so inniger Liebe an mir hingest, und er wird die Sache so lassen, wie sie ist. Hoffe, lieber Armand, und sei überzeugt, daß Deine Margarete Dir bleiben wird, was sich auch zutragen mag.«

»Du schwörst mir's?«

»Du böser Mensch! wozu bedarf es denn eines Schwures?«

Wie süß ist es doch, sich durch eine geliebte Stimme beruhigen zu lassen! Margarete und ich teilten uns wiederholt unsere Entwürfe mit und waren so eifrig damit beschäftigt, als ob wir die Notwendigkeit, dieselben in kürzester Frist auszuführen erkannt hätten. Wir waren jeden Augenblick auf ein Ereignis gefaßt, aber glücklicherweise verging der Tag, ohne etwas neues zu bringen.

Es wurde noch einmal verabredet, daß ich am folgenden Tage meinen Vater in Paris wieder sehen sollte.

Am folgenden Tage reiste ich um zehn Uhr ab, und erreichte gegen Mittag das Hotel de Paris.

Mein Vater war schon ausgegangen.

Ich begab mich in meine Wohnung, wo ich ihn zu finden hoffte. Es war niemand dagewesen. Ich ging zu meinem Notar. Auch dort war niemand. Ich kehrte in das Hotel zurück und wartete bis sechs Uhr. Herr Duval erschien nicht.

Ich machte mich wieder auf den Weg nach Bougival. Margarete erwartete mich nicht, wie Tags vorher, am Fenster, sondern sie saß am Kaminfeuer, das die herbstliche Abendkühle schon notwendig machte.

Sie war in ihre Betrachtungen so vertieft, daß ich an ihren Sessel trat, ohne daß sie mich hörte. Als ich sie auf die Stirn küßte, schrak sie zusammen, als ob dieser Kuß sie im Schlaf gestört hätte.

»Du hast mir Angst gemacht,« sagte sie, sich umwendend. »Und Dein Vater? ...«

»Ich habe ihn nicht gesehen. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich habe ihn weder in seiner Wohnung noch an einem anderen Orte, wo ich ihn vermuten konnte, gefunden.«

»Nun, dann mußt Du Deine Nachforschungen morgen wieder anfangen,« sagte Margarete.

»Ich habe wirklich Lust zu warten, bis er mich rufen läßt,« erwiderte ich. »Ich glaube alles getan zu haben, was ich mußte.«

»Nein, lieber Armand, es ist noch keineswegs genug, Du mußt morgen – ganz besonders morgen – Deinen Vater wieder aufsuchen.«

»Warum denn gerade morgen?«

Margarete schien mir bei dieser Frage etwas zu erröten; sie erwiderte:

»Weil Du dadurch Dein Verlangen, ihn zu sehen, lebhaft zu erkennen geben und um so leichter seine Verzeihung erlangen wirst.«

Margarete war den ganzen Abend hindurch nachdenkend, zerstreut, niedergeschlagen. Ich war oft genötigt, eine Frage zweimal zu wiederholen, um eine Antwort zu erhalten. Sie schob diese Zerstreuung auf die Besorgnis, die ihr die letzten Ereignisse für die Zukunft einflößten.

Ich suchte sie so gut als möglich zu beruhigen, und am folgenden Morgen drang sie mit einer mir unerklärlichen Beharrlichkeit auf meine Abreise.

Wie Tags vorher war mein Vater abwesend; aber er hatte mir ein Billett folgenden Inhaltes zurückgelassen:

»Wenn Du heute wiederkommst, so erwarte mich bis vier Uhr; wenn ich um vier Uhr nicht da bin, so speise morgen mit mir, ich habe mit Dir zu reden.«

Ich wartete bis zur bestimmten Stunde. Mein Vater kam nicht. Ich kehrte nach Bougival zurück.

Tags vorher hatte ich Margarete zerstreut und niedergeschlagen gefunden, an diesem Tage fand ich sie fieberhaft aufgeregt. Als sie mich eintreten sah, fiel sie mir um den Hals und weinte lange in meinen Armen.

Ich drückte mein Befremden und meine Besorgnis über diesen plötzlichen Schmerz aus, aber sie gab mir keinen haltbaren Grund an: sie schützte vor, was jede Frau, welche die Wahrheit nicht sagen will, vorschützen kann.

Als sie etwas beruhigt war, erzählte ich ihr die Ergebnisse meiner Reise, zeigte ihr das kurze Schreiben meines Vaters und gab ihr zu bedenken, daß die an mich ergangene Einladung gewiß eine gute Vorbedeutung sei.

Als sie das Billett erblickte und meine an dasselbe geknüpften Bemerkungen hörte, brach sie wieder so heftig in Tränen aus, daß ich einen Nervenanfall fürchtete und Nanine herbeirief. Wir brachten das arme Mädchen ins Bett.

Margarete schluchzte immer fort, ohne ein Wort zu sagen, aber sie hielt beständig meine Hände gefaßt und bedeckte sie mit Küssen und Tränen.

Ich fragte Nanine, ob Margarete während meiner Abwesenheit einen Brief oder einen Besuch erhalten habe, wodurch sie in diesen aufgeregten Zustand versetzt worden sei; aber die Zofe antwortete, es sei niemand da gewesen, und auch kein Brief angekommen.

Es war indessen seit dem gestrigen Tage etwas vorgegangen, was mich um so besorgter machte, da Margarete ein Geheimnis daraus machte.

Am späten Abend schien sie etwas ruhiger; sie wies mir einen Platz vor ihrem Bette an, und beteuerte mir wiederholt ihre Liebe. Dann lächelte sie mich an, aber dieses Lächeln war gar gezwungen, denn ihre Augen füllten sich unwillkürlich mit Tränen.

Ich bot alles auf, um ihr das Geständnis der wahren Ursache dieses Kummers zu entlocken, aber sie gab mir immer die vorigen unbestimmten Gründe an.

Endlich schlummerte sie ein, aber es war ein Schlaf, der mehr erschöpft als stärkt. Von Zeit zu Zeit fuhr sie mit einem Schrei auf, und nachdem sie sich überzeugt hatte, daß ich bei ihr war, küßte sie mich und ließ sich beteuern, daß ich sie stets lieben wolle.

Diese in kurzen Zwischenräumen folgenden Aufwallungen des Gefühles dauerten bis gegen Morgen; dann fiel Margarete in eine Art Betäubung. Sie hatte in zwei Nächten nicht geschlafen.

Diese Ruhe war indessen nicht von langer Dauer. Gegen zehn Uhr erwachte Margarete. Sie sah mich an und rief:

»Willst Du denn schon gehen?«

»Nein, Margarete,« erwiderte ich, ihre Hände fassend; »aber ich wollte Dich schlafen lassen. Es ist noch früh.«

»Wann gehst Du nach Paris?« fragte sie.

»Um vier Uhr.«

»So früh! Bis dahin bleibst Du noch bei mir, nicht wahr?«

»Allerdings, ich bin ja immer bei Dir.«

»Welch ein Glück!«

Ich glaubte wirklich, Margarete würde den Verstand verlieren, und sah sie mit ängstlicher Besorgnis an.

»Wir frühstücken doch miteinander?« fragte sie mit zerstreuter Miene.

»Wenn Du willst.«

»Und bis zu Deiner Abreise wirst Du mich noch recht oft küssen?«

»Ja, und ich werde so bald als möglich wieder kommen.«

»Du wirst wieder kommen?« sagte sie, indem sie mich mit irren Blicken anstarrte.

»Natürlich.«

»Ja, ja, es ist richtig, Du wirst diesen Abend wiederkommen, und ich werde Dich erwarten, wie gewöhnlich, und Du wirst mich lieben, und wir werden glücklich sein, wie wir es sind, seit wir uns kennen.«

Alle diese Worte wurden in einem so hastigen, abgebrochenen Tone gesprochen, und sie schienen einen so peinlichen Gedanken zu verbergen, daß ich jeden Augenblick zitterte, Margarete den Verstand verlieren zu sehen.

»Höre,« sagte ich zu ihr, »Du bist krank und ich kann Dich so nicht allein lassen. Ich will an meinen Vater schreiben, daß er mich nicht erwarte.«

»Nein, nein!« rief Margarete hastig, »tue das nicht. Dein Vater würde sagen, ich verhindere Dich, zu ihm zu gehen, wenn er Dich sehen will. Nein, nein! Du mußt gehen, Du mußt! Überdies bin ich ja nicht krank, ich befinde mich sehr wohl, ich habe nur einen üblen Traum gehabt und ich bin nicht gut erwacht; weiter ist es nichts.«

Von jenem Augenblicke an versuchte Margarete heiterer zu scheinen. Sie weinte nicht mehr; aber ich beobachtete diese scheinbare Ruhe und bemerkte von Zeit zu Zeit ein krampfhaftes, vergebens zurückgehaltenes Schluchzen, das ihr das Herz zersprengen zu wollen schien.

Als die Scheidestunde kam, küßte ich Margarete und fragte, ob sie mich zur Eisenbahn begleiten wolle; ich hoffte der Spaziergang werde sie zerstreuen und beruhigen, und zugleich wollte ich so lange als möglich bei ihr sein.

Sie nahm den Vorschlag an, nahm einen Mantel und begleitete mich mit Nanine, um den Rückweg nicht allein machen zu müssen.

Zwanzigmal war ich im Begriffe nicht abzureisen; aber die Aussicht auf baldige Rückkehr und die Besorgnis, meinen Vater von neuem gegen mich aufzubringen, bewogen mich, meinen ersten Entschluß durchzusetzen, und ich fuhr mit dem ersten Wagenzuge ab.

»Diesen Abend sehen wir uns wieder,« sagte ich, Margaretens Hand zum Abschiede drückend.

Sie antwortete mir nicht.

Sie hatte mir schon einmal auf dieselben Worte nicht geantwortet. Sie erinnern sich an die Ursache jenes Stillschweigens; aber jene Zeit war so fern, daß sie meinem Gedächtnis entrückt zu sein schien. Ich war besorgt; aber daß Margarete mich noch täuschen könne, kam mir nicht in den Sinn.

Sobald ich in Paris ankam, eilte ich zu Prudence, die ich bitten wollte, Margarete zu besuchen; denn ich hoffte, daß sie meine Geliebte mit ihrer unverwüstlichen Heiterkeit und ihrem unerschöpflichen Witz zerstreuen würde.

Ich trat ein, ohne mich melden zu lassen, und fand Prudence bei der Toilette.

»Ach, Sie sind's!« sagte sie mit unruhiger Miene zu mir.

»Ja wohl. Sie wundern sich?«

»Keineswegs,« stammelte Prudence. »Ist Margarete bei Ihnen?«

»Nein.«

»Wie geht's ihr?«

»Sie ist leidend.«

»Wird sie nicht kommen?« fragte Prudence mit steigender Unruhe.

»Sollte sie denn kommen?« fragte ich.

Madame Duvernoy errötete und antwortete mit einiger Verlegenheit:

»Ich meinte, da Sie in Paris sind, würde Margarete Sie vielleicht abholen.«

»Nein.«

Ich sah Prudence scharf an, sie schlug die Augen nieder, und ich glaubte in ihrem Gesichte die Besorgnis zu lesen, daß mein Besuch zu lange dauern würde.

»Ich wollte Sie sogar bitten, liebe Prudence, Margarete diesen Abend zu besuchen,« erwiderte ich. »Wenn es Ihre Zeit erlaubt, könnten Sie ihr Gesellschaft leisten und in Bougival übernachten. Ich habe Margarete noch nie in einer solchen Stimmung gesehen wie heute, und ich fürchte, daß sie krank wird.«

»Armer Junge,« sagte Prudence leise. – »Ich bin heute zum Diner eingeladen,« setzte sie laut hinzu, »und kann daher Margarete diesen Abend nicht besuchen; aber morgen werde ich kommen.«

Ich verließ Madame Duvernoy, die mir fast eben so nachdenkend und zerstreut schien wie Margarete und begab mich zu meinem Vater, dessen erster Blick sich forschend auf mich richtete.

Er reichte mir die Hand und sagte zu mir:

»Deine beiden Besuche haben mir Freude gemacht, Armand, und ich habe mich der Hoffnung hingegeben, daß Du die Sache reiflich erwogen hast, so wie ich dieselbe in Erwägung gezogen habe.«

»Darf ich fragen, lieber Vater, zu welchem Resultat Sie gekommen sind?«

»Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß ich den von anderen erhaltenen Nachrichten allzu große Wichtigkeit beigelegt habe, und ich habe mir vorgenommen, minder streng mit Dir zu sein.«

»Was sagen Sie, lieber Vater?« rief ich voll Freude.

»Ich sage, lieber Junge, daß man in Deinem Alter immer eine Geliebte zu haben pflegt und daß es mir nach den neuen Erkundigungen, die ich eingezogen, lieber ist, wenn Mademoiselle Gautier Deine Geliebte bleibt, als wenn Du Dir eine andere wählst. Man hat mir versichert, daß sie mehr Herz und Gefühl besitzt, als man sonst bei Mädchen dieser Art findet.«

»Lieber, guter Vater! Wie glücklich machen Sie mich!« rief ich.

Wir sprachen noch eine Weile, dann setzten wir uns zu Tisch. Mein Vater war die Güte und Freundlichkeit selbst.

Ich sehnte mich nach Bougival zurück, um Margarete seine veränderte Stimmung zu erzählen. Mein Vater bemerkte, daß ich die Pendule fast beständig in Augen hatte.

»Du siehst nach der Uhr,« sagte er zu mir; »die Zeit dauert Dir zu lange bei mir; o Ihr jungen Leute! Ihr seid immer bereit, die aufrichtige Zuneigung einem zweifelhaften Gefühle zu opfern!«

»Sagen Sie das nicht, Vater; Margarete liebt mich aufrichtig, das weiß ich gewiß,«

Mein Vater gab keine Antwort; er schien weder zu zweifeln noch zu glauben.

Er wollte durchaus, daß ich den ganzen Abend bei ihm bleiben und erst am folgenden Tage nach Bougival zurückkehren sollte; aber ich erzählte ihm, daß Margarete beim Abschiede leidend gewesen sei, und bat ihn um Erlaubnis, frühzeitig wieder abzureisen. Ich versprach ihm, am folgenden Tage wieder zu kommen.

Das Wetter war schön; er erbot sich, mich bis zum Bahnhofe zu begleiten. Noch nie war ich so glücklich gewesen wie an jenem Abende. Die Zukunft schien mir, so wie ich sie seit langer Zeit zu sehen gewünscht hatte, und ich liebte meinen Vater, wie ich ihn noch nie geliebt hatte.

In dem Augenblicke, wo ich in den Wagen steigen wollte, suchte er mich noch einmal zum Bleiben zu überreden; ich schlug es ihm ab.

»Du liebst sie also wirklich?« fragte mein Vater.

»Zum Rasendwerden,« erwiderte ich.

»Nun, so geh!«

Und er strich mit der Hand über die Stirn, als ob er sich eines Gedankens hätte erwehren wollen; dann schien er mir noch etwas sagen zu wollen, aber er drückte mir die Hand, wendete sich schnell ab und rief mir zu:

»Auf morgen also!«


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