Alexander Dumas Sohn
Die Dame mit den Kamelien
Alexander Dumas Sohn

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X.

Es schien mir, als ob der Zug nicht von der Stelle käme.

Um elf Uhr war ich in Bougival. Als ich Margaretens Haus erblickte, wurde ich von einem eisigen Schauer befallen. Nicht ein einziges Fenster war hell und ich zog die Glocke, ohne daß ich eine Antwort erhielt.

So etwas war mir noch nie widerfahren.

Endlich erschien der Gärtner. Ich eilte in das Haus, überall herrschte eine Grabesstille.

Nanine kam mit einem Lichte.

Ich trat in Margaretens Zimmer. Es war leer.

»Wo ist Madame?« fragte ich erblassend, denn ich fürchtete ein Unglück, ohne mir selbst von meinen trüben Ahnungen Rechenschaft geben zu können.

»Madame ist nach Paris gegangen,« antwortete mir Nanine.

»Nach Paris? Wann ist sie fortgegangen?«

»Eine Stunde nach Ihnen.«

»Hat sie nichts für mich zurückgelassen?«

»Nein.«

»Das ist sonderbar! ... Hat sie gesagt, man sollte sie erwarten?«

»Sie hat gar nichts gesagt.«

»Sie wird ohne Zweifel zurückkommen,« sagte ich, indem ich der Zofe einen Wink gab, sich zu entfernen.

»Sie ist vielleicht argwöhnisch,« dachte ich, »und ist nach Paris gegangen, um sich zu überzeugen, ob der Besuch bei meinem Vater nicht ein Vorwand war, um einen Tag der Freiheit zu genießen ... Vielleicht hat ihr Prudene in einer wichtigen Angelegenheit geschrieben.«

Aber ich hatte Prudence bei meiner Ankunft gesehen, und sie hatte mir nichts von einem Schreiben an Margarete gesagt.

Plötzlich erinnerte ich mich an die Frage der Duvernoy: »Sie wird also heute nicht kommen?« als ich ihr sagte, daß Margarete unpäßlich sei.

Ich erinnerte mich zugleich an Prudences Verlegenheit, als ich sie nach jenen Worten, die ein Stelldichein zu verraten schienen, angesehen hatte. Dazu kamen die Tränen, die Margarete in meiner Gegenwart vergossen hatte und die ich über der liebevollen Aufnahme, die ich bei meinem Vater gefunden, beinahe vergessen hatte.

Von jenem Augenblicke an gruppierten sich alle Ereignisse des Tages um meinen ersten Verdacht und bestärkten mich in demselben so sehr, daß ich sogar in der Güte und Nachsicht meines Vaters eine Bestätigung meiner Vermutungen fand.

Margarete hatte meine Rückkehr nach Paris beinahe gebieterisch gefordert; sie hatte sich ruhig und gefaßt gestellt, als ich ihr vorgeschlagen hatte, bei ihr zu bleiben. War ich in eine meiner Arglosigkeit gestellte Falle geraten? Betrog mich Margarete? Hatte sie sich vorgenommen zeitig genug zurückzukehren, um ihre Abwesenheit vor mir geheim zu halten, und war sie vielleicht durch einen Zufall zurückgehalten worden? Warum hatte sie nichts zu Nanine gesagt, oder warum hatte sie mir nichts geschrieben? Was bedeuteten die Tränen, die Abwesenheit, die Geheimniskrämerei?

Diese Fragen legte ich mir in einem fürchterlich aufgeregten Gemütszustande vor. Ich saß allein in dem leeren, einsamen Zimmer und starrte die Pendule an, die auf Mitternacht zeigte und mir anzudeuten schien, daß es zu spät sei, um die Rückkehr meiner Geliebten noch erwarte zu können.

Nach den Vorkehrungen, die wir erst unlängst getroffen hatten, und bei dem Opfer, das mir Margarete immerfort brachte, war es so unwahrscheinlich, daß Margarete mich täuschte, daß ich mir meine ersten Vermutungen aus dem Sinne zu schlagen suchte.

»Das arme Mädchen wird einen Käufer für ihre Möbel gefunden haben,« sagte ich zu mir, »und sie wird nach Paris gegangen sein, um den Kauf abzuschließen. Sie wird mir das verschwiegen haben, um mir keinen Schmerz zu machen, denn sie weiß wohl, daß dieser Verkauf, wie notwendig er auch zu unserem Glücke, sehr peinlich für mich ist, und sie wird gefürchtet haben, durch Erwähnung dieser Angelegenheit meine Eigenliebe zu verletzen. Sie zieht es vor, erst nach dem Abschlusse des Handels wieder zu erscheinen. Prudence erwartete sie ohne Zweifel in dieser Absicht, und sie hat sich gegen mich verraten. Margarete hat wahrscheinlich den Kauf heute nicht abschließen können, und sie übernachtet in Paris, oder vielleicht wird sie sogleich zurückkommen, denn sie kann wohl denken, wie sehr ich in Sorgen bin und wird mich gewiß nicht in dieser peinlichen Ungewißheit lassen.«

»Aber woher denn die Tränen? Das arme Mädchen hat sich gewiß, trotz ihrer Liebe zu mir, nicht entschließen können, ohne Tränen jenen Prunk hinzugeben, in welchem sie bis jetzt ein glückliches, vielbeneidetes Leben geführt hat.«

Diese trübe Stimmung verzieh ich Margarete sehr gern, und indem ich mich in diesen Gedanken immer mehr zu bestärken suchte, erwartete ich ungeduldig meine Geliebte, um ihr mit zärtlichen Küssen zu sagen, daß ich die Ursache ihrer rätselhaften Abwesenheit erraten.

Inzwischen rückte die Nacht vor, und Margarete kam nicht. Meine Unruhe wurde größer. Vielleicht war ihr etwas Unangenehmes begegnet? Vielleicht hatte sie Schaden genommen, oder war sie krank, vielleicht gar tot? Vielleicht sollte ich bald einen Boten kommen sehen mit einer traurigen Nachricht? Vielleicht würde mich der Tagesanbruch noch in derselben Ungewißheit und Besorgnis finden?

Daß Margarete mich betrügen könne zu der Stunde, wo ich sie so sehnsuchts- und sorgenvoll erwartete, kam mir nicht mehr in den Sinn. Nur eine von ihrem Wollen abhängige Ursache konnte sie auf diese Weise fern von mir zurückhalten, und je länger ich darüber nachsann, desto mehr war ich überzeugt, die Ursache könne nichts anderes sein als ein Unglück. Die Eitelkeit der Männer zeigt sich doch unter allen Gestalten!

Es schlug ein Uhr. Ich nahm mir vor, noch eine Stunde zu warten, aber um zwei Uhr wollte ich nach Paris gehen, um meiner Unruhe ein Ende zu machen.

Unterdessen sah ich mich nach einem Buche um, denn ich suchte meinen Gedanken zu entfliehen.

»Manon Lescaut« lag auf dem Tische. Ich schlug das Buch auf. Es kam mir vor, als ob die Blätter hier und dort wie von Tränen benetzt wären. Nachdem ich einige Seiten flüchtig gelesen hatte, legte ich das Buch weg, die Worte erschienen mir durch den Schleier meiner Zweifel ohne Sinn und Bedeutung.

Die Stunde verstrich unausstehlich langsam. Der Himmel war bewölkt. Ein feiner Herbstregen schlug gegen die Fenster. Alles war düster um mich her. Das leere Bett schien mir von Zeit zu Zeit das Aussehen eines Grabes anzunehmen. Ich fürchtete mich beinahe.

Ich öffnete die Tür und horchte; aber ich hörte nichts, als das Brausen des Windes in den Bäumen. Kein Wagen fuhr auf der Straße vorüber. Auf dem Kirchturme schlug es halb zwei. Ich fing an zu fürchten, es könne jemand kommen, denn es schien mir, als ob zu dieser Stunde und in diesem düsteren Wetter nur ein Unglücksbote kommen könnte.

Es schlug zwei. Eine kleine Weile wartete ich noch. Die Tischuhr allein unterbrach die Totenstille mit ihren eintönigen, gemessenen Pendelschlägen.

Endlich verließ ich das Zimmer, in welchem die geringsten Gegenstände jenes trübe Aussehen angenommen hatten, welches die bange Herzenseinsamkeit überall findet.

In dem Nebenzimmer fand ich Nanine, die bei ihrer Arbeit eingeschlafen war. Bei dem Geräusche der aufgehenden Tür erwachte sie und fragte mich, ob Margarete wieder da sei.

»Nein, aber wenn sie kommt,« erwiderte ich, »so sage ihr, ich könne meine Unruhe nicht langer bewältigen, und sei nach Paris gegangen.«

»Jetzt wollen Sie nach Paris?«

»Ja ...«

»Aber wie wollen Sie dahin kommen? Es ist jetzt kein Wagen zu bekommen.«

»Ich gehe zu Fuß.«

»Aber es regnet.«

»Was liegt daran.«

»Madame wird gewiß bald zurückkommen, oder wenn sie nicht zurückkommt, so ist es ja am Tage noch immer Zeit nachzusehen, was sie in Paris zurückgehalten hat. Es ist gefährlich, in der Nacht den Weg zu machen.«

»Es hat keine Gefahr, liebe Nanine ... Adieu, morgen komme ich zurück.«

Das brave Mädchen holte mir einen Mantel, warf mir ihn über die Schultern und erbot sich zu der Witwe Arnould zu gehen und sich zu erkundigen, ob ein Wagen zu haben sei; aber ich gab es nicht zu, denn ich war überzeugt, daß ich bei diesem vielleicht fruchtlosen Versuche mehr Zeit verlieren würde, als ich brauchte, um die Hälfte des Weges zurückzulegen.

Überdies bedurfte ich der freien Luft und einer körperlichen Anstrengung, um mich gegen die auf mich einstürmenden peinlichen Eindrücke abzustumpfen.

Ich nahm den Schlüssel zu der Wohnung in der Rue d'Antin, und nachdem ich Nanine, die mich bis an das Gittertor begleitete, Lebewohl gesagt hatte, machte ich mich auf den Weg.

Zuerst fing ich an zu laufen, aber die Erde war vom Regen erweicht, und ich erschöpfte meine Kräfte. Nach einer halben Stunde mußte ich stehen bleiben, ich war in Schweiß gebadet. Ich schöpfte Atem und setzte meinen Weg fort. Die Nacht war so finster, daß ich jeden Augenblick fürchtete, gegen einen der am Wege stehenden Bäume zu stoßen, die mir plötzlich wie riesige Gespenster vor die Augen traten.

Ich holte einige Karren ein, die ich bald weit zurückließ. Eine Kalesche fuhr im raschen Trabe in der Richtung gegen Bougival. In dem Augenblicke, als sie an mir vorüberfuhr, kam mir der Gedanke, Margarete könne darin sitzen.

Ich stand daher still und rief: »Margarete!« Aber niemand antwortete mir, und die Kalesche setzte ihren Weg fort. Ich sah ihr eine Weile nach und ging dann weiter.

Ich brauchte zwei Stunden bis zur Barrière de l'Etoile.

Der Anblick von Paris gab mir einige Kraft wieder und ich eilte mit schnellen Schritten durch die lange Allee, die ich so oft durchwandert hatte, um Margarete zu begegnen.

Der Tag fing eben an zu grauen und kein Mensch begegnete mir. Man hätte den prächtigen Baumgang für den Spaziergang einer ausgestorbenen Stadt halten können.

Als ich in die Rue d'Antin kam, begann die Riesenstadt sich etwas zu regen, bevor sie völlig wieder zum Leben erwachte.

Es schlug fünf auf der St. Rochuskirche, als ich in Margaretens Haus trat.

Ich nannte meinen Namen. Der Hausmeister hatte genug Zweifranksstücke von mir erhalten, um zu wissen, daß ich ein Recht hatte, zu jeder Stunde bei Mademoiselle Gautier zu erscheinen. Ich ging ungehindert an dem Fenster des Zerberus vorüber.

Ich hätte ihn fragen können, ob Margarete zu Hause sei, aber er hätte meine Frage vielleicht verneinend beantwortet, und ich wollte lieber einige Minuten länger im Zweifel bleiben, denn indem ich zweifelte, blieb mir noch einige Hoffnung.

Ich ging hinauf. Ich blieb lauschend an der Tür stehen – kein Geräusch, keine Bewegung war zu vernehmen. Die ländliche Stille schien sich bis auf diese Prunkgemächer zu erstrecken.

Ich schloß die Tür auf und trat ein.

Alle Vorhänge waren hermetisch verschlossen. Ich zog die Vorhänge des Speisezimmers auf und öffnete hastig die Tür des Schlafgemaches. Kaum war ich eingetreten, so eilte ich ans Fenster und zog auch hier mit fieberhafter Ungeduld den Vorhang auf.

Ein mattes Licht drang in das Fenster. Ich eilte zum Bett – es war leer. Ich öffnete die Türen und eilte durch alle Zimmer. Niemand war da. Es war zum Rasendwerden.

Ich ging in das Toilettezimmer, öffnete das Fenster und rief Prudence zu wiederholtenmalen.

Das Fenster der Duvernoy blieb geschlossen.

Dann ging ich hinunter zu dem Hausmeister und fragte, ob Mademoiselle Gautier am gestrigen Tage da gewesen sei.

»Ja,« antwortete er, »sie ist mit Madame Duvernoy dagewesen.«

»Hat sie keine Nachricht für mich hinterlassen?«

»Nein.«

»Wissen Sie, was die beiden Frauen nachher getan haben?«

»Sie sind in einen Wagen gestiegen.«

»In was für einen Wagen?«

»In eine Herrschaftskutsche.«

Was hat das zu bedeuten? Ich eilte an das Nachbarhaus und zog die Glocke.

»Zu wem wollen Sie?« fragte mich der Hausmeister, nachdem er geöffnet hatte.

»Zu Madame Duvernoy.«

»Sie ist nicht nach Hause gekommen.«

»Wissen Sie das gewiß?«

»Ja wohl, Monsieur, denn ich habe hier einen Brief, der gestern Abend hier abgegeben wurde und den ich ihr noch nicht übergeben konnte.«

Der Hausmeister zeigte mir einen Brief, auf den ich instinktmäßig einen Blick warf.

Ich glaubte Margaretens Hand zu erkennen.

Ich nahm den Brief. Ich hatte mich nicht geirrt, die Adresse enthielt sogar folgende Worte:

»An Madame Duvernoy, für Herrn Armand Duval.«

»Dieser Brief ist an mich,« sagte ich zu dem Hausmeister, indem ich ihm die Adresse zeigte.

»Sind Sie Herr Duval?« fragte er.

»Ja.«

»Ach! ich erkenne Sie, Sie kommen oft zu Madame Duvernoy.«

Ich gab ihm keine Antwort und entfernte mich.

Sobald ich auf der Straße war, erbrach ich das Siegel und las den Brief.

Wenn der Blitz zu meinen Füßen eingeschlagen hätte, so würde ich nicht mehr erschrocken sein als durch diese Zeilen.

Der Brief lautete folgendermaßen:

»Wenn dieser Brief in Deine Hände kommt, bin ich die Geliebte eines anderen. Ich habe Dir diesen notwendigen Entschluß gestern nicht mitgeteilt, weil ich nicht den Mut dazu hatte und ein Wort von Dir genügend gewesen wäre, mich an der Ausführung eines Planes, von welchem Dein Glück abhängt, zu verhindern.

»Jetzt sind wir auf immer geschieden. Du wirst gewiß sehr leiden, aber einigen Trost gewährt mir doch der Gedanke, daß Du nicht so viel leiden kannst, wie ich seit zwei Tagen gelitten habe.

»Lebe wohl, teurer Freund, ich fordere Deine Liebe nicht mehr, denn ich bin ihrer nicht mehr würdig; ich fordere Deine Freundschaft nicht mehr, denn Du würdest sie mir verweigern. Du wirst mich verachten; Du wirst mich hassen und mir vielleicht Böses tun. Ich verzeihe Dir im voraus, denn Du wirst einst einsehen, daß noch nie eine Geliebte, wie zärtlich sie auch dem Gegenstande ihrer Liebe zugetan war, für denselben getan hat, was ich heute für Dich tue.

»Geh zu Deinem Vater, lieber Armand. Seine Erfahrung wird Dich besser belehren, als ich es imstande bin und vielleicht wird er einst gütig genug sein, um das Opfer zu begreifen, das ich bringe und Dich zur Verzeihung bewegen.

»Begieb Dich zu Deiner Schwester, dem reinen keuschen Mädchen, das von all unserem Elende nichts weiß. Bei ihr wirst Du gar bald vergessen, was Du um die unglückliche Margarete Gautier erduldet, die Dir die einzigen glücklichen Augenblicke eines gewiß nicht mehr langen Lebens verdankt.«

Als ich das letzte Wort gelesen hatte, glaubte ich den Verstand zu verlieren.

Einen Augenblick fürchtete ich wirklich, auf das Straßenpflaster zu fallen. Eine Wolke kam mir vor die Augen, das Blut schlug mir in den Schläfen und alle Gegenstände schienen sich im Kreise um mich zu drehen.

Endlich vermochte ich mich etwas zu fassen, ich blickte um mich und sah, wie das beginnende rege Leben der Hauptstadt teilnahmslos an meinem Unglück blieb. Ich war nicht stark genug, um den schmerzlichen Schlag, der mich getroffen, allein zu ertragen.

Da fiel mir ein, daß mein Vater in der Nähe war, daß ich in zehn Minuten bei ihm sein konnte, und daß er meinen Schmerz, ohne Rücksicht auf die Ursache desselben, teilen werde.

Ich eilte zum Hotel de Paris; der Schlüssel steckte in der Zimmertür meines Vaters. Ich trat ein.

Er las. Er war über mein Erscheinen so wenig erstaunt, daß man hätte glauben können, er habe mich erwartet.

Ich sank in seine Arme ohne ein Wort zu sagen und gab ihm den Brief Margaretens. Dann sank ich vor seinem Bett nieder und brach in Tränen aus.


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