Alexander Dumas Sohn
Die Dame mit den Kamelien
Alexander Dumas Sohn

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III.

Am 16. um 1 Uhr begab ich mich in die Rue d'Antin. Schon auf der Treppe hörte man die laut rufende Stimme der Schätzmeister. Ich eilte in das Zimmer, wo die Versteigerung abgehalten wurde, denn ich wollte etwas haben, das Margareten gehört hatte.

Das Zimmer war voll von Kauflustigen und Neugierigen. Alle Zelebritäten der lasterhaften Modewelt waren dort versammelt und wurden mit finsteren Blicken gemessen von einigen vornehmen Damen, welche die Versteigerung als Vorwand genommen hatten, um Personen, mit denen sie sonst nie zusammentrafen, und deren Freiheit und Genüsse sie vielleicht im Stillen beneideten, in der Nähe zu sehen.

Die Herzogin von F*** stand neben Mademoiselle M***, einem der beklagenswertesten Exemplare unserer modernen Buhlerinnen; die Marquise von T*** trug einiges Bedenken, ein Einrichtungsstück zu kaufen, dessen Preis von Madame D***, der stadtkundigsten Sünderin unserer Zeit, hinaufgetrieben wurde; der Herzog von I***, von dem man in Madrid glaubte, er ruiniere sich in Paris, und der nicht einmal seine Einkünfte verbrauchte, plauderte mit Madame M***, einem der geistreichsten Blaustrümpfe, und wechselte zugleich vertrauliche Blicke mit Madame de N***, die eine der elegantesten Equipagen besitzt und ihre beiden stattlichen Rappen um zehntausend Franks nicht nur gekauft, sondern auch wirklich bezahlt hat; endlich war Mademoiselle F***, deren Talent doppelt so viel einträgt als die Mitgift mancher vornehmen Dame und dreimal mehr als die Liebesgunst einer gefeierten Schönheit, trotz der Kälte gekommen, um einige Einkäufe zu machen, und sie war keineswegs unter denen, die am wenigsten angeschaut wurden.

Wir könnten noch die Anfangsbuchstaben vieler in diesem Salon versammelten Personen anführen, die über ihr Zusammentreffen verwundert waren, aber wir würden fürchten, den Leser zu ermüden. Kurz, es herrschte unter allen, vornehmen Damen wie eleganten Buhlerinnen, eine an Ausgelassenheit grenzende Heiterkeit; viele unter den Anwesenden hatten Margarete gekannt, aber keine schien sich dessen zu erinnern.

Man lachte viel, die Auktionskommissäre schrien aus Leibeskräften: die Handelsleute, welche die vor dem Verkaufstische aufgestellten Bänke eingenommen hatten, versuchten vergebens, Ruhe zu gebieten, um ungestört ihre Geschäfte abtun zu können. Kurz, es war eine sehr geräuschvolle Versammlung.

Ich schlich mich in aller Stille unter den lärmenden Haufen. Das Geräusch machte einen peinlichen Eindruck auf mich, als ich bedachte, wie nahe das Sterbezimmer des armen Geschöpfes war, dessen Nachlaß man verkaufte, um die Gläubiger zu befriedigen. Ich war im Grunde weniger gekommen, um zu kaufen, als um zu beobachten und betrachtete die Gesichter der Lieferanten, die den Nachlaß versteigern ließen und deren Züge sich verklärten, so oft ein Gegenstand zu einem unerwartet hohen Preise hinaufgetrieben wurde.

Diese Menschen hatten auf die Sünden Margaretens spekuliert, und nachdem sie hundert Prozent von ihr verdient, hatten sie die Unglückliche in ihren letzten Augenblicken gerichtlich verfolgt. Nach ihrem Tode ernteten sie nun die Früchte ihrer Berechnungen und bezogen sogleich die Interessen ihres Kredits. Fürwahr, die Alten hatten Recht, daß sie die Kaufleute und die Diebe unter die Obhut Eines Gottes stellten.

Die Versteigerung wurde fortgesetzt. Kleider, Schals, Brillanten wurden mit unglaublicher Schnelligkeit verkauft; mir sagte nichts von dem allen zu und ich wartete noch immer.

Auf einmal hörte ich rufen: »Ein schön eingebundenes Buch, mit Goldschnitt, betitelt: ›Manon Lescaut‹, mit Randglossen – zwanzig Franks!«

»Zweiundzwanzig,« sagte eine Stimme nach einer ziemlich langen Pause.

»Fünfundzwanzig,« sagte ich.

»Fünfundzwanzig,« wiederholte der Auktionskommissär.

»Dreißig« bot der erste.

Ich hatte »Manon Lescaut« so oft gelesen, daß ich das Buch fast auswendig weiß und würde vielleicht nicht mehr geboten haben, wenn nicht der Auktionskommissär hinzugesetzt hätte:

»Ich wiederhole, daß das Buch mit Bleistift geschriebene Randglossen hat.«

Ich war neugierig, die Randglossen zu sehen und rief: »Fünfunddreißig Franks!« in einem Tone, der die Einschüchterung meines Gegners bezweckte.

»Vierzig,« bot dieser.

»Fünfzig!«

»Sechzig!«

»Hundert!« rief ich.

Wenn ich Effekt hätte machen wollen, so würde ich meine Absicht vollkommen erreicht haben, denn es entstand bei diesem Überbieten eine tiefe Stille, und man sah mich an, um zu wissen, wer auf das Buch so erpicht sei.

Der Ton, mit welchem ich mein letztes Wort sprach, schien meinen Gegner zu überzeugen, daß ich nicht ablassen würde, und er stand von einem Wettkampf ab, der doch nur dazu gedient haben würde, den Preis des Buches auf den zehnfachen Wert zu treiben. Er verbeugte sich gegen mich und sagte sehr artig, wenn auch etwas spät:

»Ich trete zurück.«

Da niemand mehr bot, so wurde mir das Buch zugeschlagen.

Da ich eine neue, für meine Börse sehr nachteilige Grille fürchtete, so gab ich meinen Namen an, ließ das Buch auf die Seite stellen und entfernte mich. Die Anwesenden mochten sich wohl wundern, in welcher Absicht ich ein Buch, das man überall um höchstens zehn Franks kaufen konnte, mit hundert Franks bezahlte.

Es wäre in der Tat sehr schwer gewesen, einen triftigen Grund für diesen Wunsch anzuführen. Ich war begierig, das Buch zu sehen, weil es mit Randglossen von Margaretens Hand versehen war und weil ich gern wissen wollte, was die jüngere Schwester zu der Lebensbeschreibung der älteren hätte beifügen können.

Eine Stunde nachher ließ ich das Buch holen. Auf der ersten Seite standen in zierlichen Schriftzügen die Worte:

»Manon à Marguerite. Humilité. Armand Duval.«

Was bedeutete das Wort »humilité«? Erkannte Manon, durch die Meinung des Gebers, Margaretens Überlegenheit in den Künsten der Galanterie, oder einen Vorzug des Herzens an?

Die letztere Deutung war die wahrscheinlichere, denn die erstere wäre nur eine ungebührliche Freimütigkeit gewesen, die niemand unterschrieben haben würde und die auch von Margareten, welche Meinung sie auch von sich selbst hatte, zurückgewiesen worden wäre.

Ich stellte diese Betrachtungen an, während ich das Buch durchblätterte, das offenbar viel gelesen worden war und hie und da einige mit Bleistift geschriebene, aber fast ganz verwischte Randglossen hatte. Es ergab sich für mich aus dem Buch nichts anderes, als daß Margarete von einem ihrer Verehrer für würdig gehalten worden war, Manon Lescaut zu verstehen, und daß sie an der Geschichte ihrer Vorgängerin genug Interesse gefunden hatte, um eine Zeit, die sie wenigstens auf eine einträglichere, wenn auch nicht nützlichere Weise hätte benützen können, zu Randglossen zu verwenden.

Ich ging wieder aus und beschäftigte mich erst am Abend beim Schlafengehen mit dem Buche.

Diese rührende Geschichte ist mir in ihren geringsten Einzelheiten bekannt, und dennoch werde ich durch dieselbe, so oft mir das Buch in die Hände fällt, dergestalt gefesselt, daß ich es aufschlage und zum hundertsten Male der Heldin des Abbé Prévost in ihren Verirrungen und auf ihrer Umkehr folge. Diese Heldin ist so wahr geschildert, daß es mir scheint, als ob ich sie gekannt hätte und unter den oben erwähnten Umständen erhielt diese Lektüre einen neuen Reiz durch den Vergleich, den man zwischen Manon und Margarete angestellt hatte,

»Manon Lescaut« ist ohne allen Zweifel das schönste Seelengemälde, das je ein Schriftsteller entworfen, die gründlichste Zergliederung der Leidenschaft, die ein Menschenkenner gemacht hat. Dieses Charakterbild ist durchaus wahr und treffend, und Manons Belehrung durch die Liebe ist nicht minder poetisch schön, als die Bekehrung der Magdalena durch den Glauben.

Ich habe oben gesagt, daß ich gegen Buhlerinnen voll Nachsicht bin; diese Nachsicht ist hauptsächlich durch das wiederholte Lesen dieses Buches entstanden. Den Nachkommen ist das Verdienst der Vorgängerin zugute gekommen, wie gar viele wirkliche Nachkommen aus den Verdiensten ihrer Vorfahren Nutzen ziehen; aber an dem Abende, wo ich Manons Geschichte noch einmal las und dabei an Margarete dachte, wurde meine Nachsicht wirklich zum Mitleid und beinahe zur Liebe gegen das arme verirrte Mädchen, aus deren Nachlaß ich dieses Buch hatte. Manon war freilich in einer Wüste, aber in den Armen eines Mannes gestorben, der sie mit aller Kraft seiner Seele liebte und der Verblichenen ein Grab grub, das er mit seinen Tränen benetzte und in welchem er beim Abschiede sein Herz zurückließ; Margarete hingegen, eine Sünderin wie Manon, und vielleicht bekehrt wie sie, war im Schoße eines prunkenden Luxus und in dem Bette ihrer Vergangenheit gestorben, aber auch mit verödetem Herzen – und ein verödetes Herz ist weit schrecklicher und erbarmungsloser als die Wüste, in welcher Manon begraben worden war.

Margarete hatte in der Tat nach der Versicherung einiger Freunde in den zwei Monaten ihres langsamen Schmerzenskampfes keinen wahren Trost gefunden.

Von Manon und Margarete wendeten sich meine Gedanken auf andere in der eleganten Welt bekannte Sünderinnen, die singend und tändelnd einem fast immer gleichen Ende entgegengingen. Die Unglücklichen! Wenn es unrecht ist, sie zu lieben, so kann man sie doch wenigstens beklagen. Man bedauert den Blinden, der nie das Tageslicht gesehen, den Tauben, der nie die Akkorde der Natur gehört hat, den Stummen, der nie imstande war, seinen Gefühlen eine Sprache zu verleihen – und unter dem Vorwande falscher Scham trägt man Bedenken, diese Blindheit des Herzens, diese Taubheit der Seele, dieses Verstummen des Gewissens zu beklagen, wodurch eine Verirrte jede Erkenntnis des Guten und Bösen verliert und unfähig wird, den Weg des Rechtes zu sehen, die Stimme des Herrn zu vernehmen und die reine Sprache der Liebe und des Glaubens zu sprechen.

Von Zeit zu Zeit aber hat die Welt das erbauliche Schauspiel der Bekehrung einer Verirrten. Gott scheint dadurch die Fehler der anderen sühnen zu wollen, gleichwie durch den Tod des Erlösers die Vergehen aller Menschen gesühnt wurden; und außer den Bekehrten, die ihnen als Beispiel leuchten, sendet er ihnen noch den Priester, der sie absolviert, und den Dichter, der sie verteidigt.

Man frage die Geistlichen in den Städten, und man wird hören, daß sie oft Sünderinnen, welche sie für den Himmel verloren geglaubt, als wahre Christinnen sterben sahen.

Unser großer Dichter Victor Hugo hat »Marion Delorme«, Alfred de Musset hat »Bernerette«, Alexander Dumas hat »Fernande« geschrieben; die Denker und Dichter aller Zeiten haben den Sünderinnen ihr Mitleid gezollt und zuweilen hat sie ein großer Mann durch seine Liebe und sogar durch seinen Namen wieder zu Ehren gebracht. Ich verweile absichtlich so lange bei diesem Gegenstande, denn unter meinen Lesern sind vielleicht schon viele im Begriff, dieses Buch wegzuwerfen, in welchem sie nur eine Verteidigung des glänzenden Lasters zu finden fürchten, und das jugendliche Alter des Verfassers wird ohne Zweifel zur Begründung dieser Besorgnis beitragen. Wer aber bloß durch diese Besorgnis zurückgehalten wird, möge nur getrost weiter lesen, diese Besorgnis wird bald verschwinden.

Jenen beklagenswerten weiblichen Wesen, die nicht durch ihre Erziehung den Pfad des Rechtes kennen gelernt haben, bahnt die Vorsehung fast immer zwei Wege, die sie dahin zurückführen. Diese Wege sind: der Schmerz und die Liebe. Diese Wege sind rauh und mühsam; jene Verirrten, welche sie betreten, finden viele Dornen, an denen sie sich die Füße verletzen, aber ihre Herzen reinigen sich. Sie lassen dem Gestrüpp und den Nesseln am Wege den prunkenden Schmuck des Lasters und gelangen schmucklos, aber gerechtfertigt vor dem Herrn, zum Ziele.

Wer ihnen dann auf diesem mühsamen Pfade begegnet, sollte sie ermutigen und anderen Verirrten als Beispiel aufstellen. Es ist nicht genug, beim Eintritt in das Leben zwei Wegweiser zu setzen, deren einer die Aufschrift: »Weg zum Guten«, der andere die Warnung: »Weg zum Verderben« führt, und denen, die den Lebensweg betreten, die Wahl zu lassen; man muß, wie Christus, Seitenpfade bahnen, die von dem letzteren Wege zu dem ersteren führen, und der Anfang dieser Pfade muß nicht zu mühsam scheinen.

Das herrliche Gleichnis vom verlorenen Sohne sollte jeden Christen zur Nachsicht und zur Verzeihung stimmen, Jesus war ja voll Liebe und Güte gegen die von den menschlichen Leidenschaften verletzten Gemüter, deren Wunden er so gern verband, indem er den heilenden Balsam aus den Wunden selbst nahm. Warum sollten wir strenger sein als unser großes Vorbild? Warum sollten wir hartnäckig festhalten an den Vorurteilen dieser Welt, die hart und lieblos urteilt, um für stark gehalten zu werden? Die Theorien Voltaires finden unter der jetzigen Generation glücklicherweise keinen Anklang mehr. Seit einer Reihe von Jahren haben die Bestrebungen der Menschen einen höheren Aufschwung, eine edlere Richtung genommen. Wir haben Glaubensboten, die lehren, leben und sterben, wie einst die Gefährten Christi, und auch in unserer Mitte hat man jetzt mehr Achtung vor dem Heiligen, als dies früher der Fall war. Kurz, die Welt fängt an besser zu werden. Die Bestrebungen aller intelligenten Menschen haben dasselbe Ziel, und jedermann kann durch Verzicht auf jede pharisäische Selbstsucht zum sittlichen wie zum gesellschaftlichen Fortschritte beitragen. Liegen doch in kleinen, scheinbar bedeutungslosen Dingen die Keime zu dem Größten und Erhabensten. Das Kind ist ein schwaches, hilfloses Wesen, und aus ihm geht der starke Mann hervor; das Gehirn ist von engen Schranken eingeschlossen, und es ist der Stolz des Lebens und des Gedankens; das Auge ist nur ein Punkt, und es umfaßt meilenweite Strecken.


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