Franz Dingelstedt
Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters
Franz Dingelstedt

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V

              Ueber fremde Gräber und Leichensteine
Schreit' ich allein im Abendscheine.
Hab' ich die Schläfer drunten gestört?
Haben sie mein fragend' Wort gehört?

Mir ist, als könnt' ich in süßem Grauen
Durch Schollen und Särge hinunterschauen
Mitten hinein in die stille Stadt,
Wo alles Reisen sein Ende hat.

Wie vieles Leid, wie viele Trauer
Innerhalb jener engen Mauer!
Hinter der eisernen Gitterthür'
Wie manche Gebete, Gelübd' und Schwür'!

Ach! der menschlichen Liebe ist nirgends so viele,
Als hier am legten Wanderziele;
Ihre Rosen und Dornen streuet sie mild
Ueber das thränenreiche Gefild.

Nur nicht ohne Liebe allein verderben,
Nur nicht in der Fremde siechen und sterben,
Von Miethlingshand gehegt und gepflegt,
Mit offenem Aug' in den Sarg gelegt!

Und sollt' ich sie lebend nicht wiedersehen,
Die Heimath, so möcht' ich drin sterben gehen
Und ruhen bei meinem Mütterlein, –
Nur nicht in der Fremde, nur nicht allein!


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