Franz Dingelstedt
Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters
Franz Dingelstedt

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VI

            Das ist der Dom mit seinen Mirakeln,
Mit Heiligen ans Stein und Holz,
Mit kostbaren Knochen in Tabernakeln,
Mit Kuppeln, Säulen und Thürmen stolz.

Vom Hochaltar dringt ein schwacher Schimmer,
Ein Wehen bläst durch die Gänge hin,
In den Orgelpfeifen Kindergewimmer: –
Es graut mich! Was ich doch kindisch bin!

Seit zwanzig Jahren nicht dringewesen,
Zur Beichte nicht, nicht zum Sakrament, –
Daheim nicht in der Bibel gelesen, –
Ob mich der alte Herr-Gott noch kennt?

Ich will an die schallenden Pforten pochen.
Die sind verschlossen. Niemand zu Haus . . . .
Was ist das? Hat hier ein Mensch gesprochen?
Lacht mich die Hölle von drinnen aus?

Ich soll mit den Uebrigen wiederkommen,
Rein-gewaschen, Sonntagsfrüh,
Mit den abonnirten Wochen-Frommen,
So gleißnerisch und so bigott wie sie.

Nein, ich will mich nicht in die Hürde sperren,
Vom Hunde gejagt, mit der übrigen Heerd',
Wenn du der Herr bist unter den Herren,
Suche mich, so ich dir etwas werth.

Geschrieben steht: Es ist größere Freude
Ueber ein einzig verirrtes Thier
Als über eine gesammelte Weide, –
Wolan, mein Hirt, ich irre nach dir.

Ich stehe allein an deinen Pforten,
Sie thun sich nicht auf, dein Haus bleibt stumm,
Die Nacht ist schwarz und tonlos 'worden,
Der Mond hängt dräuende Schleier um.

Ein Strahl nur noch aus den finstern Gründen,
Er trifft das vergoldete Kreuz von Erz:
Kannst du, Beleuchter, das kalte entzünden,
Kannst du entzünden mein kälteres Herz?


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