Franz Dingelstedt
Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters
Franz Dingelstedt

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Gränzfantasie

N. N. N. N.

Nunquam retrorsum!

              Bis hierher und nicht weiter! Hier die Gränzen, –
Betrachte diesen Pfeiler, dieses Schild!
Siehst du, in Schwarz und Gold gemalt, es glänzen
Des Doppeladlers dräuendes Gebild?
Hier gilt's zu scheiden von der Heimath Lenzen,
Von deines Südens blühendem Gefild, –
Kehr' um, wenn dir das Leben lieb geworden,
Denn hier beginnt die Noth, die Nacht, der Norden.

Das ist kein Adler, wie die Adler alle:
Dem Licht zuwider geht sein schwerer Flug,
Von Raub und Blut trieft die gewetzte Kralle,
Die schon so manches Wild daniederschlug,
Die jüngst den Nachbar-Aar gebracht zum Falle,
Den weißen, der Polonia's Banner trug . . .
Ihn sah'n wir sinken, sah'n den Ander'n steigen
Und thaten, – was wir immer müssen: – schweigen!

Ob er mit seinen breiten Rabenschwingen
Der Sonne Stral den heit'ren Durchgang wehrt,
Ob er, gewöhnt zu siegen und zu zwingen,
Mit jedem Tag die Kraft der Fänge mehrt,
Was kümmert's uns, die wir vor and'ren Dingen
Uns fürchten, westlich stäts den Blick gekehrt?;
Wir fühlen nicht, bis uns im eig'nen Nacken
Die Klau'n des Unersättlichen erst packen.

Ein Schritt nur, und ich stünd' in seinem Reiche,
Da drüben grünt, wie hier, dasselbe Gras.
Und doch, wo in der Welt war' eine gleiche
Titanenkluft, so sonder End' und Maas?
Diesseits Europa, das gedankenbleiche,
Jenseits die neue Jugend Asias,
Hier die Kultur, die satte, dort die rohe,
Die ungeübte Kraft, die thatenfrohe!

Was frommt's, daß auf geduldigem Papiere
Ihr für die Eu'ren fügsam sie erkannt?
Es hat Natur dem Menschen wie dem Thiere
Den Stempel unauslöschlich aufgebrannt,
Behaltet Euer Theil, und sie das Ihre,
Nur sagt nicht, daß Ihr Zwei aus einem Land;
Viel fester steh'n als auf gemalten Karten
Im Geist der Völker ihrer Gränze Warten.

Seid Ihr verwandt mit Finnen und Kalmücken,
Mit Slawen, die einst Rurik hergeführt?
Wollt Ihr die Hand dem Samojeden drücken,
Der aus dem Schnee nach Bär und Elenn spürt,
Und dem Mongolen, dessen Sklaven-Rücken
Alltäglich noch des Zuchtherrn Knute rührt?
Und wollt Ihr fleh'n, wie sie seit taufend Jahren:
Erst betet Gott an und darauf den Czaren!?

Natur hat selbst den Unterschied gerissen,
Ihn gleicht die Kunst nicht aus, nicht Zeit und Macht.
Dort liegt sie mondenlang in Finsternissen
Des Winters, eh' einmal ihr Auge lacht,
Kaum schmilzt das Eis von den gefang'nen Flüssen,
Kaum dämmert's in Sibiriens Bergwerks-Nacht,
Ein Todeshauch, wie aus des Nordpols Gegend,
Durchfröstelt alles Land, Schauer-erregend.

Ihr meint, der Nord kann Euer Feld nicht streifen,
Die Nacht nicht Eu'ren Himmel überzieh'n?
Kurzsichtige! Wenn sie zum Schwerte greifen,
Wohin nur vor der Macht der Masse flieh'n?
Schon seh' ich sie durch Eu're Städte schweifen,
Wie einst als Freunde, plündernd her und hin, –
Denn Stillstand ist bei Riesenleibern nimmer,
Bewegung heischt die Selbsterhaltung immer.

Wolan! Ich schleud're ahnend meine Lanze,
Den Liederpfeil, hinüber in dein Reich;
Rück' an und ford're uns zum Waffentanze,
Zum Völkerkampf, zum Einzel-Schwerterstreich!
Wir schmücken unser Haar mit grünem Kranze,
Die Brust mit einem munt'ren Eichenzweig,
Den Spartern ähnlich die vor Hellas Thoren
Ihr Leben im Barbarenkrieg verloren.

Los auf uns lasse deine Neu-Barbaren,
Den Strom, den nur mit Müh' ein Damm gehemmt,
Ansprengen, heiß' den flüchtigen Tataren
Und den Kaukasier, auf's Kameel gestemmt,
Und den Kosacken, welcher raub-erfahren,
Im Don sein Roß, sich selber niemals schwemmt,
Und die von ihres Irtisch öden Steppen
Ans Schlitten mühsam sich zusammenschleppen.

Das balle, dein Geschütz und deine Horden
Und dein Gethier, in einen wüsten Knäu'l,
Und schleud're, einen Blitz aus hohem Norden,
Vernichtend aus uns nieder deinen Gräu'l.
Geschehe, was da muß! Erfüllt ist worden
Die Zeit! So klagt Kassandra's Wehgeheul,
Und ächzend unter deiner Schlaglawine
Wird Deutschland eine warnende Ruine! –


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