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Fünfundvierzigstes Kapitel

»Ich habe noch nie einen Menschen so verändert gefunden, wie deinen Vater,« murmelte der alte Herr, als er mit Mark das Zimmer des Majors wieder verließ. »Er ist mehrere Jahre jünger als ich und sieht dabei aus, als wäre er mindestens siebzig. Als er dachte, ich wäre gekommen, um dich zu holen, war er ja auch ganz außer sich. Na, er wird jetzt darüber beruhigt sein; denn so lange er hierbleibt, soll er dich auch behalten. Nachdem ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe, verstehe ich alles. Ein einziger Blick ist immer besser als ein Zentner Briefe.«

In allem Uebrigen war Onkel Pollitt von seinem Aufenthalte sehr befriedigt. Er fand die Aussicht, das große, geräumige Haus mit seiner seltsamen Einrichtung, sowie die Gärten entzückend, und die ihn umgebende Stille und Einsamkeit war für den an den Londoner Lärm gewöhnten Geschäftsmann ein ganz neuer Genuß.

Der Kansamah servierte zu Ehren des Gastes ein vorzüglich bereitetes, aus Suppe, Fisch, Haselhühnern, einer süßen Speise, köstlichen Früchten und schwarzem Kaffee bestehendes Mahl, auch der Wein war ausgezeichnet; die größte Ueberraschung aber war der Gastgeber selbst. Unter dem Einflusse des guten, alten Rebensaftes und der Gegenwart eines guten, alten Freundes taute er förmlich auf und wurde seinem früheren Selbst wieder einigermaßen ähnlich. Er sprach lebhaft, lachte und scherzte und lauschte mit sichtlichem Vergnügen der Erzählung aller Abenteuer, die sein Schwager auf der Reise bestanden hatte. Seine Augen blitzten und glänzten in dem früheren Feuer, die Furchen und Falten seines Gesichts glätteten sich, seine Stimme bekam den alten Klang des Kommandos wieder, und Daniel Pollitt hörte ihm mit starrem Staunen zu.

Das war nicht mehr die menschliche Ruine von diesem Morgen, sondern der tapfere Soldat, der Indien, das geheimnisvolle, berauschende, herrliche Indien, während eines fünfunddreißigjährigen, größtenteils im Militärdienst verbrachten Aufenthaltes durch und durch kennen gelernt hatte und es mit Begeisterung schilderte.

Es war gegen ein Uhr morgens, als die drei Männer sich trennten. Als sie sich gute Nacht wünschten, schlug der Major seinem Schwager auf die Schulter und sagte in herzlichem Tone: »Trotz meiner Schwärmerei für dies wunderbare Land ist's immerhin möglich, daß es deiner Beredsamkeit gelingt, mich doch noch zur endlichen Heimkehr zu bewegen!«

*

»Mein Vater ist sehr krank,« sagte Mark, als er am andern Morgen um acht Uhr ins Zimmer seines Onkels trat. »Er möchte dich sehen. Ich bin schon seit sechs Uhr bei ihm und fürchte, es geht mit ihm zu Ende.«

»Ja, daran ist wohl kaum noch zu zweifeln,« dachte auch der alte Herr, als er in das Gesicht des Majors sah, auf dem bereits die grauen Schatten des Todes lagen. Der gestrige Abend war nur ein letztes Aufflackern der Lebensflamme vor dem Erlöschen gewesen.

Der Kranke saß, von Kissen gestützt, in einem Lehnstuhle am Fenster und blickte, mühsam atmend, hinaus auf die Schneeberge.

»Ich freue mich, Dan, daß du hier bist und daß wir uns noch einmal gesehen haben,« murmelte er mit bleichen Lippen und einem vergeblichen Versuche, dem Schwager die Hand entgegenzustrecken. »Ihr beide, du und Mark, wünschtet, daß ich heimkehrte, und ich trete nun die Heimfahrt noch früher an, als ihr dachtet.« Dann wandte er die glanzlosen Augen dem Sohne zu. »Gott segne dich, Mark!« flüsterte er kaum noch verständlich.

Das waren seine letzten Worte.

Als Doktor Burgeß, nach dem man geschickt hatte, eine Stunde später eintraf, war Major Jervis nicht mehr unter den Lebenden.

»An einem Herzfehler gestorben,« lautete der Ausspruch des Arztes. »Eine ungewöhnliche Aufregung hat den Tod beschleunigt, der indessen unter allen Umständen binnen acht Tagen hätte eintreten müssen.«

Am folgenden Morgen wurde der Verstorbene auf dem Friedhofe der verlassenen Station beerdigt. Mark, Onkel Dan und zwei oder drei Nachbarn standen an dem offenen Grabe, während sich in einiger Entfernung davon die Diener, die Arbeiter und viele Arme und Kranke aufgestellt hatten, denen »der geliebte Bruder« ein gütiger und freigebiger Freund gewesen war.

Fernandez kam nach Empfang der ihm telegraphisch übermittelten Nachricht sofort herbeigeeilt. Er war voll Freude und Geschäftigkeit, fühlte sich sehr wichtig und begriff die ernsten Gesichter der beiden Engländer nicht. War es doch, wie er ganz offen aussprach, eine Erlösung nach jeder Seite hin. Da ihm neue Einrichtungen, Aufregung und Wechsel das größte Vergnügen machten, so übernahm er bereitwillig die nötigen Arrangements, war alles in allem und machte dabei Lärm für zehn.

»Haus und Ländereien gehören Mark, sind aber nicht viel wert,« erklärte er dem Onkel achselzuckend. »Alles andre ging in meinen Besitz über, besonders die Juwelen. Ich wollte nur, ich könnte Ihnen die zeigen, die in der Bank liegen,« setzte er mit blitzenden Augen hinzu. »Aber vor allem wollen wir doch einmal die besichtigen, die sich hier befinden; es sind merkwürdige Sachen dabei.«

Eine große eiserne Truhe wurde herbeigebracht und ihr Inhalt auf einem mit rotem Sammet überzogenen Tische ausgebreitet.

Onkel Dan setzte sich nieder, um diesen Schatz von Gold und kostbaren Steinen in Muße zu besichtigen. Da waren ungeheuer große, aber schlecht geschliffene Diamanten, goldene, mit Rubinen besetzte, größere und kleinere Gefäße: Beteldosen, Rosenölfläschchen, Riechbüchschen und so weiter. Da waren halbmondförmige Turbanverzierungen mit Smaragden und Diamanten, Agraffen, goldene Fußspangen, deren Schlösser Elefantenköpfe darstellten, Stirnbänder mit großen hängenden Perlen, mit Diamantenschnüren umwundene Federbüsche, Armbänder, Ohrgehänge, Nasenringe, sehr schön in Gold und Elfenbein gearbeitete Rückenkratzer, prachtvolle Perlenschnüre und ganze Haufen ungefaßter Smaragden und Rubinen. Ein Schatz, an dem Generationen gesammelt hatten, und der nun in den unruhigen Händen dieses Fernandez Cardozo zerstieben sollte, wie Spreu im Winde!

»Ich möchte Ihnen gern etwas davon schenken, Mark,« sagte Fernandez obenhin, indem er in diesem Haufen von Kostbarkeiten wühlte. »Würden Sie etwas von mir annehmen?«

»Natürlich wird er,« gab Onkel Pollitt ohne Besinnen zur Antwort.

»Na, dann – wie würde Ihnen das hier gefallen?« fuhr der kleine Mann fort und hob ein Halsband von großen Smaragden empor, die, durchbohrt und auf eine seidene Schnur gereiht, an beiden Seiten durch goldene Troddeln gehalten wurden. »Das ist für Ihre zukünftige Braut, lieber Freund!«

»Was wissen Sie von ihr?« fragte Mark sehr ernst.

»Ha, ha, ha! Nichts weiß ich von ihr, ich schlug eben nur auf den Busch! Sie haben also eine Braut?« rief Cardozo lachend.

»Ja,« gab Pollitt ebenfalls lachend zurück. »Er hat eine Braut, und zwar, wie ich Ihnen versichere, eine sehr hübsche!«

»Wie sieht sie aus?« rief Fernandez mit funkelnden Augen. »Ist sie blond oder braun?«

»Sie werden sie ja sehen, Fernandez. Sie müssen zur Hochzeit kommen,« versetzte Mark.

»Wird mir eine große Freude und Ehre sein, mein lieber, junger Freund. Aber beschreiben Sie mir nur, wie sie ist und aussieht. Sie wissen, ich bin ein großer Bewunderer weiblicher Schönheit.«

»Na, sie ist groß, einen Kopf größer als Sie, und hat dunkles Haar, dunkelgraue Augen, schönen Teint und sieht aus wie eine Prinzessin.«

»Dann soll sie anstatt der Smaragden diese Perlen haben!« rief Fernandez begeistert, indem er seine fette Hand tief in den vor ihm liegenden Haufen von Perlen versenkte und ein Halsband von vier Schnüren der schönsten und größten, mit einem Schlosse von alter, sehr eigentümlicher Arbeit und einer Quaste von Rubinen zur Besichtigung emporhielt.

»Das ist ein viel zu kostbares Geschenk!« entgegnete Mark zurücktretend.

»Für ein schönes Mädchen ist nichts zu kostbar, und was den Wert anbetrifft, so sind die Smaragden, obgleich sie aussehen wie grüne Glaskugeln, wertvoller als die Perlen. Sie würden mich tief beleidigen, wenn Sie das kleine Geschenk für Ihre Braut ablehnten. Außerdem ist's nur recht und billig, daß die Schwiegertochter des Majors einen, wenn auch noch so geringen Anteil an den Juwelen der Begum hat.«

»Ich nenne das kein kleines Geschenk, Fernandez; aber ich bin Ihnen sehr dankbar dafür und werde es Fräulein Gordon in Ihrem Namen überreichen. Sie wird Ihnen später persönlich dafür danken.«

»Köstliche Perlen!« rief Onkel Dan voll Bewunderung. »Zur Ergänzung werde ich ihr nun Diamanten schenken.«

Ein so ungleiches Paar die beiden Männer, Daniel Pollitt und Cardozo auch waren, vertrugen sie sich doch erstaunlich gut. Die bilderreiche Sprache, die orientalischen Anschauungen und das heitere, sorglose Wesen des kleinen Fernandez interessierten den hartköpfigen, englischen Geschäftsmann, und im besten Einvernehmen, aber laut streitend und disputierend gingen die beiden mit brennenden Cigarren im Garten auf und ab, während Mark sein Pony bestieg, um ein frisches Grab zu besuchen und der »persischen Dame« lebewohl zu sagen.

»Ich habe Sie erwartet, lieber junger Freund,« sagte sie, sich von ihrem Sitz vor dem Hause erhebend. »Ich dachte, Sie würden sicherlich kommen, um mir lebewohl zu sagen. Sie gehen nun doch fort?«

»Ja, ich reise ohne weiteren Aufenthalt ab.«

»Und Sie werden nun Ihres Herzens Wunsch erfüllen, werden sie heiraten?«

»Ich hoffe; aber ich komme, um auch einen Ihrer Herzenswünsche zur Erfüllung zu bringen!«

Sie starrte ihn verwundert an.

»Sie sagten mir einmal, daß Sie sich ein größeres Haus in bequemer Lage wünschten, und ich komme, um zu fragen, ob ich Ihnen nicht das Gelbe Haus für Lebenszeit anbieten dürfte.«

»Das Gelbe Haus? O nein, das wäre zu viel; das könnte ich nicht einmal für meine Armen annehmen. Nein, nein, nein!«

»Und warum nicht? Das Haus gehört mir, ich kann damit machen, was ich will, und es könnte mir nichts lieber sein, als es in Ihren Händen zu wissen, wo es guten Zwecken dienen würde, anstatt dem Verfall nutzlos überlassen zu bleiben. Ich würde Ihnen nur dankbar sein, wenn Sie mir erlaubten, Ihnen außerdem einen Gehilfen oder eine Gehilfin und eine Apotheke zu halten.«

»Sie haben also die Absicht, eine Art Hospital für die Armen der Umgegend zu gründen?« fragte die Perserin.

»Nein, das haben Sie schon gethan; ich bitte nur um die Erlaubnis, Ihnen ein wenig zu Hilfe zu kommen. Wollen Sie Pela-Kothi nicht von mir allein annehmen, so nehmen Sie das Haus von uns beiden oder von Honor allein. Ihr werden Sie das nicht abschlagen.«

»Und ich soll Sie beide nicht wiedersehen, niemals wiedersehen?« stammelte die Fremde.

»Wer weiß! Vielleicht kommen wir eines Tages und besuchen Sie. Jedenfalls wird Honor Ihnen schreiben.«

»Aber wie kann sie das? Ich bin eine – eine Perserin!« entgegnete sie, ihn mit durchdringendem Blicke messend.

»Jedenfalls werde ich Ihnen schreiben,« sagte Mark etwas verlegen. »Ich werde Ihnen alljährlich eine bestimmte Summe zur Verwendung für die Aussätzigen oder für andre wohlthätige Zwecke senden. Doktor Burgeß wird Ihnen meine Briefe übersetzen und ebenso Ihre Antworten, wenn Sie die Güte haben wollen, mir dann und wann eine solche zukommen zu lassen. Wir möchten Sie nicht gern aus dem Gesicht verlieren und wollen dies zu verhindern suchen, soweit es an uns ist, denn wir dürfen uns doch Ihre Freunde nennen, nicht wahr?«

»Könnten eine Engländerin und ein englischer Sahib wirklich die Freunde einer Frau meines Volkes sein?« fragte sie mit einem Gesicht, das so ausdruckslos war, wie eine Maske.

»Das wird nur von Ihrem Willen abhängen,« gab er ernst zur Antwort. »Aber ich sehe nicht ein, was zwischen uns stehen sollte. Bitte, erinnern Sie sich, daß Sie Freunde an uns haben, wenn Sie uns einmal brauchen sollten. Aber nun muß ich Ihnen leider lebewohl sagen.«

Er bemerkte, daß ihre Lippen bebten, als sie sich von ihm abwandte und ihn mit einer gebieterischen Handbewegung entließ.

Ehe er aus dem Gesichtskreise des Bangalo kam, blickte er sich noch einmal um. Die Perserin stand noch genau da, wo er sie verlassen hatte. Er schwenkte noch einmal den Hut, und sie beantwortete den Abschiedsgruß, indem sie ihm mit ihrem Taschentuche zuwinkte. Damit verriet sie sich unwillkürlich selbst. Es war die Bewegung einer englischen Dame!

*

Daniel Pollitt wäre gern noch eine Weile im Gelben Hause geblieben. Die herrlichen Gärten, das stille, beschauliche Leben, die klare, bewegte Luft, das einfache, natürliche Wesen der Bergbevölkerung, die köstliche Aussicht auf die in blauer oder violetter Färbung liegenden Thäler und Höhen hatten es ihm völlig angethan. Wenigstens wollten er und Fernandez die Reise langsam und bequem machen. Mark, der nicht auf die beiden warten konnte und wollte, eilte ihnen voraus. Er war verliebt, und für einen Verliebten ist ja außer seiner Liebe nichts in der Welt vorhanden. Zwei seiner drei Ponies wurden vorausgeschickt, um ihm als Relais zu dienen, und eines Nachmittags galoppierte er, mit dem Hochzeitsgeschenk von Fernandez in der Tasche, auf dem Wege nach Shirani davon.

*

Vielleicht waren die Ponies ebenso begierig, wieder nach Shirani zu kommen, wie ihr Reiter, denn sie legten die zwanzig Wegstunden zwischen Pela-Kothi und diesem Orte in einer solchen, noch nie dagewesenen Geschwindigkeit zurück, daß Mark Jervis viel früher in Shirani ankam, als er erwartet wurde.

Lady Brande gab gerade an diesem Tage eines ihrer großen Mittagessen. Die Gäste waren eben aufgestanden und hatten sich im Empfangszimmer versammelt, und man bemerkte hier noch mehr als vorher, wie gut Honor Gordon an diesem Tage aussah. Ja, sie war wieder ebenso schön, wie zu der Zeit, ehe der harte Schlag sie getroffen hatte, der wohl geeignet gewesen war, sie niederzudrücken. Irgend jemand saß am Klavier, um eine überaus lange, italienische Arie zum besten zu geben, als, allem Anschein nach, noch ein ungewöhnlich verspäteter Gast eintraf. Laternenschimmer wurde draußen vor der Veranda sichtbar, und man hörte das Stampfen von Pferdehufen und den Ton einer Männerstimme, die Honors Herz höher schlagen ließ.

Sir Pelham entfernte sich für einen Moment, kam aber bald zurück und gab seiner Frau einen Wink mit den Augen.

Sie stand sofort auf, eilte hinaus, und gleich darauf erblickte man sie durch die Veranda hindurch in sehr lebhaftem Gespräch mit einem jungen Manne in Reitkostüm. Die Etikette verbot Honor, obgleich sie die zumeist beteiligte Person war, ebenfalls hinauszugehen; aber nur die Schicklichkeit fesselte ihr Hände und Füße.

»Ich hoffe, Sie entschuldigen mich,« stammelte Lady Brande, als sie etwas atemlos zu ihrer Gesellschaft zurückkehrte, und fügte dann mit einer zwischen Lachen und Weinen schwankenden Stimme hinzu: »Er behauptet, er sei nicht in der Verfassung, in Gesellschaft zu erscheinen. Er kommt eben erst zurück; es ist nur Mark Jervis!«


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