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Achtunddreißigstes Kapitel

Das verlassene Kantonnement übte eine besondere Anziehung auf Jervis aus, und er machte oft einen weiten Umweg, um auf dem Pfade heimzukehren, der über den schönen, aber melancholischen Platz führte, dessen Einsamkeit so gut zu seiner eigenen Stimmung paßte. Er kannte den Ort, die Baracken, das Klubhaus, die nach und nach zerfallenden Bangalos mit den verwilderten Gärten, wie den Friedhof sehr genau und wußte die Namen und die kurzen Inschriften auf den Grabsteinen und Kreuzen fast auswendig.

Hier auf einer dieser moosüberwachsenen Steinplatten saß er denn auch, seine Cigarette rauchend, eines Abends. Es war Sonntag, und gleichsam instinktiv blickte er nach der kleinen, in der Mitte des Gottesackers stehenden, verfallenen Kirche hin, fragte sich, wer hier wohl den letzten Gottesdienst abgehalten haben, welchen von den da draußen ruhenden Toten man hier wohl zuletzt eingesegnet haben möchte, ließ dann seine Gedanken über sein eigenes Leben, zu seinem Onkel, zu Honor Gordon hinüberschweifen und hatte, in diese Träumereien verloren, fast vergessen, wo er sich befand, als ein ungewöhnlicher Ton ihn aus seinem Nachdenken weckte.

Das war kein tierischer Laut, sondern eine menschliche Stimme, es war Gesang, der aus der Richtung der Kirche zu ihm herüberschwebte. Unwillkürlich hielt er den Atem an, um zu horchen. Die Stimme war ehemals ein voller, klangreicher Kontraalt gewesen, jede Silbe des Gesanges war deutlich zu verstehen.

»Nicht auf Erden, müde Seele,
Wirst du jemals Frieden finden!
Suchst umsonst von Pol zu Pole;
Suchst umsonst in Meeresgründen«

klang es über den Platz, dann folgte eine minutenlange Pause. Der junge Mann fühlte sein Herz laut pochen. War es eine Stimme aus dem Grabe, die er vernahm?

Jetzt begann der Gesang, sich zum Ausdrucke fast verzweifelter Klage steigernd, von neuem:

»Ueber Raum und Zart erheben
Mußt du dich aus deiner Pein.
Daseinszweck kann nicht dies Leben,
Nicht der Tod das Ende sein.«

Jetzt war alles still. Mark wartete lange in fast fieberhafter Spannung; die Stimme ließ sich nicht wieder hören, und nun wollte der junge Mann wenigstens erfahren, wer hier gesungen hatte. Er eilte nach der Kirche, überkletterte leichtfüßig einen Schutthaufen und stand bald in dem kleinen inneren Raume des Gotteshauses, der sich leicht überblicken ließ; er war leer. Beim sinkenden Lichte des Tages ging Jervis nun spähend rund um die Außenmauer herum. Keine Seele – jedenfalls war es doch eine Seele gewesen – war zu finden! Aber die Dunkelheit nahm schnell zu; düstere Färbungen breiteten sich über das nun wieder totenstille Thal, die Bäume warfen gespenstige Riesenschatten, und der Wald schien an den Berglehnen emporzuwachsen, bis er sich im Himmelsgewölbe verlor.

*

»Nach welcher Richtung hin hat dich heute dein Spaziergang geführt?« fragte der Major seinen Sohn, als beide am Abendtische saßen.

»Das kann ich so genau nicht sagen, ich weiß nur, daß ich über das Kantonnement zurückgekommen bin.«

»Ein reizender Platz. Die hygienische Gesellschaft selbst würde ihn, und wenn sie die Gegend fünfhundert Meilen in der Runde abgesucht hätte, nicht besser haben wählen können. Gute Luft, gutes Wasser, schöne Aussicht, und doch sind die letzten Bewohner hingestorben, wie die Fliegen. Die Eingeborenen behaupten, es laste ein Fluch auf dem Platze und keiner von ihnen würde ihn nach Sonnenuntergang betreten.«

»Aber du, Papa, du glaubst doch nicht an so dummes Zeug? Du bist doch nicht abergläubisch?«

»Wo denkst du hin!« rief der Major entrüstet. »Nein, den Aberglauben überließ ich immer Mercedes, die aber stak darin bis über die Ohren.«

Da der alte Herr so wenig geneigt schien, an übernatürliche Dinge zu glauben, und wahrscheinlich nur spöttische Bemerkungen über das Abenteuer des jungen Mannes zu machen gehabt hätte, so beschloß dieser, es lieber für sich zu behalten. Eine natürliche Erklärung der Sache war ja auch noch immer möglich.

*

Die Ankunft Marks im gelben Hause blieb in der Nachbarschaft nicht unbemerkt. Mehrere junge Ansiedler suchten den neuen Ankömmling auf, um mit ihm über die Thee- und Obsternte, über die besten Jagdgründe, die ergiebigsten Stellen für den Lachsfang und so weiter zu sprechen und ihn zu sich einzuladen. Der deutsche Missionar, sowie Dr. Burgeß, ein amerikanischer Geistlicher und Arzt, der sich und seine Thätigkeit den Aussätzigen widmete, machten ihm ebenfalls Besuch. Beide Männer waren über die günstigen Veränderungen, die in und um Pela-Kothi vorgegangen waren, höchlich erstaunt. Dr. Burgeß fand seinen Patienten, Major Jervis, in einem reinlichen, gut gelüfteten Zimmer, sauber angezogen und seine Zeitung lesend wie ein gesunder Mann. Wie ein gesunder Mann sprach er über Politik, lokale Angelegenheiten und lobte und pries seinen Sohn, der unglücklicherweise nicht zu Hause war. Dann wurde dem Gaste ein vortreffliches Gabelfrühstück aufgetragen, worauf der Major ihn im Garten umherführte und ihn auf die vielfältigen Verbesserungen aufmerksam machte, so daß der alte Herr bereits eine sehr günstige Vorstellung von Marks Fähigkeiten hatte, noch ehe die persönliche Bekanntschaft erfolgte, die dies Urteil nur bestätigte. Gelegenheit zu dieser persönlichen Bekanntschaft fand sich indessen noch, ehe der Doktor Pela-Kothi verließ; denn Mark kam gerade im Moment seines Aufbruches heim und erbot sich, den Gast ein Stück Weges zu begleiten.

»Ihr Vater befindet sich viel wohler als früher; Sie jedoch werden hier viel vermissen,« sagte der Doktor im Laufe des Gesprächs. »Sie sind an ein andres Leben gewöhnt und dürfen sich jetzt, nachdem Sie Ihr Hauswesen in Ordnung gebracht haben, hier nicht versauern lassen, sondern müssen gute Nachbarschaft mit uns halten. Bray und Van Zee, Ihre nächsten Nachbarn, sind beide sehr nette Leute. Uebrigens wohnt einer Ihnen noch viel näher, aber den werden Sie kaum je zu sehen bekommen.«

»Warum nicht?«

»Weil es einer ist, der jedem Zusammentreffen mit Europäern und selbst mir ausweicht, obwohl wir auf demselben Felde arbeiten.«

Mark würde gern weiteres über den geheimnisvollen Nachbar gehört haben; aber der Missionar erwies sich über diesen Punkt nicht sehr mitteilsam, und alles, was der junge Mann ihm abfragen konnte, war, daß die in Frage stehende Persönlichkeit weder jung, weder Europäer noch Hindu sei.


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