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Vierundzwanzigstes Kapitel

Hauptmann Waring war als ritterlicher Beschützer der beiden Damen, Frau Atherton und Fräulein Potter, abgereist, und ihm war ein unendlicher Zug von Dienerschaft, Ponies und Lastträgern gefolgt.

Er hinterließ eine Lücke in der Gesellschaft und viele unbezahlte Rechnungen. Seine breiten Schultern, sein fröhliches Lachen und seine laute Stimme wurden im Klub, in der großen Veranda und überall vermißt.

Bei der Abreise hatte er erklärt, er werde zurückkehren und seine Rechnungen bezahlen.

»Außerdem,« hatte er lachend hinzugefügt, »lasse ich meinen Cousin als Pfand hier!«

»Sally,« sagte Pelham am folgenden Morgen, ins Zimmer seiner Frau tretend, »Sally, Hauptmann Waring ist abgereist und hat den jungen Jervis ganz allein gelassen. Der kann nun mit seinem gebrochenen Arme weder Polo noch Tennis spielen, warum in aller Welt hast du ihn nicht eingeladen, zu uns zu kommen?«

»Nicht eingeladen? Na, ich dächte, das hätte ich genügend gethan. Ich habe ihm geschrieben, bin selbst zu ihm gegangen, alles umsonst.«

»So? Ja, dann muß ich sehen, was ich über ihn vermag!« entgegnete Sallys Herr und Meister. »Das heißt,« setzte er hinzu, »wenn du überhaupt glaubst, daß es gut gethan ist. Frauen sind in solchen Dingen scharfsichtiger als wir, und wenn du meinst, er könnte etwa so thöricht sein, sich in Honor zu verlieben, so –«

»Er sich in Honor verlieben! Ha, ha, ha! Welche Idee! Wenn er wirklich in jemand verliebt sein sollte, so ist's in mich. Honor! Gott segne deine Einfalt, mein guter, alter Pel! Sie sehen ja herzlich wenig voneinander, denn du belegst ihn fast immer mit Beschlag, und wenn sie wirklich einmal zusammen sind, streiten sie sich meist.«

»Die Liebe fängt, wie die Leute sagen, häufig mit einem kleinen Kriege an,« bemerkte Brande.

»Ach, die beiden streiten sich nur zur Unterhaltung,« versicherte Sally. »Was soll denn der arme Mensch mit seinem lahmen Arme den ganzen Tag anfangen! Uebrigens: erinnerst du dich denn nicht an einen Major Jervis, der vor langer, langer Zeit bei der bengalischen Kavallerie stand? Er war ein schöner Mensch, besonders in großer Uniform und mit dem Turban auf dem Kopfe, hatte seine Frau verloren und heiratete dann nochmal. Ich finde, der junge Jervis sieht ihm ähnlich und möchte wissen, ob er mit ihm verwandt ist.«

»Selbstverständlich! Der Major war sein Vater. Ich fragte den jungen Mann gleich, als wir seine Bekanntschaft machten. Den Vater habe ich sogar ziemlich gut gekannt. Er war in zweiter Ehe mit der Enkelin einer Begum verheiratet, die Tonnen Goldes in Indigoplantagen und Ländereien besaß. Sie hatte Augen wie glühende Kohlen und bereitete ihm ein dementsprechendes Leben.«

»Und was ist aus ihm geworden?«

»Du weißt, der junge Jervis ist sehr zurückhaltend, und so mochte ich ihn nicht weiter fragen. Da ich aber lange nichts von dem alten Herrn gehört habe, nehme ich an, daß er tot ist.«

»Und von den Reichtümern der Begum ist nichts mehr für seinen Sohn übrig geblieben? Na, ich hoffe, du gehst hinüber und bringst ihn gleich mit. Er muß sich ja schrecklich langweilen. Dennoch werde ich's ihm sehr übelnehmen, wenn er deiner Einladung folgt, nachdem er die meinige abgelehnt hat.«

Pelhams Ueberredungskunst erwies sich wirklich als unwiderstehlich, und schon der nächste Tag fand Mark Jervis vollständig in Rookwood eingerichtet. Die Uebersiedlung erregte bei niemand Verwunderung. Er hatte eben den Arm gebrochen, bedurfte der Pflege, und das Brandesche Haus war immer so eine Art Hilfsstation für Kranke gewesen. Der junge Invalide fühlte sich auch bald völlig heimisch und war, wie ihm seine Wirtin versicherte, keinem Menschen zur Last. Er interessierte sich für Hühner und Tauben, schien was von Ponies zu verstehen, schaute bewundernd zu, wenn Honor die Blumenvasen füllte, und gab in unbefangenster Weise seinen Rat dazu. Mit Tante Sara legte er Patiencen und beim Tennis spielte er den unparteiischen Schiedsrichter.

»Hier ist ein ganzes Paket Briefe,« sagte Frau Brande, als sie eines Morgens auf der Veranda erschien. »Einer für dich, Honor, einer für mich und zwei für Herrn Jervis. Auf dem Umschlage steht: Fürstenthor Nr. 300. Ist das eine neue Mode?«

»Das weiß ich wirklich nicht,« entgegnete Mark, indem er die Epistel seines Onkels in Empfang nahm und sich zu Ben auf die Treppenstufen setzte, um sie zu lesen.

Pelham hatte einen ganzen Haufen dienstlicher Schriftstücke in Empfang genommen, in die er sich eben versenken wollte, als ihm seine Frau die Photographie eines jungen Mädchens vor die Augen hielt.

»Wer ist das?« fragte sie.

»Jedenfalls ein Engel, dem Ansehen nach,« entgegnete er.

»Nicht wahr? Hast du je ein so schönes Gesicht gesehen? Es ist deine Nichte, Fee Gordon!«

Ja, es war in der That Fee, in höchst vorteilhafter Aufnahme, stark retouchiert, sehr gut gestellt, mit dem hübschesten, weichsten Ausdruck ihres Gesichtchens.

»Liebste Honor,« fuhr Tante Sally, sich zu dem jungen Mädchen wendend, fort, »ich möchte dich ja gewiß mit keiner andern vertauschen, aber die Schönheit der Familie ist doch unstreitig Fee. Was sagst du dazu, Pelham?«

»Sie ist wirklich sehr schön,« gab er zu; »aber ich ziehe Honors strahlendes Gesichtchen und ihre großen, fragenden Augen vor.«

Es war ein gewiegter Physiognom und durch eine geschmeichelte Photographie nicht so leicht zu täuschen; für seine Augen lag ein gewisser verbissener Zug um die Lippen der Schönheit.

»Sehen Sie mal, Herr Jervis,« rief die Tante voll Stolz: »Ist sie nicht schön?«

»Ja, sehr schön!« gab er zur Antwort. In der Stille seines Herzens stimmte er Frau Brande bei: Fee war unstreitig die schönere der beiden Schwestern.

»Ich möchte wissen, was Ida Langrishe zu ihr gesagt hätte. Was meinst du, Honor?«

Honor wurde dunkelrot und lächelte gezwungen, aber sie gab keine Antwort.

»Und da ist auch ein allerliebster kleiner Brief von Fee,« fuhr Tante Sally fort, indem sie das Schriftstück in Honors Schoß fallen ließ. »Ich muß doch dem armen Kinde irgend was Hübsches schicken.«

Der Brief, der auf zwei Bogen in so großer Handschrift geschrieben war, daß sie einer Riesin Ehre gemacht hätte, lautete:

 

»Geliebte Tante Sara!

»Ich habe Dich aus Honors Briefen so gut kennen gelernt, daß ich wünsche, auch von Dir ein wenig gekannt zu sein, und Dir meine Photographie sende. Man findet sie sehr ähnlich, nur daß mein Teint und meine Hautfarbe, die, wie Honor bestätigen wird, das Hübscheste an mir sind, nicht zur Geltung kommen. Wir verschlingen Honors allwöchentliche Briefe und sind schon ganz vertraut mit Shirani und seinen Bewohnern, kennen die Blumen, die herrliche Aussicht und Dich selbst, Du geliebte, gütige Tante, sehr genau. Ich beneide Honor um den köstlichen Aufenthalt in Deinem Hause und vergieße zuweilen Thränen (natürlich wird Dir das sehr thöricht vorkommen), wenn ich von den Bällen, Partieen und Picknicks höre, die sie mitmacht, und daß sie sogar ein eigenes Pony besitzt. Wie verschieden ist doch ihr Leben von dem ihrer armen kleinen Schwester Fee, die niemand hat, der sie mit Geschenken und mit Güte überhäuft, die seit Mai erst eine einzige Landpartie mitgemacht hat und sich mit einem Paar Handschuhen wenigstens vier Wochen behelfen muß. Aber ich will mich nicht darüber beklagen, sondern mich an Honors Wohlergehen erfreuen. Ich empfinde alles, was Du an Honor thust, als geschähe es mir selbst, und bin Dir herzlich dankbar dafür. Wenn Du einmal etwas Zeit findest, schickst Du mir vielleicht Deine Photographie – wir besitzen kein einziges Bild von Dir – und schreibst uns einige Worte, um uns in unsrer Einsamkeit zu erfreuen. Wie sehr wünschten auch wir uns einmal eine Abwechslung! Honor wird Dir gesagt haben, daß eigentlich ich zu Dir gehen sollte, daß aber später die beiden Vorsichtigen und Klugen in der Familie (Jessie und Honor) den Beschluß faßten, mich daheim zu lassen. Seitdem habe ich aber doch immer das Gefühl, als gehöre ich zu Dir; denn drei ganze Tage war ja ich die Auserwählte und konnte vor Glückseligkeit kaum essen und schlafen. Verzeih diesen unzusammenhängenden Brief. Ich bin nicht so gescheit und geschickt wie die andern; aber ich bin für immer

Deine Dich liebende Nichte
Fee.«

 

»Nachschrift. Ist denn Honor noch nicht verlobt? Sie schreibt nie etwas von ihren Anbetern.«

Dies war der Brief eines armen zurückgesetzten Aschenbrödels, und doch war Fee Zeit ihres Lebens als die Prinzessin der Familie behandelt worden! Honors Wangen glühten vor Zorn, wenn sie an die vielen kleinen Entbehrungen dachte, die sie und Jessie sich auferlegt hatten, um Fee das Leben zu versüßen, an die weiten Wege, die sie oft gemacht und an die schäbigen Kleider, die sie zu Fees Nutz und Frommen getragen. Erst vorgestern hatte sie ihr acht Pfund von ihrem Garderobengeld geschickt, anstatt dies zu dem gewünschten rosa Ballkleide zu verwenden. Es war zu unrecht von Fee, sich der guten, harmlosen Tante Sara so als Märtyrerin darzustellen.

Honor sah geärgert und gekränkt aus, als sie jetzt die Augen erhob und den fragenden Blicken der Tante begegnete.

»Also auch diese andre Schwester hatte den Wunsch, zu kommen?« sagte Tante Sally, als sie den Brief aus Honors Hand nahm und ihn ihrem Manne zureichte. »Warum hast du mir das nie gesagt, da du doch sonst so offen bist, liebe Honor? Es scheint, die Kleine hatte ihren Kopf darauf gesetzt. Was stand denn ihrem Wunsche im Wege?«

»Fee ist schwächlich, sie würde die lange, weite Reise ebensowenig aushalten, als das fremde Klima. Unser Arzt erklärte es geradezu für Wahnsinn, sie dem auszusetzen, und das war der eine Grund. Außerdem kam sie selbst bald von dem Wunsche zurück. Sie ist immer das Schoßkind der Familie gewesen.«

»Du sagst, dies sei der eine Grund gewesen. Es gab also noch andre Gründe?«

Honor wurde scharlachrot.

»O, davon möchte ich lieber nicht sprechen, es ist aber nichts dabei; jedenfalls wirst du es später erfahren,« stammelte Honor in sichtlicher Verlegenheit.

»Ich möchte wohl wissen, ob sie jetzt noch käme,« versetzte Tante Sally in nachdenklichem Tone. »Wir könnten zwei junge Mädchen ebensogut haben, wie eine. Die Hadfields erwarten ihre Gerty im November zurück, und mit der könnte sie kommen. Sie hätte dann wenigstens noch fünf bis sechs vergnügte Monate hier, hätte etwas, wovon sie später sprechen könnte, und würde, wenn ich mich nicht sehr täusche, den Leuten auch etwas zu sprechen geben. Was meinst du dazu, Pel?«

Pel las den Brief seiner Nichte langsam durch; aber er gefiel ihm nicht. Es war etwas Falsches, Kriechendes darin, das ihn abstieß. Honor wäre nicht im stande gewesen, so etwas zu schreiben.

»Da liegt noch ein Brief, den Sie übersehen haben, Frau Brande,« sagte Mark, indem er sich bückte und ein Couvert vom Boden aufhob.

»Wahrhaftig, ein Brief von Frau Primrose! Wahrscheinlich wünscht sie, daß ich ihr Haus lüften lasse. Sie kommt dies Jahr sehr spät!« rief die alte Dame, während sie das Billet überflog. Doch plötzlich unterbrach sie sich mit einem Schreckensruf.

»Was ist, was hast du?« fragte Pel.

»Sie kann erst in zehn Tagen kommen, möchte das Kind bei der schrecklichen Hitze nicht länger bei sich behalten und bittet mich, es solange bei uns aufzunehmen!«

»Himmel, alles andre, nur das nicht!« rief Pel. »Telegraphiere sofort: Habe keinen Platz! Auf meinem Tische liegen Depeschenformulare.«

»Zu spät!« ächzte Tante Sara. »Das Kind ist schon unterwegs. Sie hat es, wie sie schreibt, ›im Vertrauen auf meine bekannte Güte‹ bereits abgeschickt. Es wird mit seiner Aja übermorgen hier sein. Ja, ja, man ist gutmütig, viel zu gutmütig!« rief die alte Dame in ganz ungewöhnlicher Aufregung.

»Ich laufe, wenn es mir irgend möglich ist, davon!« fügte Pel mit Nachdruck hinzu.

»Aber Onkel, was ist denn mit diesem Kinde, daß die Nachricht dich und Tante in eine solche Panik versetzt?«

»Panik? Ich danke dir für das Wort, liebe Honor. Ja, Panik ist der rechte Ausdruck! Ich vergaß, daß ihr beide, du und Jervis, erst seit kurzem hier seid; aber die meisten Menschen der nordwestlichen Kolonieen wissen, was es mit Holdchen Primrose auf sich hat.«

»Holdchen! Was für ein sonderbarer Name. Wohl nur ein Kosename?« fragte Honor.

»Ja, aber ein recht unpassender,« brummte Pel.

»Würden Sie uns nicht einige nähere Auskunft geben, damit wir auf unsrer Hut sein können,« bat Mark.

»Holdchen ist sechs Jahre alt, einziges Kind, wie sich von selbst versteht, außerordentlich hübsch, graziös und klug.«

»Ich weiß nun schon, daß sie mir gefallen wird, und bin darauf vorbereitet, ihren Ritter zu spielen,« entgegnete der junge Mann mit beifälligem Kopfnicken. »Ich habe Kinder, besonders kleine Mädchen, sehr gern.«

»Dabei ist sie scharf, wie eine chirurgische Nadel, außerordentlich lebendig, unruhig, wißbegierig, mit einem wunderbaren Gedächtnis für das begabt, was Erwachsene unter sich sprechen, sowie mit einem unvergleichlichen Talent, es wieder anzubringen. Die Dinge, die dies Kind schon mit der unschuldigsten Engelsmiene gesagt, die Geheimnisse, die es oft vor einer ganzen Gesellschaft preisgegeben, die unglaublichen Fragen, die es schon gethan hat ...«

»Pelham,« unterbrach ihn seine Frau streng, »wenn du etwa eine davon zum besten geben willst, so warte damit, bis ich und Honor uns entfernt haben. Das Kind ist zwar kindlich genug, aber boshaft, und findet sein Vergnügen daran, wenn die Erwachsenen sich ärgern. Ich wünschte nur, wir wären alle erst um zehn Tage älter. Ben kann die Kleine auch nicht leiden, und das ist kein Wunder, denn sie tröpfelte ihm einmal heißes Wachs auf die Nase. Und das letzte Mal, als sie hier war, probierte sie meine besten Hauben und Hüte nacheinander auf und warf sie dann im ganzen Hause herum. Aber das war noch lange nicht das Schlimmste; eines Morgens, beim Frühstück, hörte sie, wie unser Freund Skinner von einem Pferde erzählte, das er gekauft habe und das sich nun als ein alter Krippensetzer erweise. Vergnügt klatschte das Kind in die Hände und rief: ›Ich weiß, was das ist. Mama sagte neulich, du wärst ein schrecklicher alter Krippensetzer!‹ Ich dachte, der Schlag sollte mich rühren. Und natürlich hat Skinner seitdem keinen Fuß mehr in unser Haus gesetzt.«


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