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Sechsunddreißigstes Kapitel

Es war gegen acht Uhr morgens, als Mutter Brande, die eben die letzte Hand an ihre Toilette legte, die Stimme eines Mannes in der Veranda zu hören glaubte. Pelham war verreist; wer konnte zu so früher Stunde vorsprechen? Honor sollte gleich nachsehen! Zehn Minuten später trat sie selbst, ein frisch entfaltetes Taschentuch in der Hand, hinaus und stieß einen kleinen Freudenschrei aus, als sie Mark Jervis erblickte. Der junge Mann stand an eine der steinernen Säulen gelehnt und sprach in ernstem Tone mit ihrer Nichte. Sein Pony wartete unten an der Treppe.

»Na, sind Sie endlich wieder da? Wie mich das freut! Wo haben Sie denn so lange gesteckt?« rief die alte Dame vergnügt.

Aber ihre ausbündige Freude schwand dahin, als sie den beiden jungen Leuten ins Gesicht blickte. Mark sah sehr aufgeregt und so elend aus, als sei er eben von einem schweren Krankenlager erstanden, und Honor, ihre strahlende, glückliche Honor, war totenbleich bis in die zusammengepreßten Lippen.

»Ich bin nur gekommen, um Ihnen lebewohl zu sagen,« begann Jervis, indem er der alten Freundin mit ausgestreckter Hand entgegenging.

»Sie wollen uns lebewohl sagen, ehe Sie uns noch guten Tag geboten haben?« rief Mama Brande in schmerzlicher Verwunderung. »Kommen Sie doch herein, setzen Sie sich gemütlich nieder und schicken Sie Ihr Pony fort.«

Mark schüttelte den Kopf.

»Ich kann nur kurze Zeit bleiben und stehe im Begriff, mich nach einem ziemlich entfernten Orte zu begeben, um dort künftighin mit meinem Vater zu hausen.«

»Mit Ihrem Vater?« fragte sie ungläubig.

»Ja, mein Onkel adoptierte mich, als sich mein Vater zum zweitenmal verheiratete. Mein Vater ist der Major Jervis, der früher mehrere Jahre hier in der Gegend gelebt hat. Bis vor kurzem wußte ich noch nicht, wo er sich jetzt aufhält. In jener Ballnacht schickte er nach mir; ich glaubte, er sei im Sterben, folgte dem Rufe sofort, fand ihn sehr verlassen und einsam, und gehe nun zu ihm, um meine Sohnespflichten zu erfüllen und bis ans Ende seiner Tage bei ihm zu bleiben.«

»Das ist ohne Zweifel sehr gut und schön von Ihnen,« entgegnete Frau Brande nach einer kleinen Weile, »aber was wird Ihr Onkel dazu sagen?«

»Ich fürchte, er wird mir recht böse sein, aber ich kann mich nicht teilen. Mein Onkel hat eine Frau, zahlreiche Freunde, ein großes Vermögen und erfreut sich vor allem einer robusten Gesundheit.«

»Würde Ihr Vater nicht nach Shirani übersiedeln? Wir würden ihn gern bei uns aufnehmen. Oder könnten Sie ihn nicht bewegen, mit nach England zu gehen?«

»Er würde sich weder zu dem einen, noch zu dem andern entschließen. Man muß ihn bis zu seinem Lebensende schon da lassen, wo er ist.«

»Aber Sie, Sie sind dort doch nicht niet- und nagelfest. Sie werden uns doch oft besuchen?«

»Frau Brande, Sie sind sehr, sehr gütig gegen mich, und ich werde Ihre Güte nie vergessen; aber soweit ich jetzt zu sehen vermag, werde ich nie nach Shirani zurückkehren. Mein Vater kann mich nicht entbehren,« Mark sprach mit vor Erregung bebender Stimme, »und ich, ich könnte es nicht ertragen. Denken Sie zuweilen an mich, aber,« hier wurde seine Stimme heiser, »führen Sie mich nicht in Versuchung!«

»O, Mark, mein lieber, lieber Sohn, das thut mir zu weh. Sie wollen also für immer Abschied nehmen, wir sollen Sie nicht wiedersehen?«

Mark gestand sich innerlich, daß diese Frau von, wie man es nannte, niederer Herkunft in der Art und Weise, wie sie die Zerstörung aller glänzenden Hoffnungen ihrer Nichte aufnahm, nicht hinter den Vornehmsten ihres Geschlechts zurückblieb. Sie hatte die Ankündigung, daß ihm das Vermögen des Onkels wahrscheinlich entging, mit großartiger Ruhe aufgenommen, nur die Gefahr, ihn, Mark selbst, zu verlieren, ging ihr nahe und erfüllte sie mit tiefem Schmerze.

»Sie wissen natürlich, wohin meine Wünsche und Hoffnungen gingen,« sagte er, nach dem Ende der Veranda blickend, wo Honor, ins Leere starrend, lehnte. »Das alles ist jetzt zu Ende. Selbstverständlich bin ich Ihnen und Herrn Brande eine Erklärung schuldig und werde mich brieflich aussprechen; sie aber darf nie die ganze Wahrheit erfahren. Mein Vater ist sehr eigentümlich, er wünscht, seinen Namen und sein Dasein ins tiefste Geheimnis zu hüllen; später, später werden Sie alles das besser verstehen.«

»Ich erinnere mich Ihres Vaters noch recht gut,« versetzte Frau Brande in betrübtem Tone. »Er war ein so schöner Mensch und so allgemein beliebt! Seine zweite Frau, die ich auch das eine oder andre Mal gesehen habe, war von etwas dunkler Hautfarbe und – na, sie ist tot und wir wollen sie ruhen lassen; aber ich fürchte, das jetzige Unglück hängt mit ihr zusammen. Gibt es denn gar keinen Weg, lieber, lieber Mark, aus der Geschichte herauszukommen? Muß es denn sein? Sicherlich werden Sie Ihr und Honors Lebensglück nicht für eine Grille, für nichts und wieder nichts opfern.« Dabei schwammen die schönen blauen Augen der alten Dame in Thränen.

»Nein, verehrte Frau. Sie können sich ganz auf mich verlassen. Nur weil ich Honor so warm und ehrlich liebe, gebe ich sie auf. Erlauben Sie, daß sie mich bis an die Gartenpforte begleitet?«

»Natürlich, natürlich!«

»Und wollen Sie mir nicht, zum Zeichen, daß wir als Freunde scheiden, ein kleines Angedenken geben,« bat der junge Mann, sie flehentlich ansehend. »Eine Photographie haben Sie leider, wie ich weiß, nicht ...«

Frau Brande, der die Thränen noch immer über die Backen rannen, trocknete ihre Augen, schlang beide Arme um den Nacken des jungen Mannes und küßte ihn herzlich. Diesmal ließ sie es nicht wie früher bei der scherzhaften Drohung bewenden, sondern küßte ihn, zum starren Erstaunen des Dieners, der eben mit einer ausgestaubten Matte auf die Veranda trat, wirklich und wahrhaftig mehreremal.

Dann schritt das junge Paar, dem der Reitknecht mit dem Pony auf den Fersen folgte, langsam und schweigend der Gartenpforte zu.

»Wie wenig ahnte ich damals, als wir zuletzt hier Abschied voneinander nahmen, was ich Ihnen beim Wiedersehen zu sagen haben würde,« begann der junge Mann endlich.

»Ich weiß, Mark, daß Sie auf ein großes Vermögen und glänzende Aussichten verzichten, und daß Sie in die Verbannung gehen, weil Sie glauben, daß die Pflicht Ihnen das gebietet,« entgegnete Honor, tief Atem schöpfend. »Aber ich muß Ihnen etwas sagen, etwas, das mich in Ihren Augen herabsetzen wird, das aber dennoch gesagt sein muß: auf mich hätten Sie deshalb nicht zu verzichten brauchen! Bitte, lassen Sie mich ausreden, und hören Sie meine Gründe,« fuhr sie mit halberstickter Stimme fort. »Ich bin daheim an ein sehr stilles, einfaches Leben gewöhnt, bin in Armut aufgewachsen, und würde deshalb eine ganz gute Frau für einen mittellosen Mann sein. Sie sagen, die Vermögensverhältnisse Ihres Vaters seien in großer Unordnung, er sei auf eine Jahresrente angewiesen; aber ich würde ihn pflegen, ihm vorlesen, mit ihm spazieren gehen und ihn unterhalten, würde ihm, mit einem Worte, eine gute, liebevolle Tochter sein. Gesellschaften, neue Kleider und dergleichen brauche ich nicht, brauche überhaupt nichts und niemand, als dich, Mark! Ich weiß, daß das, was ich da sage, ganz unweiblich und unschicklich ist; aber du mußt und sollst wissen, daß ich vor der Armut nicht zurückschrecke. Und wenn du glaubst, ich würde mit dir, an deiner Seite, in der Einsamkeit und Wildnis ein trauriges, trübseliges Dasein führen, so bist du in einem zweiten Irrtum. Im Gegenteil, ich würde dies Leben genießen und mich seiner erfreuen, wie eines großen Glücks. Sage nicht nein, Mark! Selbst, wenn wir warten müssen, was macht das aus? Ich warte auf dich, und wenn es zehn, zwanzig, dreißig Jahre dauern sollte!«

Bleich und bebend vor Aufregung schloß das junge Mädchen, das, allein der Stimme des Herzens folgend, alle Bedenken in den Wind schlug, ihre Rede.

»Honor, ich weiß, Sie werden mich bedauern, wenn ich auch jetzt noch gezwungen bin, nein zu sagen,« entgegnete der junge Mann nach kurzer Pause. »Ich muß dem Leben, das vor mir liegt, allein die Stirn bieten. Gott segne Sie und gebe Ihnen ein doppeltes Teil von Glück, Ihr eigenes und das meine dazu. Ich habe in der letzten Zeit Dinge erfahren, die mich abhalten müssen, je eine Frau mein eigen zu nennen. Das Opfer, das ich bringe, ist bitter, bitterer als der Tod, und Ihnen darf ich es nicht auferlegen. Sie müssen mich nach und nach vergessen. Vor Ihnen liegt noch ein ganzes, langes Leben; streichen Sie mich daraus und denken Sie meiner, wie man eines lieben Toten gedenkt.«

»Niemals, Mark. Aber sagen Sie, ich darf Ihnen doch schreiben?«

»Nein!« lautete die Antwort.

»Auch nicht wie eine Schwester?«

Jervis schüttelte den Kopf.

»Ich werde es niemals dahin bringen, an Sie wie an eine Schwester zu denken.«

»Aber Sie werden mir doch wenigstens Ihre Adresse geben? Wir haben einmal daran gedacht, uns fürs ganze Leben zu vereinigen, und nun soll ich nicht einmal wissen, wie Sie Ihre Tage verbringen, wie es Ihnen geht?«

»Das Beste ist, Sie denken gar nicht an mich,« versetzte er mit bebender Stimme.

»Das werde ich aber doch thun! Bitte, sagen Sie mir Ihre Adresse.«

»Mein Vater nennt sich Jones und wohnt jenseits Hawal-Ghât. Es ist ein weiter Weg, und ich muß noch vor Abend bei ihm sein. Was ich aber noch erwähnen wollte: ich habe Ihren Fächer behalten und, nicht wahr, Sie lassen ihn mir? Und nun muß ich fort.«

In diesem Augenblicke wurden in der Ferne Hufschlag und laute, heitere Stimmen hörbar, die sich schnell näherten. Mark ließ Honors Hand, die er einen Augenblick in der seinen gehalten hatte, schnell los. Der Reitknecht kam auf seinen Wink herbei, er schwang sich in den Sattel und galloppierte davon, ohne sich auch nur einmal umzusehen.

Totenbleich kehrte Honor zu ihrer Tante zurück, die, noch immer leise schluchzend, in einer Ecke saß, legte die Hand auf die Schulter der alten Dame und sagte mit fremder, heiserer Stimme: »Es ist alles vorüber, wir haben für immer voneinander Abschied genommen.«

Dann küßte sie die alte Dame und zog sich in ihr Zimmer zurück, dessen Thür sie hinter sich abschloß. Erst nach mehreren Stunden kam sie wieder zum Vorschein; aber das junge Mädchen, das jetzt ins Wohnzimmer trat, war die frühere Honor Gordon nicht mehr.


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