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Vierundvierzigstes Kapitel

»Sahib, da kommt jemand, jemand in einem Jampan,« lautete die erstaunliche Meldung des Dieners, der Jervis unter einem Baume aufsuchte, wo dieser eben damit beschäftigt war, das Porträt eines eingeborenen Kindes zu malen.

Da die landesüblichen Jampans oder Dandies ausschließlich von reisenden Damen benutzt werden, so konnte es auch nur ein weibliches Wesen sein, das sich da näherte. Jervis sprang auf.

War es Honor? Unmöglich! War es Mama Brande? Ebenso unmöglich; denn die große Picknickgesellschaft hatte sich schon vor zehn Tagen in alle Winde zerstreut. Mark eilte nach der Veranda und blickte, die Augen mit der Hand beschattend, nach dem Wege hin. Ja, es unterlag keinem Zweifel, ein von vier Männern getragener, von einem ungeheuren, weißen Sonnenschirm beschatteter Dandy kam vom Berge herab, und ihm folgten ein Eingeborener auf einem Pony und zwei Kulis mit Gepäck. Der kleine Zug bog eben jetzt in den direkt nach Pela-Kothi führenden Weg ein; aber es war unmöglich, den Gast unter dem großen, weißen Sonnenschirm zu erkennen, der sich so sicher und unabwendbar näherte, als sei er das Schicksal selbst.

*

Mark hatte in den letzten Wochen eine große Veränderung im Wesen seines Vaters bemerkt. Je mehr der Geist erstarkte, je schwächer schien der Körper zu werden. Das tägliche Hin- und Herschreiten auf der Terrasse hatte erst abgekürzt, dann, als die Schritte des Majors immer matter und langsamer wurden, ganz aufgegeben werden müssen, und die frühere Einteilung des Tages hatte eine durchgreifende Aenderung erfahren. Bis dahin war ein früher Morgenritt Marks beste Erholung gewesen, dann hatte er mit dem Vater gefrühstückt, hatte ihm die Zeitung vorgelesen, ihm allerlei erzählt und ihn spazieren geführt bis gegen drei Uhr, um welche Zeit sich der Major zur Mittagsruhe niederzulegen pflegte, um meist bis zur Hauptmahlzeit des Tages zu schlafen. Sein Sohn hatte indessen dann und wann einen der Nachbarn besucht, hatte gezeichnet und gemalt, oder war mit der Flinte hinaus in den Wald gegangen, um sein Glück als Jäger zu versuchen.

Abends hatte sich der Patient immer am besten befunden. Vater und Sohn hatten Schach, Piquet und Ecarté gespielt, der Major hatte von alten Freunden und Kameraden gesprochen, geraucht, alte Geschichten wieder und wieder erzählt, und oft war zwei Uhr herangekommen, ehe Mark ihn dazu vermochte, seine Huka ausgehen zu lassen und sich ins Bett zu verfügen. Seit den letzten acht bis zehn Tagen war dies alles anders geworden. Der alte Herr war nicht mehr bis in die Nacht hinein aufgeblieben, war nicht mehr im Garten spazieren gegangen, hatte sich nicht mehr in die Sonne gesetzt, und Mark hatte die Besitzung nicht mehr verlassen. Er fürchtete, sein Vater könne irgend einen Anfall haben, und hatte erst diesen Morgen einen Boten zu Doktor Burgeß geschickt, um ihn um seinen Besuch oder Rat zu bitten.

*

Inzwischen war der weiße Sonnenschirm näher und näher gekommen, ohne erraten zu lassen, ob er ein weibliches oder männliches Wesen unter seinem Dache berge. Endlich wurde der Dandy rücklings in die Veranda hinaufgetragen, dann umgedreht und niedergesetzt. Unter dem Sonnendache saß Daniel Pollitt!

»Onkel, du?« rief Mark.

»Ja, ich, mein Junge!« entgegnete der alte Herr, der sehr schlau und selbstzufrieden aussah und in einer Hand den Sonnenschirm, in der andern ein indisches Reisehandbuch hielt. »Aber reiße mir nur nicht die Arme aus ... laß mir doch Zeit zum Aussteigen! So ... Ich hatte mir vorgenommen, dich zu überraschen, und das ist mir offenbar gelungen,« setzte er, dem Neffen kräftig die Hände schüttelnd, hinzu.

»Und wie ist's dir gelungen! Aber wie in aller Welt hast du den Weg hierher gefunden? Warum hast du nicht lieber geschrieben?«

»Das werde ich dir alles später erzählen; jetzt gib mir vor allem was zu trinken. Zu essen brauche ich nichts, habe nur Durst.«

Onkel Dans kleine Augen schweiften, während er sich mit Whisky und Sodawasser erfrischte, über die verblichene Pracht des großen Speisezimmers, über die herrliche Aussicht, die man durch die hohen Fenster genoß, und blieben schließlich auf dem Neffen haften.

»Das Klima scheint dir nicht besonders zuzusagen, mein Junge,« begann er dann.

»Desto besser scheint es dir zu bekommen, Onkel.«

lautete die lächelnd gegebene Antwort. »Du siehst in jeder Beziehung vortrefflich aus.«

»Und wie geht es deinem Vater?«

»Ich fürchte, nicht ganz gut. Er ist in den vergangenen acht Tagen recht unpäßlich gewesen. Jetzt schläft er.«

»Desto besser, so kann ich dir inzwischen erzählen, was mich hierher treibt. Aber laß uns dazu hinausgehen, damit ich mir nach dem langen Sitzen in dem verwünschten Kasten die steifen Füße ein bißchen vertrete.«

Der Neffe gehorchte dem Wunsche bereitwillig.

»Und nun,« fuhr Onkel Dan fort, während beide nebeneinander herschritten, »nun will ich dir, um die Geschichte beim Anfang zu beginnen, vor allem sagen, daß ich deinen Brief erhalten habe und daß er mich selbstverständlich fuchsteufelswild machte. Ich war wie toll, und es beruhigte mich gar nicht, wenn gewisse Leute äußerten, sie hätten mir das voraussagen können; denn stille Wasser wären immer tief und so weiter. Ich war anfänglich fest entschlossen, dich schwimmen zu lassen und mich nicht wieder um dich zu kümmern. Dies dauerte etwa acht Tage; dann bekam ich eine zweite Nachricht, die mich in starre Verwunderung setzte. Meine Bankiers teilten mir mit, daß du fünftausend Pfund auf mich gezogen hättest. Du weißt nun wohl, mein Junge« – hier blieb der alte Herr mit einem Rucke stehen und erhob den Zeigefinger – »du weißt nun wohl, daß ich nicht geizig bin; aber eine solche Summe! ... Bitte, unterbrich mich nicht, lieber Mark. Ich hatte ja meine Bankiers in der Stille bevollmächtigt, deine Checks im Betrage von einigen hundert Pfund über meine Anweisung hinaus zu honorieren, – doch fünftausend Pfund! Ja, ja, ich weiß, du hast das Geld nicht erhoben, aber laß mich nur weiter erzählen. So schrieb ich denn nach Bombay, erkundigte mich nach den näheren Umständen und erhielt die Antwort, Herr Jervis habe das Geld persönlich in Gold und Noten in Empfang genommen und sei in Gesellschaft einer Dame nach Australien abgereist!«

»Nach Australien abgereist, und mit einer Dame!« rief Mark, an den jetzt die Reihe kam, plötzlich stehenzubleiben.

»Ja, und im Anfange glaubte ich auch, die ganze Sache klar zu durchschauen. Dein Brief war nur ein Vorwand, um Zeit zu gewinnen. Da ich in deine Verehelichung mit Fräulein Gordon nicht willigte, sondern auf deiner Heimkehr bestand, so hattest du, dachte ich, die Sache in die eigenen Hände genommen, hattest das Mädchen geheiratet und warst nach den Kolonieen ausgewandert. Ich behielt diese Ansicht für mich, worüber ich jetzt sehr froh bin; aber die Geschichte ging mir Tag und Nacht im Kopfe herum. Sie sah dir so gar nicht ähnlich, wohl aber sah sie Clarence sehr ähnlich. Und wo steckte denn dieser Clarence? Ich wollte schreiben, um nähere Erkundigungen einzuziehen, und hatte auch schon den Briefbogen vor mir liegen, als mir plötzlich einfiel, ob es nicht besser wäre, selbst übers Wasser zu gehen, anstatt einen Brief hinüberzuschicken. Meine Frau befand sich in Homburg, ich war allein zu Hause, fand an nichts rechtes Vergnügen und ging, um es kurz zu machen, auf das Dampfschiffbureau und löste mir ein Ueberfahrtsbillet für den nächsten Postdampfer.

»Ende August kam ich hier an. Auf dem Schiffe hatte ich die Bekanntschaft eines jungen, ungewöhnlich klugen Advokaten gemacht, der in Bombay wohnte und bald mein ganzes Vertrauen gewann. Ich erzählte ihm, was mich übers Wasser führte, holte seinen Rat ein und gab endlich mich und die ganze Angelegenheit in seine Hände. Dies war denn auch das Klügste, was ich thun konnte. Er rückte der Sache mit dem Check sofort nach unsrer Ankunft auf den Leib. Ich nahm das Papier in Augenschein, es trug deine eigenhändige Unterschrift; aber die Ziffer: »fünftausend Pfund« rührte von einer andern Hand her, von der Warings. Er hatte sich für dich ausgegeben, man erkannte auf der Bank seine Photographie. Ueber die Dame konnte ich nichts erfahren, als daß sie in die Passagierliste des Dampfers als Frau Jervis eingetragen war.«

»Und das ist noch nicht alles!« fiel Mark ein. »Er hat auch noch in ganz Shirani Schulden gemacht. Ich hatte ihm die Verfügung über unser Reisegeld gelassen, und er hat es verschleudert bis auf den letzten Heller.«

»Geschieht dir ganz recht, mein Junge!« lautete die lakonische Antwort.

»Gewiß, Onkel! Ich gab ihm, als ich Shirani verließ, auch noch einen Check auf fünfhundert Pfund, um alle Schulden zu bezahlen; aber ich war an dem Tage so voll Sorgen und andern Gedanken, daß ich fast glaube, ich habe das Formular nicht richtig ausgefüllt.«

»Allem Anscheine nach hast du's nicht gethan, und das kleine Versehen kostet mich viertausendfünfhundert Pfund. Aber sprechen wir nicht mehr davon. Ich hörte im Hotel, wo meine Nachbarn sich darüber unterhielten, sehr nette Sachen von Clarence. Wie er auf ›Teufel hole mich‹ gespielt, gewettet und den jungen Narren, der mit ihm reiste, (damit meinten sie natürlich dich!) ausgeplündert habe, und ich nahm mir dann, als ich mit Waring fertig war, vor, ein bißchen nach diesem jungen Narren zu sehen. Pedro, mein Diener, der sehr gut englisch spricht, und den der junge Advokat in Bombay für mich engagierte, ordnete alles für die Reise und sorgte aufs beste für mich. Trotzdem erlebte ich so viel Abenteuer, daß ich mehrere Nummern eines Witzblattes damit füllen könnte. Alles war mir neu und interessant, und die Gegend ist ja ganz herrlich. Natürlich ging ich über Shirani und sprach bei Sir Pelham und Lady Brande vor. Apropos, warum hast du mir denn nie gesagt, daß er einen Titel hat?«

»Aber wie kamst du zu den Brandes?« lautete Marks erstaunte Gegenfrage.

»Ja, das ist wieder eine andre Geschichte. Sage du mir erst, wie du dazu kommst, an Sir Pelham zu schreiben, in der Familie Jervis sei der Wahnsinn erblich?«

»Weil es die Wahrheit ist, die ich aber erst hier erfahren habe. Mein Großvater starb im Irrenhause, mein Onkel sprang über Bord in die See, mein Vater, der, Gott sei Dank, jetzt eine klare Periode hat, ist jahrelang geisteskrank gewesen.«

»Lügen, lauter Lügen!« rief Onkel Pollitt.

»Was willst du damit sagen, Onkel?« fragte Jervis mit bebenden Lippen und gierig forschenden Augen.

»Ich kenne die Familie Jervis und habe mich bemüht, genaues über sie zu erfahren. Dein Großvater, ein alter verdienter Offizier, starb in seinem eigenen Hause in Richmond, geistig vollständig gesund; dein Oheim, ein edler Menschenfreund, sprang über Bord, um einen andern vom Tode des Ertrinkens zu retten, wobei er das eigene Leben verlor. Dein Vater trug bei jenem Sturze in den Abgrund eine schwere Verletzung des Kopfes davon, und wahrscheinlich gehört es zu seinen fixen Ideen, alle andern Glieder seiner Familie für wahnsinnig zu halten.«

»Onkel, ich glaube, du kannst nicht ermessen, was du in diesem Augenblicke für mich thust!« rief Mark, den alten Herrn unterbrechend. »Du gibst mir das Leben, die Hoffnung wieder! Dieser Wahnsinn in der Familie war es ja, der mich veranlaßte, Honor Gordon aufzugeben, die ...«

»Die trotzdem noch immer an dir festhält,« versetzte der Oheim mit bedeutungsvollem Kopfnicken.

»Woher weißt du das?«

»O, in Anbetracht, daß ich erst seit vierzehn Tagen im Lande bin, weiß ich allerdings ziemlich viel; aber ich sehe, mein lieber Junge, daß diese Ueberraschungen zu mächtig für dich sind ...«

»O nein, sprich weiter, Onkel, solche Neuigkeiten können nie schaden!« rief der andre, leichenblaß vor Erregung.

»Nun denn! Ich befand mich also auf dem Wege nach Shirani, der sich in so endlosen Windungen hinzieht, daß man schier toll und verrückt dabei werden könnte. Meine Träger machten an einer der Bergquellen Halt, die alle paar Meilen zur Ruhe und Erfrischung einladen, und wir trafen an der letzten mit einer jungen Dame zusammen, die dort ihr Pony tränkte. Sie hielt ein weißes Hündchen auf den Knieen und sah so freundlich aus, daß ich, obgleich ich ein schüchterner Mensch bin, den Mut fand, sie anzureden. Ich fragte, ob sie Shirani kenne, und wie weit wir noch bis dahin hätten, und sie sagte mir, daß sie in Shirani wohne und der Ort noch etwa zwei Wegstunden entfernt liege.

»Wir hatten demnach denselben Weg und kamen weiter ins Gespräch, und da ihr Pony sich weigerte, den Hund zu tragen, und nach vorn und hinten ausschlug, sie den Hund, der, wie sie sagte, müde war, aber auch nicht laufen lassen wollte, so entschloß ich mich, das zapplige Tierchen mit aller seiner wahrscheinlichen Einquartierung zu mir in den Dandy zu nehmen. Das Mädchen hatte so liebe, gute Augen, daß man wahrhaftig alles für sie hätte thun können. Dann nannte ich ihr meinen Namen, sagte ihr, daß ich käme, um nach meinem Neffen zu sehen, und fragte, ob sie einen jungen Mann Namens Jervis kenne. Sie wurde purpurrot und bejahte meine Frage. Nun erkundigte ich mich auch nach ihrem Namen, hörte, daß sie Gordon heiße, und als ich darauf die Bemerkung hinwarf, dann hätte ich schon von ihr gehört, wurde sie womöglich noch röter. Genug, wir waren in kürzester Zeit die besten Freunde. Ich stieg aus, um neben ihrem Pferde herzugehen, und trug dabei den Hund, der sich weigerte, allein in dem Dandy sitzen zu bleiben, auf dem Arme, während sie mir allerlei von der Bergbevölkerung erzählte, mir den Namen einiger Bergkuppen nannte und mich einige hindostanische Worte lehrte.

»Dann fragte ich nach dem besten Hotel in Shirani. Sie erklärte mir, daß es kein solches gebe und daß ich als Gast im Hause ihres Onkels und ihrer Tante einkehren müsse, die sich beide sehr freuen würden, da sie meinen Neffen zu ihren liebsten Freunden rechneten.

»Thun Sie das nicht auch?« fragte ich. Sie blickte mir gerade in die Augen und sagte ›Ja‹. Ich stieg also richtig bei Brandes ab und bin, um die Sache kurz zu machen, ganz entzückt von der Familie. Ich weiß jetzt, was die Leute meinen, wenn sie von der Gastlichkeit in Indien sprechen, und glaube fast, ich fange schon an, für das Land zu schwärmen.«

»Und was sagst du zu Fräulein Gordon?« fragte der Zuhörer ungeduldig.

»Honor, willst du sagen. Ja, sie ist einfach reizend. Wenn sie es darauf abgesehen hatte, mir meinen alten Kopf zu verdrehen, so ist ihr das vollständig gelungen. Ihr Geigenspiel hat mich vollends bezaubert, und da ist eine Rose, die sie mir für dich mitgegeben hat, mein Junge.«

»O, Onkel, du bringst mir nichts als gute Nachrichten, es schwindelt mir fast, ich vermag kaum alles zu fassen.«

»Na, du armer Kerl, daß ich dir solche Nachrichten bringen kann, freut mich am allermeisten; denn du siehst aus, als hättest du sie sehr nötig,« sagte Dan Pollitt mit vor Rührung bebender Stimme. »Aber wollen wir nicht lieber hineingehen und sehen, ob dein Vater erwacht ist?«


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