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Vierzigstes Kapitel

Sechs Wochen waren dahingegangen. Mark fand, daß die Zeit, trotzdem er stets beschäftigt war, doch schwer totzuschlagen sei, und es schien ihm, als halte er sich nicht seit sechs Wochen, sondern schon seit sechs Jahren an seinem neuen Wohnorte auf. Die Regenzeit hatte begonnen. Die vom Himmel herniederströmenden Güsse und die Sturmwinde, die durch das Thal fegten, machten es an manchen Tagen unmöglich, sich im Freien zu bewegen, und ein trostloses Gefühl der Einsamkeit fing an, sich des jungen Mannes zu bemächtigen. Sein Vater verschlief einen großen Teil des Tages, und sonst hatte er keine Seele, mit der er ein Wort hätte wechseln können.

Eines Abends – das Unwetter hatte an diesem Tage etwas nachgelassen – ritt Mark, eben auf dem Nachhausewege begriffen, einen schlüpfrigen, durch dichten, dunkeln Tannenwald führenden Pfad hinab, als sein Pony plötzlich scheute und so heftig zur Seite sprang, daß es den Reiter beinahe abgeworfen hätte. Das Tier war über einen dicht am Wege liegenden Gegenstand erschrocken, den Jervis anfänglich für einen Bären hielt, bis ein unverkennbar menschlicher Schmerzenslaut an sein Ohr schlug.

»Was gibt's da?« fragte der junge Mann, rasch vom Pferde springend.

»Ich habe mir den Fuß verletzt und kann nicht weiter,« entgegnete eine weibliche Stimme in fließendem Hindostanisch.

Jervis warf den Zügel über den Arm, zündete ein Streichholz an und sah, das Licht mit der Hand beschattend, eine dem Anschein nach alte, dicht vermummte eingeborne Frau vor sich, die ihm in der Landessprache erzählte, sie habe sich durch einen falschen Tritt den Fuß verrenkt und sei nicht im stande, aufzutreten

»Sind Sie noch weit von Hause?« fragte er.

»Etwa anderthalb Stunden.«

»Und in welcher Richtung liegt Ihre Wohnung?«

»Auf dem Hügel über dem alten Kantonnement.«

»Der Weg ist mir bekannt. Wenn Sie glauben, daß Sie reiten können, werde ich Sie auf meinem Pony heimbringen.«

»Ist das Pony auch sicher? Ich bin nämlich ein großer Hasenfuß.«

»Gewiß, für das Pony kann ich einstehen.«

»Und ich kann so gar keine Schmerzen vertragen,« stöhnte die alte Frau, indem sie sich bemühte, aufzustehen, und dann, wieder zurücksinkend, ausrief: »Nein, nein, es geht nicht!«

Mark hob die Frau, die sich als eine sehr leichte Last erwies, ohne weiteres vom Boden auf, setzte sie in den Sattel und schlug, sein Tier am Zügel führend, den Weg nach der bezeichneten Richtung ein.

Der Pfad war in der Dunkelheit schwer zu finden; aber die alte Frau schien jeden Schritt des Terrains genau zu kennen und gab mit großer Sicherheit den Weg an, der fast immer in dichtem Gebüsch hinter dem ehemaligen Klubhause hin und schließlich zu einem winzigen Bangalo führte, hinter dessen Fenstern Licht brannte. Die Thür wurde von einer andern Eingeborenen und einem alten Manne aufgerissen, die, als sie erfuhren, was geschehen war, sofort in laute Klagen ausbrachen.

»Ich werde Sie ins Haus tragen,« schlug Jervis vor.

»Nein, nein!« protestierte die Patientin, und sich dann zu der Eingeborenen wendend, fuhr sie in gebieterischem Tone fort: »Anima, bringe einen Schemel heraus und hilf mir absteigen.«

Aber Anima erwies sich für die Aufgabe zu schwach, und das Ende der Sache war, daß der kräftige Arm des jungen Engländers die Leidende aus dem Sattel hob und sie ins Innere des Hauses trug. Als er sie hier sorgsam und vorsichtig auf den Boden niedersetzte, fiel ihr der Sari Ein langes Stück Zeug (Seide oder Baumwolle), das das hauptsächliche Kleidungsstück der indischen Frauen bildet und um die Taille befestigt ist, während das eine Ende fast bis auf die Füße herabfällt, das andre über den Kopf gezogen wird. (Anmerk. d. Uebers.) vom Kopfe, und zu seinem Erstaunen sah er im Lichte der Lampe eine Frau von zartester weißer Hautfarbe, schneeweißem Haar und einem Paar prachtvoller schwarzer Augen vor sich. Sie mochte fünfzig Jahr, vielleicht noch etwas älter sein, war aber trotz des jetzt schmerzlich verzogenen Mundes von großer Schönheit und trug sowohl im Gesicht, als in der Haltung alle Kennzeichen einer höheren Gesellschaftsklasse. Nein, das war keine Eingeborene, wenigstens hatte Mark noch keine Eingeborene solcher Art gesehen. Doch wer und was war sie dann?

Ein Blick ins Innere der Behausung steigerte noch sein Erstaunen. Anstatt des bei den Eingeborenen gewöhnlichen Wirrwarrs von Kochgeräten, Matten und Hukas erblickte er einen runden Tisch mit roter Decke, worauf ein Zeitungsblatt lag. Dahinter stand ein Armstuhl, und vor dem prasselnden Feuer des Kamins lag eine behaglich blinzelnde Katze.

Wer war diese Frau? Im Moment sollte er nicht mehr von ihr erfahren, denn die beiden Diener bemächtigten sich der Herrin, und einen Augenblick später stand er in Kälte und Finsternis draußen vor der Thür, die von innen verschlossen und verriegelt wurde. Das war der ganze Dank, den er erntete.

Langsam ritt er heim, das heißt das Pony verfolgte instinktiv den rechten Weg, während sein Herr, in Nachdenken über die fremde Frau versunken, auf seinem Rücken hing. Sie mußte auch, davon war er überzeugt, die geheimnisvolle Sängerin sein.

Als er einige Stunden später mit seinem Vater beim Kartenspiel saß, erzählte er diesem sein Abenteuer.

Major Jervis zeigte sich indessen nicht halb so erstaunt, als der junge Mann erwartet hatte, sondern sagte nur, ohne die Augen von den Karten zu erheben: »Ah, du bist der persischen Frau begegnet. Ich habe so lange nichts von ihr gehört, daß ich sie ganz vergessen hatte.«

»Eine Perserin?«

»Ja! Sie lebt seit Jahren hier in den Bergen und widmet sich der Pflege der Aussätzigen. Ihre Hautfarbe ist ganz weiß, und dabei hat sie kohlschwarze, fast unheimliche Augen.«

»Aber wer ist die Frau?« fragte Mark, indem er die Karten hinlegte und seinen Vater erwartungsvoll ansah.

»Eine Perserin, wie ich dir schon sagte,« entgegnete der alte Herr ungeduldig. »Aber warum interessierst du dich so lebhaft für sie?«

»Weil ich glaube, daß sie eine Engländerin ist.«

Der Major lachte.

»Sie ist aus Persien,« wiederholte er kurz.

»Aber was thut sie hier?«

»Danach mußt du sie selber fragen, nicht mich,« lautete die Antwort. »Ich meinesteils glaube, daß sie eine Christin ist, die irgend eine Sünde abzubüßen hat. Jedenfalls, das kann man ihr an den Augen ablesen, hat sie eine Vergangenheit. Aber nun laß uns weiter spielen. Du gibst aus.«

Mark, dem es, wie wir wissen, bis jetzt nicht vergönnt gewesen war, irgend etwas, weder über die Gegenwart, noch über Vergangenheit oder Zukunft in den Augen der geheimnisvollen Frau zu lesen, sollte bald Gelegenheit finden, das Versäumte nachzuholen.

Eines Tages, als er an dem alten Klubhause vorüberritt, erblickte er dort eine auf den Thürstufen stehende Gestalt, die ihm mit dem Stocke, den sie in der Hand trug, gebieterisch winkte, näher zu kommen.

Es war die »persische Dame«. Als er ihrem Wink Folge leistete, zog sie ihren Sari dichter über Kopf und Gesicht.

»Sahib, ich wollte Ihnen für Ihre freundliche Hilfeleistung von neulich meinen Dank aussprechen,« begann sie. »Wären Sie nicht gewesen, so hätte ich wohl die ganze Nacht in Kälte und Nässe liegen bleiben müssen.«

»Ich hoffe, es geht Ihnen jetzt schon wieder besser,« entgegnete Mark, die Mütze abnehmend.

»Ja, mein Fuß ist fast ganz heil. Obwohl ich Ihnen völlig fremd bin, weiß ich doch, daß ich den Sohn Sahib Jones' vor mir habe.«

»Der eigentliche Name meines Vaters ist Jervis, Major Jervis.«

»Ich habe auch schon durch die Aussätzigen von Ihnen gehört,« fuhr die Fremde fort.

»Und Sie sind die Dame, die zuweilen englische Lieder in der alten Kirche dort singt?«

Ein Schatten von Verlegenheit flog über das Gesicht der Frau, als sie antwortete: »Nein, ich bin eine Perserin aus Bushire. Wie sollte ich zur Kenntnis Ihrer Sprache und Ihrer Kirchenlieder kommen?«

»Wer kann dann hier gesungen haben?« fragte Jervis, sie scharf ansehend.

»Vielleicht war es eine Stimme aus dem Reiche der Toten,« gab sie in leichtem, spöttischem Tone zur Antwort.

»Jedenfalls sind Sie es aber, die den armen, kranken Paharis und den Aussätzigen so viel Gutes thut!« fuhr Mark fort.

»Ja, ich bin eine von den vielen; aber das Arbeitsfeld ist so groß; alles, was man thun kann, ist nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Ich wollte, ich könnte mehr leisten.«

»Ich glaube, das würde kaum möglich sein.«

»Soweit diese meine Hände reichen, thue ich, was ich kann,« fuhr sie fort, indem sie ein paar zarte, fein geformte Hände ausstreckte, »aber man vermag das Meer nicht mit einem Fingerhute auszuschöpfen. Hätte ich nur ein großes Haus, das sich zum Hospital einrichten ließe, so wäre einer meiner größten Herzenswünsche erfüllt. Ich verstehe ziemlich viel von der Medizin und ebenso mein Diener, und wenn wir unsre Kranken bei uns haben könnten, ließe sich viel erreichen.«

»Aber würde nicht schon einer dieser Bangalos Ihrem Zweck entsprechen? Könnten Sie nicht vielleicht gleich dies alte Klubhaus hier brauchen?«

»Gewiß, aber der Sirkar (Gouverneur) würde es mir nicht geben. Er hat mir schon meine Hütte überlassen, und wenn ich jetzt auch noch die Klub-Khana verlangte, so hieße das, die ganze Hand nehmen, nachdem er mir den Finger gereicht hat. Außerdem ist's ja immerhin möglich, daß sich die Station noch einmal bevölkert. Als ich die erste Zeit hier lebte, fanden zuweilen noch Picknicks und dergleichen auf diesem Platze statt. Freilich ist das lange her, und die Station ist jetzt vergessen und verödet.«

»Sie leben also schon seit Jahren und ganz allein hier?« fragte der junge Mann, verschluckte aber das »Warum?«, das ihm auf der Zunge schwebte.

»Ja, ich bin schon seit vielen Jahren tot für die Welt,« fuhr die seltsame Frau fort. »Wenn man mich recht berichtet hat, haben auch Sie dem Leben und seinen Freuden entsagt, und zwar, um sich Ihrem Vater in seinen alten Tagen zu widmen. Ist's nicht so?« fragte sie mit einer so lebhaften Gebärde, daß ihr der Sari in den Nacken glitt.

Jervis blickte ihr zum erstenmal tief in die schwarzen Augen und stimmte in Gedanken seinem Vater bei. Ja, diese Frau hatte eine Vergangenheit, eine tragische Vergangenheit!

»Sie bringen da ein edles, schönes Opfer!« fügte die Fremde hinzu; »aber, wie sagt der Koran? Wer gute Werke zum Himmel sendet, wird sie vor Gottes Thron wiederfinden!« Dabei streckte sie die Hand aus, um ihren Sari wieder über den Kopf zu ziehen.

Der junge Mann fuhr zusammen. Er hatte Honors Ring, den mit dem kleinen Karneol, an ihrem Finger erblickt und erkannt. Das junge Mädchen hatte die Gewohnheit gehabt, in lebhafter Unterhaltung diesen Ring am Finger zu drehen; man hatte sie oft damit geneckt, und er kannte den Reif genau. Wie kam er in die Hände dieser Frau?

Die Fremde verstand seinen Blick sofort.

»Der Ring fällt Ihnen auf,« sagte sie. »Er ist nur von geringem Goldwert; aber für mich ist er unschätzbar. Eine junge Dame, der ich nur einmal im Leben begegnet bin, hat ihn mir geschenkt, nachdem ihre Augen und ihr Geigenspiel mich gezwungen hatten, ihr die Geschichte meines Lebens zu erzählen.«

»Ich kenne die Dame!« rief Mark. »Sie ist jung, schön, schlank und hochgewachsen. Wo sind Sie mit ihr zusammengetroffen?«

»Sahib, das ist mein Geheimnis,« versetzte die Fremde nach einer Pause; »aber ich kann Ihnen ein andres Geheimnis verraten. Ich kann Ihnen sagen, daß Sie dieser jungen Dame in Liebe zugethan sind.«

»Wieso, woher wollen Sie das wissen?« stammelte Mark, bis unter die Haarwurzeln errötend.

»Ich lese es in Ihrem Gesicht. Die Leute hier in der Umgegend nennen mich nicht umsonst die ›weise Frau‹,« sagte die Fremde, indem sie sich erhob und zum Gehen anschickte. »Sie haben das Mädchen verlassen, und die dicke alte Frau, ihre Mutter, wird sie an einen andern verheiraten! Das wird die Belohnung dafür sein, daß Sie Ihre Pflicht gethan haben!« Mit dieser bitteren, dem früheren Hinweis auf den Koran widersprechenden Bemerkung machte sie dem jungen Manne eine tiefe Verbeugung und hinkte davon.


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