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Dreiunddreißigstes Kapitel

Die lange Nachmittagsruhe hatte den Major gekräftigt und erfrischt, und während er seinem Sohne bei Tische gegenübersaß, erschien er als ein ganz andrer Mensch und sprach nicht nur völlig vernünftig, sondern sogar geistreich und machte seine Witze über das schmutzige Tafeltuch, die räucherigen Ziegenkoteletts und andre Mängel des Tisches. Dann kam die Rede auf die verlassene Militärstation, an deren Existenz der Major sich noch sehr wohl erinnerte, sowie auf die Ansiedlung der Aussätzigen, die seine Pensionäre waren, allwöchentlich seinen Beitrag abholten und unter Aufsicht und Beistand der Missionare und andrer Menschenfreunde ein verhältnismäßig erträgliches Dasein führten. Im weiteren Verlauf des Abends erzählte der alte Herr von den ehemaligen Kameraden und gab eine Menge Anekdoten, die sich auf sie bezogen, zum besten.

»Und alle diese guten Freunde und Waffenbrüder hast du aus dem Gesicht verloren?« fragte sein Sohn.

Diese Frage wirkte wie eine böse Zauberformel. Alles Leben verschwand urplötzlich aus den Zügen des Erzählers; mit einem Schlage war er wieder der alte, hinfällige Mann von gestern.

»Ja, ich verließ sie vor sieben langen Jahren, wie ein verwundeter Hirsch das Rudel verläßt, habe mich seitdem vor den alten Kameraden versteckt und bin jetzt völlig vergessen,« gab er mit müder Stimme zur Antwort. »Nirgends wird man schneller vergessen als hier zu Lande.«

»Wieso, woher kommt das?« fragte der Sohn etwas ungläubig.

»Daher, daß man hier rascher lebt, als anderwärts. So vieles geht über einen dahin, tagtäglich finden Veränderungen aller Art statt. Cholera, Krieg und andre Zufälle und Ereignisse raffen die Menschen hinweg und verwischen ihr Andenken aus dem Gedächtnis der Zurückbleibenden,« entgegnete der Major düster.

Nachdem der Tisch abgeräumt war, der Major seine Huka, Mark seine Cigarette angesteckt hatte und Hassan und der andre Diener offenbar etwas widerwillig hinausgegangen waren, betrachtete der alte Herr seinen Sohn eine Weile aufmerksam, dann sagte er: »Du bist mir sehr ähnlich, Mark. Es ist mir, als ob ich mich selbst in meiner Jugend wiedersähe, und ich galt allgemein als ein hübscher Mensch, nur daß ich breiter und stärker gebaut war, als du. In manchen andern Dingen bist du deinem Vater überlegen. Du hast einen kräftigern Unterkiefer, einen festen, unbeugsamen Willen, und bist im stande, nein zu sagen. Ich habe das nie fertig gebracht und bin dadurch oft in die größten Unannehmlichkeiten geraten. Du hast also den Wunsch, daß ich dir nach England folge, mein Junge?«

»Ja,« lautete die ebenso einfache als bestimmte Antwort.

»Und ich wünsche, daß du hier bei mir bleibst. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Sieh mich nur an.«

Mark betrachtete die eingesunkenen Augen und das verfallene Gesicht des Sprechers.

»Du wirst nun schon bis zum Ende bei mir ausharren müssen, ich lasse dich nicht gehen. Dies eine Mal wenigstens sage ich nein!« fuhr der Major fort.

»Dennoch werde ich dich verlassen müssen, Papa, und zwar binnen kurzem. Ich habe Onkel Dan versprochen –«

»Ich weiß, was du sagen willst,« unterbrach hier der Major den Sprecher mit ungewöhnlicher Energie. »Aber du bist doch mein Sohn, nicht der seine. Ich habe dich entbehrt, seitdem ich nicht in England war, und habe in der weiten Welt niemand als dich. Seit Osman tot ist, bin ich freundlos, bin nur noch von Dienern umgeben, die wahre Blutsauger sind, und mein Erbe wartet mit Sehnsucht auf die Nachricht von meinem Tode. Ich bin ein alter, elender, verlassener Mann und flehe dich an, mein Sohn, mir nur einige wenige Monate deines Lebens zu opfern, bei mir zu bleiben und mich gegen die Feinde zu schützen, die mich umringen. Bitte ich vergeblich?«

»Du wünschest, daß ich bei dir bleibe?«

»Ja.«

»Und daß ich Onkel Dan im Stiche lasse?«

»Für kurze Zeit, ja! Das erscheint dir wohl grausam und egoistisch; aber ich bin der Ertrinkende, der nach einem Strohhalme greift. Nicht wahr, du bleibst?« setzte der Major mit bebender Stimme hinzu.

»Ich kann nicht; ich habe Onkel Dan hoch und heilig versprochen, zurückzukommen,« gab der Sohn fest zur Antwort.

»Onkel Dan ist reich, gesund, hat eine Frau und viele Freunde, er kann dich wohl für einige Zeit mir, dem kranken, einsamen Manne gönnen,« fuhr der Major fort. »Der Allmächtige hat mich schwer getroffen. Wenn du mich meinem Schicksale überläßt, um herrlich und in Freuden weiter zu leben, so wirst du dies eines Tages bitterlich bereuen. Osmans Pflicht ist dir zugefallen; willst du, mein Sohn, mein eigenes Fleisch und Blut, weniger an mir thun, als jener arme, ungebildete Mann, der von fremdem Stamme und nicht Christ, sondern Mohammedaner war?«

Dabei streckte er die Hand nach dem Sohne aus und ließ die Augen mit bittendem Blicke auf ihm ruhen. Der junge Mann war unter dem Andrange der Gefühle blaß geworden, und dicke Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn.

»Nun, Mark, gib mir Antwort,« fuhr der Major in heiserem Flüstertone fort. »Entscheide dich kurz, sage ja oder nein.«

»Das kann ich nicht so ohne weiteres, Papa,« bat der Sohn aufstehend. »Du mußt mir Zeit lassen. Gib mir achtundvierzig Stunden Zeit zur Ueberlegung.«

»Dahinter steckt noch etwas andres als der Onkel, dahinter steckt ein Weib!« sagte der alte Herr, indem er aufstand und die Hand schwer auf die Schulter seines Sohnes legte.

»So ist es!« gab Mark, seine aufrechte Haltung bewahrend, zurück. »Eine Stunde vor Empfang deines Briefes habe ich ein junges Mädchen um ihre Hand gebeten.«

»Und ihre Antwort hat, das brauchst du mir gar nicht zu sagen, bejahend gelautet; denn du bist jung, reich und hübsch! Aber es gibt ja viele Weiber in der Welt! Jeder Mann kann, wenn er sonst will, fünfzig Ehefrauen bekommen, aber er hat nur einen Vater.«

»Für mich gibt es nur eine Frau auf Erden,« entgegnete der Sohn stolz.

Major Jervis richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und maß den Sohn eine Weile mit kalten, sarkastischen Blicken; plötzlich aber verwandelte sich der Ausdruck seines Gesichts in den schäumender Wut. Er machte eine Bewegung mit der Hand, als wolle er den Sohn samt der Erwählten seines Herzens von der Oberfläche der Erde hinwegfegen, schlug dann mit Heftigkeit einen Vorhang zurück und verschwand hinter seinen Falten.

Nachdem Mark eine Viertelstunde auf das Wiedererscheinen des Vaters gewartet hatte, begab er sich nach seinem eigenen Zimmer. Dort ging er eine Weile auf und ab, löschte dann die Lampe, riß die Fenster auf und that einen langen, langen Atemzug. In seinen brennenden Schläfen klopfte es wie mit Schmiedehämmern. Jeder Nerv, jede Fiber seines Wesens war in dem Seelenkampfe, den er durchzumachen hatte, aufs äußerste angespannt.

Auf der einen Seite standen Honor Gordon, sein gütiger, großmütiger Onkel, den er liebte und verehrte, gute, liebe Freunde, ein Leben voll Sonnenschein und Behagen – auf der andern Seite lag das, was er hier vor sich und um sich sah, und sein Vater, sein unglücklicher, elender, vereinsamter Vater, der sich nicht fortbringen lassen wollte und den er doch auch nicht verlassen konnte, sein Vater, der in der Kindheit für ihn gesorgt und ihn geliebt hatte. Konnte er denn wirklich hinter dem Mohammedaner Osman zurückbleiben, der aus Liebe und Anhänglichkeit gethan hatte, was ihm, dem Sohne, die einfachste Pflicht gebot?

Der Major konnte noch viele Jahre leben! Aber war er, der Sohn, etwa drauf und dran, dem alten Manne den Tod zu wünschen? Er schauderte. War es schon so weit mit ihm gekommen? Hatten zwei Tage hier im Dschangel hingereicht, ihn in eine Bestie zu verwandeln?

Nahm er aber auf sich, was er klar und einfach als Pflicht erkannte, so wurde er von seinem Onkel enterbt und mußte auf Honor Gordon verzichten. Denn hierher konnte er sie doch unmöglich bringen, und er selbst nannte keinen Pfennig sein eigen. Zwei Nächte vorher hatte er vor innerer Glückseligkeit kein Auge schließen können, jetzt war es das Unglück, das ihn um die Nachtruhe brachte. Er mußte hinaus, um das Fieber in seinen Adern durch körperliche Ermüdung zu stillen!

Im Hause fand er alles ruhig. Alle Thüren standen offen, in der Vorhalle stolperte er über eine Ziege, die sich mit ihren beiden Jungen hier zur Ruhe niedergelassen hatte, sonst stieß er im Erdgeschosse auf nichts Lebendiges.

Er stieg die Stufen der Veranda hinab und hier schlugen ihm plötzlich, zu seiner Ueberraschung, aus nur geringer Entfernung heiteres Lachen, munteres Geschwätz und der schwirrende Ton einiger Tamtams entgegen. Diesen Tönen nachgehend, bog er um die Ecke des Hauses und gelangte zu einem geräumigen Platze, der durch ein halbes Dutzend flammender Fackeln und ein großes in der Mitte brennendes Feuer hell erleuchtet war. Eine Menge von Eingeborenen, die sich an den graziösen Bewegungen und dem schrillen Gesange zweier indischer Tänzerinnen offenbar höchlich erfreuten, füllte den Platz. Es wimmelte hier von vergnügten Menschen. Man hatte an der einen Stelle einen Trinkstand, an der andern ein Spielzelt aufgeschlagen, und Jervis, der unbemerkt im Schatten des Hauses stehen geblieben war, beobachtete eine Weile voll Erstaunen das Gelage.

Zuerst erkannte er aus der Menge den Khitmatgar (Diener) heraus, obwohl er den Turban abgelegt hatte und die langen, fettglänzenden Haare nach Frauenart in der Mitte gescheitelt und zu beiden Seiten über die Schultern herabhängend trug. Er spielte mit drei andern Männern Karten; eine Flasche und ein Becher standen zum gemeinschaftlichen Gebrauch neben der Gruppe, und der Mann verfolgte das Spiel mit so gespannter Aufmerksamkeit, daß ihm die Augen förmlich aus dem Kopfe zu treten schienen. Während dessen widmete sich der schieläugige Diener den Tänzerinnen und feuerte sie von Zeit zu Zeit durch wahnsinnigen Beifall an.

Einige scharfe Worte des jungen Sahib, der gleich einem Geiste plötzlich mitten auf dem Festplatze erschien, wirkten wie ein elektrischer Schlag auf die Versammlung. Alles verstummte erschrocken, und bald wurde von allen Seiten das Davonhuschen flüchtiger Füße hörbar.

»Was hat diese Tollheit zu bedeuten?« fragte der Sahib den mit dem Mute der Trunkenheit vor ihm stehenbleibenden Hassan.

»Tollheit?« wiederholte dieser mit der Miene gekränkter Würde. »Wir feiern eine Tamasha zur Hochzeit von meines Schwagers Sohn. Ich denke, daß der Sahib, wie andre junge Sahibs Tanzmädchen, Karten und Wein ebenfalls gern hat, und was die Tollheit anbetrifft – nun, dies Haus ist ja nichts als eine poggle-khana (ein Tollhaus).«

»Was willst du damit sagen, Schuft?« rief Jervis.

»Ich sage, was wahr ist und was alle Welt weiß!« lautete die trotzige Antwort. »Sollte der blonde Sahib der Letzte sein, der es erfährt, daß der alte Mann verrückt ist? Fragen Sie nur den Doktor oder Cardozo Sahib. Der alte Herr spricht manchmal ein ganzes Jahr lang kein Wort, manchmal spricht er Unsinn und macht Selbstmordversuche. Osman hat ihn immer gut gehütet, aber jetzt, nachdem der tot ist, wird's bald mit dem Sahib zu Ende gehen. Das Haus wird bald aufhören, eine poggle-khana zu sein, und die ganze nuker-log (Dienerschaft) wird heimgehen können.«

»Du kannst das jedenfalls schon morgen thun,« entgegnete der Sahib in geläufigem Hindostanisch.

»Sie sind hier nicht der Herr, von Ihnen nehme ich keine Befehle an!« sprudelte Hassan starr vor Staunen hervor.

»Daß ich's bin, sollst du bald erfahren, Schurke, und wenn du mir noch einmal unter die Augen trittst, wie jetzt, haue ich dir die Seele aus dem Leibe. Jetzt schicke deine Gäste heim. Sage ihnen, daß die Tamasha aus ist, lösche die Fackeln, krieche in dein Nest und schlafe deinen Rausch aus.«

Hassan stand wie versteinert und suchte vergeblich nach Worten. Das entschlossene Wesen des jungen Mannes und seine sprühenden Augen überwältigten ihn. Stumm schlich er davon, um den empfangenen Befehlen nachzukommen.

Major Jervis ließ sich am nächsten Morgen nicht sehen, und sein Sohn bestieg sein Pony, um einen langen, einsamen Ritt zu machen. Wohin er ritt, wußte er selbst kaum, denn er war innerlich zu beschäftigt, als daß er auf die Umgebung hätte achten sollen. Daß sein Vater geistig gestört war, ließ sich nicht bezweifeln. Die Kopfwunde, die er sich beim Sturze mit dem Wagen zugezogen hatte, war, allem Vermuten nach, die Ursache. Die Frage, die Mark sich selbst vorzulegen hatte, lautete nur: mußte er sein Leben und sein eigenes Glück der Sohnespflicht opfern? Mußte er auf Freunde, Vermögen und seine Liebe verzichten, um hier in dem gelben Hause, abgeschnitten von allem, was Leben heißt, zu verkümmern? Oder sollte er, im Gegenteil, den Kopf seines Ponys gen Shirani wenden, um zu Honor und zu allen Freuden der Welt zurückzukehren? Würde ihm aber in diesem Falle nicht der Gedanke an die elende Existenz des Vaters, den er fremden Händen überlassen hatte, jeden Genuß, jede gute Stunde vergiften?

»Und doch liegt hier vor mir ein Leben, das schlimmer ist, als der Tod,« rief er in heißem Kampfe laut vor sich hin. Wohl hatte er als junger Thor sich oft irgend eine schwere Aufgabe, Gelegenheit zu einer heldenhaften That gewünscht, die ihn über andre, gewöhnliche Menschen emporheben sollte! Eine Aufgabe, wie die, welche hier vor ihm lag, war ihm nie in den Sinn gekommen!

Es war schon spät am Nachmittage, als Mark wieder vor der Veranda des gelben Hauses abstieg und hier zu seinem Erstaunen einen Kuli fand, der ein schweißdampfendes Pony auf und ab führte. Noch mehr setzte es ihn aber in Verwunderung, als er in der Veranda einen Mann erblickte, der es sich auf einer Chaiselongue bequem gemacht hatte und mit augenscheinlichem Genusse seine Cigarre rauchte. Als der Fremde des jungen Mannes ansichtig wurde, erhob er sich aus seiner liegenden Stellung, stellte sich auf seine fetten Beine, starrte Mark einige Augenblicke an und sagte dann: »Ich bin Fernandez Cardozo, und Sie sind der Sohn des Majors Jervis, also mein Vetter.«

»Allerdings, ich bin der Sohn des Majors Jervis,« entgegnete ziemlich steif der junge Mann, der nun seinerseits den Erben seines Vaters mit kritischen Blicken maß. Der Fremde war ein kleiner, fetter Mann von dunkler Hautfarbe, mochte etwa vierzig Jahre alt sein, hatte einen runden Kopf, kurz geschorenes, graumeliertes Haar, ein rundes, gutmütiges Gesicht, hübsche schwarze, lustige Augen und einen großen Mund voll blendend weißer Zähne.

»Ein Eingeborener von gemischtem Blute, aber kein ganz übler Mensch,« lautete Marks Urteil.

»Was für ein hübscher, junger Mensch; man sollte nicht denken, daß er der Sohn des armen alten Mannes da drinnen sein könnte,« dachte Fernandez Cardozo, während er den andern vom Kopf bis zu den Füßen betrachtete.

»Sie sind also sein Sohn: aber ich bin sein Erbe!« sagte er endlich mit einem öligen Lachen.

»Ja, der Erbe seines Vermögens, das heißt des Vermögens seiner Frau, Herr Cardozo. Bitte, wollen Sie sich nicht niedersetzen?« lautete die ruhige Antwort.

»Sie sind noch nicht lange hier?« fragte der andre, seinen früheren Platz einnehmend.

»Nein, erst seit zwei Tagen.«

»Und wie finden Sie den alten Herrn?«

»Ich habe erst jetzt gehört, daß er nicht mehr ganz ... ganz klaren Geistes ist. Er hat mir seit Jahren nicht geschrieben, und ich konnte seine Adresse nur schwer erfahren.«

»›Nicht ganz klaren Geistes‹ ist sehr mild ausgedrückt.«

»Meinen Sie?« fragte Mark, Cardozo mit feindlichen Blicken messend.

»Sie werden bald gleicher Meinung sein,« versetzte der andre. »Aber werden Sie mir nicht böse und nehmen Sie mir nichts übel! Die Leute, die Fernandez Cardozo kennen, wissen, daß er im Grunde ein guter Kerl ist und niemand Böses will. Aber wollen wir nicht lieber hineingehen und zusehen, ob es vielleicht etwas zu essen gibt?«

»Gewiß, ich hätte schon eher daran denken sollen.«

»O bitte, keine Entschuldigungen; ich bin ja hier zu Hause. Hassan, du fettes, faules Schwein, gib mir was zu essen!« rief er dem herbeikommenden Diener zu. »Aber bringe mir nicht etwa von deinem Hundsfutter, sondern was Ordentliches, ein Kotelett oder dergleichen. Hole auch von meinem Wein herauf!« Und dann sich wieder zu dem jungen Manne wendend, fuhr er fort: »Der Major wird leider nicht mit uns speisen. Er haßt mich und kommt, wenn ich im Hause bin, nicht zum Vorschein.«

Und diese Voraussagung erfüllte sich in der That. Major Jervis erschien nicht bei der Mahlzeit, sondern ließ sich nur empfehlen und speiste auf seinem Zimmer. Das Mahl war um vieles besser als gewöhnlich; augenscheinlich hatte Hassan Hilfsmittel, die er für besondere Gelegenheiten aufsparte.

»Wir haben einen schönen Mondscheinabend,« bemerkte Fernandez. »Lassen Sie uns unsre Cigarre draußen schmauchen. Ich genieße, wenn ich hier bin, gern die Bergluft, und außerdem sind wir draußen vor Horchern sicher.«

»Osman war ein großer Verlust für den Major,« begann Fernandez, nachdem die beiden draußen Platz genommen und ihre Cigarren in Brand gesetzt hatten, »ein sehr großer Verlust!«

»Nach allem, was ich höre, scheint es so,« entgegnete Mark.

»Das ist's auch, was mich veranlaßt hat, hierher zu kommen,« fuhr der andre fort. »Ich halte es für meine Pflicht, zuweilen nach dem Major zu sehen und seine Angelegenheiten zu ordnen und zu überwachen, so gut ich kann.«

War da nicht wieder ein Mensch, vor dem sich Mark zu schämen hatte?

»Erzählen Sie mir etwas von meinem Vater,« bat der junge Mann. »Die letzten sieben Jahre seines Lebens sind mir immer noch ein Buch mit sieben Siegeln.«

»Na, zuerst war er einmal auf der Jagd mit dem Pferde gestürzt, und das war nicht ohne üble Folgen geblieben, so zum Beispiel sah er von der Zeit an alles doppelt, und der Sturz mit der Tonga gab ihm den Rest. Osman brachte ihn hierher, und zeitweise ging auch alles gut. Er war dann so gesund, wie Sie und ich, interessierte sich für Haus und Garten und für alles, was vorging; aber dann kamen wieder schlimmere Zeiten. Er sprach jahrelang kein Wort, verfiel in tiefe Schwermut, machte Selbstmordversuche; so zum Beispiel versuchte er einmal, sich an einem Steigbügelriemen zu erhängen und so weiter,« fuhr der Erzähler, seine Stimme dämpfend, fort. »Ich brauche Ihnen wohl weiter nichts zu sagen.«

»Nein, ich verstehe und begreife ...« lautete die beinahe im Flüstertone gegebene Antwort.

»Er mußte immer jemand bei sich haben, jemand, den er gern hatte, womöglich einen Menschen, der durch seinen starken Willen Einfluß auf ihn ausübte, und ein solcher Mensch war Osman. Er war einfach unschätzbar, und ich weiß noch nicht, woher man einen Ersatz für ihn bekommen soll,« schloß Fernandez seine Rede.

»Ich werde ihn ersetzen!« lautete die völlig unvermutete Antwort.

»Sie!« rief Cardozo, indem er den Sprecher mit dem Ausdrucke äußerster Ungläubigkeit in den großen, runden Augen ansah und kreidebleich wurde. »Sie wissen wohl nicht, was Sie da sagen,« fuhr er dann, die Cigarre aus dem Munde nehmend und den jungen Mann noch immer starr anblickend, fort: »Verzeihen Sie mir die Offenheit, aber selbst ich, der ich hier im Lande geboren und erzogen bin, muß bei diesem Gedanken lachen. Selbst ich würde das Leben hier nicht länger als eine Woche aushalten, ohne verrückt zu werden. In einem Monate wäre ich tot.«

»O, ich bin nicht so leicht umzubringen, ich bin zäher, als Sie vielleicht glauben,« entgegnete Jervis.

»Aber Sie wissen gar nicht, was Sie auszuhalten hätten!« rief der andre erregt. »Diese tödliche Einsamkeit, diese Einförmigkeit! Tag für Tag nichts als Frühstück, Tiffin, Mittagessen, dann ins Bett. Keine Beschäftigung, keine Hoffnung, keinen Umgang, als den mit den Eingeborenen und etwa mit den Missionaren! Das Ende läßt sich voraussehen. Es bleibt Ihnen ja schließlich gar nichts übrig, als sich den Hals abzuschneiden oder sich dem Trunke zu ergeben.«

»Sie bieten Ihre Beredsamkeit vergeblich auf, Cardozo; ich werde thun, was ich gesagt habe.«

Der kleine Mann blies einige Zeit schweigend den Rauch seiner Cigarre in dicken Wolken von sich, dann fuhr plötzlich etwas, wie ein Strahl von Freude über sein Gesicht, und mit einem gewissen gutmütigen Lächeln begann er von neuem: »Es geht mit dem Major jetzt sehr schnell bergab! Seine Gesundheit ist in schlechtem Zustande, er hat sich in der letzten Zeit merklich verändert, und seine fünf Sinne wird er wohl nie wieder richtig beisammen haben; das liegt in der Familie, ist erblich.«

»Was liegt in der Familie? Was ist erblich?« fragte Mark erschrocken.

»Der Wahnsinn! Der Major selbst hat Mercedes erzählt, und sie hat es mir wieder erzählt, daß sein Bruder, der sich in Begleitung zweier Wärter auf der Heimreise befand, über Bord gesprungen ist und den Tod im Wasser gefunden hat, und daß sein Vater im Irrenhause zu Richmond starb.«

»Ist das wahr?« fragte Jervis mit erstickter Stimme.

»Na, Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Sie davon nichts wüßten? Sollte mir sehr leid thun. Ich habe ja ganz außer acht gelassen, daß Sie der Sohn sind. Aber Ihr ganzes Wesen ist auch so grundverschieden von dem seinigen, daß man die Verwandtschaft vergißt.«

Jervis rang vergeblich nach einer Antwort, er brachte kein Wort hervor. Mit bebender Hand warf er die Cigarette über die niedrige Mauer, auf der die beiden gesessen hatten, stand auf und schritt dem Hause zu, in dessen dunklem Eingange er bald verschwand.

»Erblich!« das Wort stand wie in Flammenschrift vor seinen geistigen Augen, »erblich belastet!«


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