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Vierunddreißigstes Kapitel

Die sich schnell verbreitende Nachricht, daß der junge Jervis in der Nacht plötzlich verschwunden sei, rief in Shirani große Aufregung hervor, und die verschiedensten Gerüchte und Auslegungen dieses seltsamen Benehmens schwirrten durch die Luft. Aber niemand, als etwa Frau Langrishe und Lalla, glaubte an ein falsches Spiel von seiner Seite, und als zehn Tage vergingen, ohne daß man von ihm hörte, fing man an, ihn zu vergessen. Nur die Ponies, welche die Buchstaben M. J. auf den Schabracken trugen und täglich von den Stallknechten ausgeritten wurden, riefen ihn zuweilen ins Gedächtnis der Leute zurück.

Um diese Zeit erschien Hauptmann Waring wieder auf der Bildfläche. Er kam direkt von Simla, aber keineswegs in seiner gewöhnlichen guten Stimmung nach dem verachteten Shirani zurück. Auf dem ganzen Wege hatte er seine Ponies und seine Kulis verflucht, als trügen diese armen Teufel die Schuld an seinen Enttäuschungen, seinem Unglück und dem gänzlichen Ruin, vor dem er stand. Er war ein verzweifelter Mensch, der sein unglückliches Reittier die letzten zwei Meilen staubigen Weges hinauf bis aufs Blut spornte. In Shirani angekommen, war Clarence sehr erstaunt, Haddon Hall verlassen zu finden, nickte aber verständnisvoll und schien alles zu begreifen, als ihm der Diener erzählte, daß ein Pahari ein Schreiben gebracht habe, worauf der Sahib sofort abgereist sei. Das einzige, was er sich nicht zu erklären vermochte, war die lange Dauer der Abwesenheit Marks. Zehn Tage war er, wie Mahomed sagte, schon fort! Ihm, Clarence Waring, würden zwei Tage zur Erfüllung der Pflichten gegen diesen seltsamen Vater genügt haben.

Der Hauptmann war mit seinen Mitteln, die ihm so unerschöpflich erschienen waren, wie das Oelkrüglein der Witwe, zu Ende. Er hatte sich auf wahnsinnig hohes Spiel mit Leuten eingelassen, die geschickter oder glücklicher waren, als er; seine Ehrenschulden hatten eine bedenkliche Höhe erreicht und mußten, wollte er sich nicht den schlimmsten Verlegenheiten aussetzen, in den nächsten Tagen bezahlt werden. Auch seine übrigen Schulden waren zahllos, und die Rechnungen hagelten nur so auf ihn hernieder, seitdem der Esel Binks in Simla geplaudert und alles verdorben hatte. Fräulein Potter hatte ihn seitdem nur noch über die Achsel angesehen, im Klub hatte man ihn kühl behandelt, zusammenstehende Gruppen hatten ihr Gespräch unterbrochen, wenn er hinzutrat, genug, es war eine Krise eingetreten, die ihn zwang, nach Shirani zurückzukehren und Marks Hilfe anzurufen. Traf er den jungen Mann nicht an, oder versagte dieser seinen Beistand und weigerte sich, dem Versinkenden die Hand zu reichen, so öffnete sich der Abgrund unter Warings Füßen und er ging unter, wie Tausende und Tausende seinesgleichen schon untergegangen sind.

Nachdem Waring ein Bad genommen, etwas gegessen und eine Cigarre geraucht hatte, fing er indessen an, sich etwas besser zu fühlen, und machte sich daran, seine Lage ruhiger ins Auge zu fassen und sich die Dinge zurecht zu legen. Er hatte seine eigenen Ponies, sowie seine Waffen verkauft, um mit dem Erlös seinen dringendsten Gläubigern den Mund zu stopfen. Jetzt wollte er zu Marks sehr kostbaren Gewehren und Ponies greifen und ihren Verkauf noch heute im Klub ankündigen. Mit dem erzielten Preise ließen sich für ihn und Jervis sowohl die Ueberfahrt nach England, als die augenblicklichen laufenden Ausgaben bestreiten, und mit den fünfhundert Pfund von Mark konnten die Schulden in Shirani beglichen werden; aber man mußte dann ohne jeden Aufenthalt abreisen; denn bei dem Bankier hatte er auch den letzten Pfennig erhoben. Allerdings waren von dem einjährigen Urlaub, den ihnen Onkel Dan gegeben hatte, nur acht Monate abgelaufen. Man stand erst in der Mitte des Juni, aber der Boden Indiens war für Hauptmann Waring zum zweitenmal zu heiß geworden und trug ihn nicht mehr. Je schneller er alle Geschäfte abwickelte, desto besser, und so wollte er denn auch sofort ans Werk gehen. Zuerst mußte er indessen die etwa verkäuflichen Sachen seines Vetters in Augenschein nehmen.

So begab er sich denn nach Marks Zimmer, dem einfachsten und schlechtesten der vorhandenen Schlafgemächer, das nur mit einem Feldbett, einer wackligen Kommode und einer verschossenen Fußbodenmatte möbliert war. Im übrigen standen da eine lange Reihe von Stiefeln, auf einem Gestell hingen mehrere Sättel und an der Wand eine Reihe kostbarer Gewehre, deren Verkauf, nach Warings flüchtiger Schätzung, wenigstens dreizehnhundert Rupien einbringen mußte.

Bei der weiteren Besichtigung des Raumes fiel dem Hauptmann ein auf der Kommode liegender Streifen Papier in die Augen. Es war eine Tanzkarte, und Waring, der auf Kleinigkeiten viel gab, besah sie genauer. Sie war ganz ausgefüllt, und neben drei Tänzen standen die Buchstaben » H. G.«

»Aha, die Geschichte geht also noch weiter!« brummte er vor sich hin. »Aber was zum Kuckuck ist denn das?« setzte er hinzu, als seine umherschweifenden Blicke einen in Seidenpapier gewickelten länglichen Gegenstand wahrnahmen.

Er rollte das Päckchen auseinander und hielt einen sehr schönen Fächer von weißen Straußenfedern in der Hand, der das Monogramm H. G. trug.

»So bläst also der Wind, mein Junge!« sagte der Hauptmann leise lachend, während er das Papier wieder um den Fächer schlug und ihn an seinen Platz zurücklegte. »Na, du sollst früher wieder daheim sein, als du dir träumen läßt, und ich werde von dem Onkel eine besondere Belohnung dafür einheimsen, daß ich dich aus solchen gefährlichen Umstrickungen frei gemacht habe.«

Dann schlenderte Clarence Waring in erstaunlich guter Laune nach den Ställen.

»Ich ärgere mich nur, daß er das graue Pony genommen hat!« murmelte er in den Bart. »Es ist das beste für weite Entfernungen und seine fünfhundert Rupien unter Brüdern wert.«

Und, wie merkwürdig! Das herbeigewünschte graue Pony kam, mit seinem Herrn im Sattel, noch an demselben Nachmittage gegen vier Uhr nach Shirani zurück. Der Hauptmann hatte sich nach dem Klubhause begeben, und Mark machte sich, ohne seine Rückkehr zu erwarten, sofort daran, seine Sachen zu packen und allerlei Anordnungen für seine Uebersiedlung zu treffen. Dann erklärte er seinem Diener, daß er künftighin bei seinem Vater, in der Nähe von Hawal-Ghât, zu leben gedenke, und daß Mahomed und sein Sohn ihm am nächsten Morgen mit dem Gepäck dahin folgen sollten.

Jan Mahomed empfing diese erstaunliche Mitteilung nach der gewöhnlichen Art und Weise der Eingeborenen, das heißt mit unbeweglichem Gesicht und einer tiefen Verbeugung.

Ja, Marks Wahl war getroffen, er hatte sich selbst, zu des Majors großer Befriedigung und zu Cardozos maßlosem Erstaunen, das Todesurteil gesprochen. Der Major war krank gewesen, und das hatte seinen Sohn gehindert, früher nach Shirani zurückzukehren, um seine Angelegenheiten zu ordnen und die inzwischen angekommenen Briefe in Empfang zu nehmen. Unter diesen Briefen lag auch einer von Onkel Dan seit acht Tagen uneröffnet auf dem Schreibtische. Er lautete:

 

»Lieber Mark!

»Habe Deine Zeilen erhalten und beantworte sie auf der Stelle. Auf das, was Du über das junge Mädchen sagst, gehe ich im einzelnen nicht ein; denn ich mißbillige die Sache im ganzen. Du weißt, mein Junge, ich habe Dir noch nie etwas abgeschlagen; aber hier muß ich entschieden nein sagen, denn Dein Wohl und Wehe liegt mir am Herzen. Ich kann Dir nicht erlauben, Dich an das erste, beste junge indische Mädchen wegzuwerfen. Es war sehr richtig, daß Du mich von allem unterrichtetest – und da Du ihr bis jetzt keine Erklärung gemacht hast, so unterlasse das auch ferner. Ich denke, Du wirst hier ein hübsches, wohlerzogenes junges Mädchen aus guter Familie, das niemals durch den Suezkanal gefahren ist, zur Frau nehmen.

»Komm sofort nach Hause! Die müßigen Tage in der Sommerfrische haben Deinem sonst so klaren Kopfe nicht gut gethan. Kehre deshalb heim, so schnell Du kannst. Dein Vater braucht Dich augenscheinlich nicht; aber ich bedarf Deiner. Was die junge Dame anbetrifft, so schenke ihr ein Pony, eine Diamantbrosche, oder was Du sonst willst, nur nicht Herz und Hand.

Dein Dich liebender Onkel
D. Pollitt.«

 

Als Mark die Augen von diesem Briefe erhob, begegneten sie den auf ihn gerichteten prüfenden Blicken Jan Mahomeds.

»Ist der Sahib krank gewesen, vielleicht das Dschangelfieber gehabt?« fragte der treue Mann besorgt.

»Nein, Jan, ich bin ganz gesund. Aber heute geht ja wohl die Post nach England ab, und da möchte ich einen Brief mitsenden, den du mir hintragen sollst. In zwanzig Minuten wird er fertig sein. Und laß doch auch dem Kapitän Sahib sagen, er möge heimkommen, ich sei hier.«

Dann begann er den Brief an seinen Onkel. Die Arbeit war keine leichte, er hatte schon mehreremal in Hawal-Ghât den Versuch gemacht, zu Papier zu bringen, was ja doch gesagt werden mußte, hatte die beschriebenen Blätter aber immer wieder zerrissen. Jetzt war ein längerer Aufschub unmöglich, die Post ging in einer Stunde ab. Er schrieb:

 

»Lieber Onkel Dan!

»Seitdem ich Dir das letzte Mal schrieb, bin ich bei meinem Vater gewesen. Er schickte nach mir, und ich machte mich sogleich auf den Weg; denn er that mir zu wissen, daß er sehr krank sei. Ich fand ihn in einem etwa zwanzig Meilen von hier liegenden, ganz einsamen Hause, das den Cardozos gehört und das er unter dem Namen Jones seit sieben Jahren bewohnt. Ich hätte ihn nie wieder erkannt, so krank, gebrochen und alt sieht er aus, wie man mir sagt, infolge des Unfalles, wobei seine Frau ums Leben kam. Aber das ist noch nicht das Schlimmste; schlimmer ist, daß er geistig gestört ist, woraus sich denn auch sein seltsames gänzliches Verstummen und noch manches andre erklären läßt. Zuweilen, wie zum Beispiel jetzt, ist er vollständig klar und heiter, während er zu andern Zeiten in die tiefste Abspannung und Schwermut versinkt, und tage-, ja wochenlang kein Wort spricht. Dabei ist er sich seines Zustandes voll bewußt und hat sich gerade deshalb in die Einsamkeit zurückgezogen. Bis vor wenigen Wochen hatte er einen seiner ehemaligen Untergebenen, einen höchst schätzbaren Menschen, bei sich, dieser ist aber kürzlich gestorben, und mein Vater erlitt dadurch einen unersetzlichen Verlust. Und nun, Onkel Dan, muß ich Dir etwas gestehen, was Deinen Beifall und Deine Zustimmung nicht finden wird: jetzt, nachdem der treue Mann seinen alten Herr verlassen hat, betrachte ich es als meine Pflicht, zu versuchen, ob ich seinen Platz auszufüllen vermag. Mein Vater ist ein verlorener, vom Tode bereits gezeichneter Mann. Er hat keinen Menschen, der sich seiner annimmt, als mich, er bittet mich, bei ihm zu bleiben, und ich kann ihn nicht im Stiche lassen. Wahrscheinlich wirst Du, lieber Onkel, mich im ersten Augenblicke des Unrechts an Dir und der Undankbarkeit zeihen; aber ich weiß, daß Du an meiner Stelle ebenfalls so und nicht anders handeln würdest.

»Deinen Brief, Fräulein Gordon betreffend, habe ich hier vorgefunden. Natürlich ist jetzt alles zwischen uns aus und vorbei. Aber daß sie nicht gut genug für mich sein sollte! Umgekehrt wäre richtiger. Sie ist das einzige weibliche Wesen, das ich je geliebt habe und je lieben werde, und so gedenke ich, unbeweibt zu bleiben und dereinst als Hagestolz zu sterben. Mein Leben hat eine ganz neue Gestalt, ein völlig andres Gesicht angenommen, und ich stehe einer unabweislichen Pflicht gegenüber. Was Du aber auch immer von mir denken magst, lieber Onkel, meine Liebe und Anhänglichkeit für Dich werden nie einen Wechsel erleiden, ich werde Dir allezeit ein treues und dankbares Gedenken bewahren.

»Clarence ist heute von Simla zurückgekommen. Ich habe ihn noch nicht gesehen, denn ich bin erst seit einigen Stunden hier, um meine Sachen zusammenzupacken, meine Diener zu entlassen und Fräulein Gordon Lebewohl zu sagen. Wenn Du sie nur einmal gesehen und gesprochen hättest, Du würdest nicht an das Geschenk eines Ponys oder einer Brosche gedacht haben. Morgen früh kehre ich nach Hawal-Ghât zurück. Das Leben, dem ich entgegengehe, ist kein heiteres; mache es nicht noch dadurch härter, lieber Onkel, daß Du unversöhnlich bleibst. Ich weiß, Du wirst anfänglich fest überzeugt sein, mir nie verzeihen zu können; aber nach und nach wirst Du doch milder denken lernen. Bitte, schreibe mir zuweilen und schicke mir Zeitungen unter der Adresse »Mr. Jones« über Shirani. Vielleicht bist Du auch so gut, meinen Namen aus den Listen der verschiedenen Klubs streichen zu lassen. Die Pferde könntest Du, wenn es Dir recht ist, nach Deiner Meierei auf die Weide schicken.

Dein Dir in herzlicher Liebe ergebener Neffe
M. Jervis.«

 

Mark überlas diesen sehr flüchtig geschriebenen Brief, der viele ausgestrichene Stellen zeigte, nicht noch einmal, sondern steckte ihn hastig in ein Couvert, versah ihn mit der Adresse und schickte ihn so schnell ab, daß es fast aussah, als fürchte er, andrer Ansicht zu werden, wenn er sich Zeit zur längeren Ueberlegung gönnte.


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