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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Mutter Brande war, was vielleicht manchen Leuten lächerlich erscheinen mag, durch Bens Tod tief erschüttert. Weder die Teilnahme der Freunde, noch der hübsche, kleine Stein auf der Grabstätte Bens, der seinen Namen trug, war im stande, sie zu trösten, und ein allerliebstes junges Hündchen, das Mark mit vieler Mühe herbeigeschafft hatte, fand wenig Gnade vor ihren Augen und wurde einfach ins Kellergeschoß zu den Leuten verwiesen.

Unter diesen Umständen gab der Hausarzt ihrem Manne den ernstlichen Rat, sie durch irgend etwas, vielleicht durch eine kleine Reise, auf andre Gedanken zu bringen. »Sie machen ja dann und wann einen achttägigen Ausflug in die Berge, und ich würde Ihnen raten, einen solchen jetzt vorzunehmen,« sagte er.

Diese Vergnügungsreisen pflegten nicht in wilde, schwer zugängliche Gegenden zu führen, sondern beschränkten sich meist auf zivilisiertere Teile des Landes, die von guten Reitwegen und gebahnten Straßen durchschnitten sind und in angemessenen Entfernungen erträgliche Unterkunft bieten.

Leider bekam Frau Sladen, die man zu der Partie eingeladen hatte, wie gewöhnlich von ihrem Gatten keinen Urlaub, und Jervis, der so gern teilgenommen hätte, wagte nicht, Shirani zu verlassen, weil er befürchtete, die erwartete Botschaft von seinem Vater könnte während seiner Abwesenheit eintreffen. Die gemeinschaftlich zurückzulegenden langen Wegstrecken würden die herrlichste Gelegenheit zum Zusammensein unter vier Augen mit Honor geboten haben, er hätte ihr, während er an ihrer Seite hinritt, alles erzählen können; aber freilich war er jetzt unsicherer als je, ob sie sich für seine Mitteilungen interessieren würde. Ihr Zorn, als Holdchen das heiligste Geheimnis seines Herzens ausgeplaudert, und der Blick, mit dem sie ihn gestreift hatte, als er die Wahrheit des Kindermundes bestätigte, hatte ihn vollständig irre gemacht. Waring war im Rechte gewesen, als er von hochmütigen Augen sprach. Ihr Zorn war damals schnell, wie ein rasch vorüberziehendes Gewitter vorüber gewesen, und sie hatte sich sogar herbeigelassen, ihre Heftigkeit zu entschuldigen, ohne indessen die leiseste Anspielung auf jene Bestätigung der Wahrheit zu machen, die zu bemerken sie offenbar gar nicht der Mühe wert gehalten hatte.

So sagte er sich denn wieder und wieder, daß er, wenigstens soweit die Sache Honor betraf, das Geheimnis seiner Identität und seiner glänzenden Aussichten ruhig in seiner Brust verschlossen halten könne. Die zwei Tage, die zu den Reisevorbereitungen nötig waren, verwendete er dazu, Bens Porträt zu vollenden. Dabei blieb er viel allein und war so schweigsam und niedergeschlagen, daß Mama Brande auf den Gedanken kam, er habe Schmerzen an dem verletzten Arme, und ihm eine Menge Verhaltungsmaßregeln für die Zeit gab, wo sie abwesend sein und er wieder in Haddon Hall wohnen würde. Außerdem übernahm er die Verpflichtung, jeden Tag einmal nach Rookwood zu kommen, um nach dem Rechten zu sehen, ein Auge auf den Hühnerhof und die Ponies zu haben, wie darauf zu achten, daß die Farne ordentlich begossen wurden; genug: er wurde – ein noch nie dagewesenes Zeichen von Vertrauen – zum Statthalter und Hausverwalter bestellt.

Dann hatte man Abschied genommen. Jervis, der die Reisenden ein Stück Weges begleitet hatte, war umgekehrt und trabte allein, und in tiefe Gedanken verloren, nach Shirani zurück. Mama Brande schaukelte in ihrem bequemen Tragsessel durch die köstliche Gegend dahin, während Onkel Pel und Honor meist auf tief schattigen Waldwegen voranritten, bald über Pässe und Hügel, bald durch tiefe Gründe, immer umweht von der leichten, klaren Bergluft, in der alles so frisch und schön aussah und die Umrisse der Bäume und Berge sich so scharf und deutlich von dem wolkenlosen blauen Himmel abhoben. Hatten sie einen Tagesmarsch von etwa sieben bis acht Wegstunden hinter sich, so kehrten sie, meist schon am frühen Nachmittage, immer in einem andern Gasthause zur Nachtruhe ein. Am dritten Tage gelangten sie zu einem kleinen, abgelegenen Bangalo, der außer der Veranda nur drei Gastzimmer enthielt, wovon zwei bereits besetzt waren.

Ein solcher Zufall hatte sich nicht voraussehen lassen und war noch nicht dagewesen. Die zuerst angekommenen Reisenden waren zwei mit Vermessungsarbeiten beschäftigte Ingenieure und eine allein reisende Dame. Onkel Brande sah ziemlich ratlos aus, und während er mit dem Wirt über die Herstellung einer Art von Zelt in der Veranda verhandelte, das ihm zum Schlafraum dienen sollte, nahm Honor ihre Geige und schlenderte davon.

Nachdem sie den Abhang eines hinter dem Bangalo liegenden Hügels erklommen hatte, setzte sie sich im Schatten eines dichten Gebüsches von Bambus und Elefantengras nieder und begann sanfte, rührende Weisen, eine Art Lieder ohne Worte, in die sie sich, die Augen auf den in voller Glorie am Horizont herabsinkenden Sonnenball gerichtet, so tief und ernst versenkte, daß sie die Flucht der Zeit nicht bemerkte. Erst das Aufblinken eines Sternes und das Erscheinen der schmalen Mondsichel am Himmel erinnerte sie an die Rückkehr unter das Dach des Bangalos. Ein Stück, das dem kleinen Hause in Hoyle und seinen Insassen galt, sollte jetzt den Schluß bilden, und sanft und sehnsüchtig ließ sie die Melodie: »Traute Heimat meiner Lieben« in die stille, milde Abendluft hinausklingen.

Leise wie ein Hauch verhallte eben der letzte Ton, als Honor ein leises Echo im Dickicht hinter sich zu vernehmen glaubte. War das ein menschlicher Seufzer? Sie fuhr empor und blickte sich um. Ihre Bewegung war so schnell, daß sie noch eine kleine, schmale, vorsichtig zurückgezogene Hand wahrnehmen konnte, sowie eine leise Bewegung des Grases, als gleite ein lebendiges Wesen, Mensch oder Tier, verstohlen durch die Halme. Jede Spur von Farbe war aus dem Antlitz des jungen Mädchens gewichen.

Der Platz war sehr einsam und abgelegen, und, war es Wirklichkeit oder Einbildung, es schien Honor plötzlich, als habe er etwas Geisterhaftes, Unheimliches. Einen Augenblick später stürzte sie die Hügellehne hinab und auf den Bangalo zu, so schnell ihre Füße sie nur zu tragen vermochten.

Atemlos langte sie im Hause an, als man gerade die Lampe in ihr und Tante Saras gemeinschaftliches Zimmer brachte. Aber sie behielt ihr Abenteuer für sich; denn vielleicht war doch alles nur ein Spiel der Phantasie gewesen, und sie kannte Onkel Pels Art und Weise, solche Dinge zu behandeln, nur zu gut. Im Moment war er außerdem durch die Aussicht, die Nacht in der Veranda verbringen zu müssen, etwas verstimmt. Er war zu Erkältungen geneigt, die scharfe Bergluft wirkte sowieso nachteilig auf seinen Rheumatismus, und Tante Sara hatte soeben vorgeschlagen, einige höfliche Zeilen an die beiden Ingenieure zu richten und sie um einen Platz in ihrem Schlafzimmer zu bitten. »Sie können ja im schlimmsten Falle nur nein sagen,« setzte sie in ermutigendem Tone hinzu.

»Ich habe aber keine Lust, mich diesem schlimmsten Falle auszusetzen,« lautete die etwas herbe Antwort.

»Ich bin überzeugt, sie würden sich glücklich schätzen, einem Manne in deiner Stellung gefällig zu sein, Pel. Es ist ja gar keine große Sache, und außerdem ist's mir, als hätten wir den einen von den jungen Leuten schon irgendwo getroffen; den mit dem blassen Gesicht und dem Fischkorbe. Ich glaube, es war unten in Orai. Erinnerst du dich nicht an den jungen Menschen mit dem dummen Gesicht?«

»Wenn du ihn mir nicht näher beschreiben kannst, liebe Sally! Ich kenne eine ganze Menge junger Leute mit dummen Gesichtern,« versetzte Pel trocken.

In diesem Augenblicke trat Nuddu, der Diener, ein, verbeugte sich tief und meldete: »Die Mem Sahib im andern Zimmer läßt unsrer Miß Sahib ein Nachtlager in ihrem Gemache anbieten.«

»Da wärst du ja untergebracht, Honor!« rief der Onkel vergnügt.

»Wer ist diese Mem Sahib?« fragte seine Frau in ihrem überlegensten Tone.

»Eine eingeborene, sehr reiche Dame,« lautete die überraschende Antwort.

»Eine Eingeborene?« riefen Tante und Nichte gleichzeitig; und die letztere setzte dann hinzu: »Ich finde das sehr gütig von der Dame, und Sie können ihr sagen, Nuddu, daß ich, wenn ich sie nicht belästige, die Einladung mit Vergnügen annehme.«

»Honor!« rief die Tante entsetzt.

»Du bist ein Mädchen nach meinem Herzen, Honor,« fiel der Onkel ein. »Du bist durch und durch Gold, nicht bloß galvanisch vergoldet. Ich glaube, die meisten unsrer jungen Damen würden es abgelehnt haben, das Zimmer mit einer Eingeborenen zu teilen!«

»Auch ich, obgleich ich keine junge Dame mehr bin, würde zu denen gehören, die ablehnen!« rief seine Frau. »Du wirst sehen, Honor, sie wird die ganze Nacht Betel kauen und Opium rauchen, und ihre Weiber werden um die Thüre herum hocken, mit Glotzaugen umherstarren, fortwährend miteinander flüstern und Kardamom und andre Gewürze essen. Laß nur allen Schmuck und deine Uhr hier bei mir. Wirklich, Pel, ich kann dir nur sagen, daß du unter hundert jungen Mädchen kaum eines fändest, das, um deine alten Glieder vor Rheumatismus zu schützen, einwilligen würde, in demselben Raume mit einer Begum zu übernachten.«

*

Honor zog sich um neun Uhr zurück. Tante Sally nahm Abschied von ihr, als ob sie zum Schafott ginge, und das Mädchen betrat das Zimmer der Begum, das nach hinten heraus lag, mit aller möglichen Vorsicht, um die bereits im Bett liegende, anscheinend schlafende Frau, deren Gesicht mit einem dünnen Tuche bedeckt war, nicht zu stören. Das Gemach war, wie landesüblich, weiß getüncht und enthielt nichts, als die gewöhnliche Bastmatte, einen Tisch, zwei Stühle und zwei Betten. Eine düster brennende Lampe verbreitete nur unvollkommen Helle; von dem Gefolge der Begum war nichts zu sehen.

Honor entkleidete sich schnell und schlüpfte so geräuschlos als möglich in ihr Bett. Sie war sehr müde, denn sie hatte den ganzen Tag im Freien zugebracht und fiel bald in einen tiefen, gesunden Schlaf. Plötzlich wurde sie durch einen Lichtschein und das Gefühl geweckt, daß sich jemand über sie beuge. Im Moment hatte sie erkannt, daß eine fremde Frau an ihrem Bette stand, die in fließendem Englisch flüsterte: »O, verzeihen Sie mir.«

»Sie sind Engländerin?« rief Honor erstaunt, indem sie sich aufrichtete und überrascht die Augen rieb; denn sie hatte sich die Begum wenigstens mit Ringen in der Nase gedacht.

Die Frau an ihrer Seite brach, statt aller Antwort, in ein krampfhaftes Schluchzen aus, fiel auf die Kniee und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»O, sagen Sie mir, was haben Sie, was ist Ihnen geschehen?« rief Honor, indem sie unwillkürlich ihre Hand auf die Schulter der Weinenden legte.

»Ich bin sehr, sehr unglücklich, unglücklicher, als Sie sich denken können,« sagte schluchzend die Frau. »Ich saß oben im Walde und hörte Sie spielen, und als Sie dann eine Weise, die ich seit länger als dreißig Jahren nicht gehört hatte, das: ›Traute Heimat meiner Lieben‹ anstimmten, da schmolz mir das Herz in der Brust. Ich fühlte, ich mußte Sie sprechen, denn ich liebte Sie, obgleich ich Sie nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte! Ich bat Sie, mein Zimmer zu teilen, um Sie heimlich betrachten zu können und mir Ihr Bild in die Seele zu prägen; aber nun sind Sie erwacht,« fuhr die Fremde fort, indem sie bittend zu Honor aufblickte, »nun sind Sie erwacht und haben mich entdeckt.«

Zu ihrem Erstaunen bemerkte Honor, daß sie eine alte Frau vor sich hatte, wenigstens war das Haar der Knieenden schneeweiß; ihre Augen waren dunkel und scharf wie die eines Falken, die Züge des bleichen, eingefallenen Gesichts von wundervoller Reinheit und Schönheit der Zeichnung. Die Frau, die da kniete und Honors Hände mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte, mußte einmal sehr schön gewesen sein, ja, sie war es noch.

»Ich betrachtete Sie, während Sie schliefen; habe ich doch seit fünfunddreißig Jahren nicht das Antlitz eines jungen, unschuldigen englischen Mädchens gesehen,« fuhr die Frau in einer Art heiserem Geflüster fort. »Ich bin auch einmal gewesen, wie Sie jetzt sind, Ihr Spiel erweichte mein versteinertes Herz, und ich fühlte, ich mußte Sie sehen und vielleicht sprechen, ehe der Tod mich erlöst.«

»Aber welcher Kummer bedrückt Sie?« fragte Honor, teilnahmsvoll die feinen, abgezehrten Hände drückend, welche die ihrigen umschlossen. »Was ist Ihnen geschehen? Wer sind Sie?«

»Ja, wer bin ich? Die Frage wird nie eine Beantwortung finden. Mein Schicksal selbst verpflichtet mich zum Schweigen. Sie haben wohl von den englischen Frauen gehört, die als Opfer des großen indischen Aufstandes fielen?« fuhr sie, ihre Stimme zu einem noch leiseren Flüstertone dämpfend, der Honor wie ein eisiger Hauch berührte, fort.

»Ja, die armen Seelen; aber ich bin stolz auf diese meine Landsmänninnen.«

»Ich bezweifle, daß Sie auf mich stolz sein werden. Sie sprechen von denen, die dem Tode mutig ins Auge sahen, ihn stolz in aufrechter Haltung erwarteten und ihren Nacken selbst den Schwertern derer darboten, die sie hinschlachteten wie eine Herde Vieh. Ich aber spreche von – von – den andern – die – Gott im Himmel, wie soll ich das diesem Kinde erklären! – die fortgeschleppt wurden und für immer in der eingeborenen Bevölkerung untertauchten und verschwanden. Ich,« dabei sah sie Honor starr in die Augen, »ich bin eine von diesen Unglücklichen, die ihre Ehre, ihren Namen, ihre Seele verloren haben. Nur Gott kann mir helfen und mich erlösen!«

Eine tiefe Stille, die nur durch das Knistern der Lampe unterbrochen wurde, trat ein. Dann fuhr die Fremde in rauhem Tone fort: »Ich kniee hier und erwarte, daß Sie mich anspeien!«

»Um Gottes willen, wie sollte ich!« flüsterte Honor.

»Hören Sie mir zu. Ich will die Lampe auslöschen und mich hier auf den Boden setzen und Ihnen meine Geschichte erzählen.«

Eine Sekunde später war die Stube völlig dunkel, und die Finsternis schien der Fremden Mut einzuflößen, denn sie sprach lauter, so daß Honor jedes Wort deutlich zu verstehen vermochte: »Vor fünfunddreißig Jahren stand ich etwa in Ihrem Alter, war aber bereits seit Jahresfrist verheiratet. Wir beide, ich und mein Mann, der im Militärdienste stand, waren sehr glücklich. Da brach der große Aufstand aus; aber wir hatten keine Ahnung, daß wir davon berührt werden könnten, sondern hielten, wie alle andern, unsre Station für ganz sicher. Eines Sonntags, als wir alle in der Kirche waren und inmitten der Litanei eben zu Gott flehten, uns vor Krieg, Mord und einem bösen, schnellen Tode zu bewahren, erhob sich draußen plötzlich Lärm. Wir hörten Geschrei und Schüsse. Die Betenden sprangen auf, um, leider zu spät, die Thüren zu schließen. Viele wurden niedergehauen, ich sehe die blutigen Leichen noch vor mir, viele andre, unter ihnen auch ich, flüchteten in den Glockenturm, dessen Treppe unsre Männer verteidigten. Hier hielten sie die Angreifer so lange in Schach, daß diese die Geduld verloren und, nachdem sie die Kirche in Brand gesteckt, davongingen, um sich der Waffen und des Schatzes der Station zu bemächtigen. Wir kamen nun alle herunter und fanden unsre Wagen, Ponies und Stallknechte, in der Mehrzahl wenigstens, wie gewöhnlich da unsrer wartend, wo wir sie gelassen hatten. Wir stiegen ein oder saßen auf und machten uns im gestreckten Galopp auf den Weg zu einem befreundeten Rajah (eingeborenen Fürsten), um uns unter seinen Schutz zu stellen. Viele von den Männern, unter ihnen auch mein Gatte, blieben zurück, um womöglich einige Soldaten zu sammeln und Arsenal und Schatzkammer zu retten. Der Rajah wohnte etwa sieben Wegstunden von unsrer Station, und wir kannten ihn gut, denn er hatte sich zu allen Bällen, Rennen und andern Vergnügungen bei uns eingestellt. Wir waren unsrer fünfzig, die seinen Schutz in Anspruch nahmen, den er indessen, unter dem Vorwande, sich selbst dadurch in Gefahr zu bringen, verweigerte. Am folgenden Morgen wies er uns aus seinem Hause.

»In der Hoffnung, noch irgend eine andre englische Station zu erreichen, ritten wir weiter. O Gott, welch ein angstvoller, trauriger Ritt war dies! Aber kaum hatten wir zwei Wegstunden zurückgelegt, als wir uns zwei Eingeborenen-Regimentern, die uns entgegenkamen und zu den Meuterern gehörten, gegenübersahen. Alle, die Männer wie die Weiber und Kinder, erhielten den Befehl, abzusteigen und wurden, waffenlos, wie sie waren, erbarmungslos niedergemetzelt. Ach, diese Straße, diese zwischen zwei Zuckerrohrfeldern hinlaufende, von Blut gerötete Straße! Ich werde sie nie und nimmer vergessen! Und wie mutig und stolz die meisten dem Tode entgegengingen! Eine junge Dame, ein Fräulein Miller, sah aus wie das Bild einer christlichen Märtyrerin. Ruhig schritt sie vorwärts und bot ihr Haupt ohne ein Wort, ohne einen Laut des Schreckens oder der Klage dem tödlichen Streiche. Dann kam Frau Earl mit ihren beiden kleinen Kindern an die Reihe, und ihnen folgte der junge Clarke, der schon in der Kirche verwundet worden war. Ich gehörte zu den letzten, war ohnmächtig geworden, und da die Mörder mich wahrscheinlich für tot hielten, hatten sie mich in einen Graben geworfen. Als ich wieder zu mir kam, kroch ich heraus und in ein Zuckerrohrfeld, wo ich mich zu verbergen suchte. Aber ein berittener Soldat entdeckte mich, mein weißes Kleid wurde zum Verräter, und mit geschwungenem, blutigem Schwerte kam er auf mich zu. Aber irgend etwas hielt ihn ab, den tödlichen Streich zu führen, ich glaube, es war meine Schönheit; denn ich war damals sehr schön. Er versprach, mir das Leben zu schenken, und ich nahm das Geschenk an. O, bedenken Sie,« fuhr die Erzählerin unter krampfhaftem Schluchzen fort, »bedenken Sie, daß ich damals kaum zwanzig Jahre alt war, daß ich den Tod in seiner schrecklichsten Gestalt vor Augen gehabt hatte, und beurteilen Sie mich nicht so hart, wie ich mich selbst beurteile. Der Mann kam gegen Abend wieder und brachte mir die dunklen Kleider einer Eingeborenen, die ich über meine hellen Kleider zog, und als die Sterne am Himmel standen, hob er mich auf die Kruppe seines Pferdes und brachte mich nach Lackno. Dort gingen wir, um Aufsehen zu vermeiden, zu Fuß, und es gelang mir, ihm im Gedränge zu entwischen, indem ich in eine enge Seitenstraße einbog. Im dunklen Thorbogen eines Hauses verborgen, sah ich ihn suchend vorübereilen und atmete erleichtert auf; aber ach, meine Freude war von kurzer Dauer. Ein alter Mann öffnete plötzlich das Pförtchen hinter mir und sah mich aufmerksam an. Er erkannte sofort die Fremde und zog mich ins Haus. Was nützte mir mein Schreien, ich war eine Gefangene in der Löwenhöhle.

»Der alte Mann hielt mich verborgen, steckte mich in die Kleider einer Eingeborenen, nannte mich seine Schwiegertochter und gab mich seinem Sohne zum Weibe. Dieser, ein schwaches, halb blödsinniges Geschöpf, starb, und ich war Witwe, eine indische Witwe, und lernte kennen, was das heißt! Wer beschreibt die namenlose Grausamkeit des alten Weibes, meiner Schwiegermutter, wer die Mißhandlungen, die mir von den übrigen Hausgenossen zu teil wurden. Sie verwünschten mich, spieen mich an, ein jeder kühlte an mir seine Rache für irgend eine Unbill, die ihm geschehen. Ich verfiel damals in fast vollständigen Stumpfsinn, fühlte nichts mehr und dachte nichts mehr. Mein Umgang beschränkte sich nur auf die Eingeborenen, ich sah und hörte nichts mehr von Landsleuten, und selbst die Wiedereinnahme der Stadt erfuhr ich erst drei Jahre später. Ich überschritt die verhängnisvolle Schwelle nie wieder und war, wie ja meine Familie auch glaubte, tot und begraben.

»Endlich starb meine Schwiegermutter, und nun lockerte der alte Mann, der sich mir immer freundlich erwiesen hatte, meine Fesseln. Er gestattete mir mehr Freiheit, und ich fing wieder an, aufzuleben. Ich sprach hindostanisch so gut wie die Eingeborenen, erschien bei meinen Ausgängen nur verschleiert, wie die Mohammedanerinnen, und die Verkäufer im Bazar hatten keine Ahnung, daß eine Mem Sahib zwischen ihnen auf und ab ging. Man glaubte, ich sei eine Perserin – die persischen Frauen sind von sehr heller Hautfarbe – und nur eine alte Frau und ihre Tochter kannten das Geheimnis. Dann und wann verschafften mir diese beiden eine englische Zeitung oder ein englisches Buch, sonst hätte ich wohl die Muttersprache gänzlich verlernt, und so lebte ich fünfzehn lange Jahre, bis mein Schwiegervater starb und mir, da er keine näheren Verwandten hatte, sein ganzes großes Vermögen hinterließ.

»So zog ich denn mit den beiden Frauen und einem alten treuen Diener davon. Ich erinnerte mich an Shirani und fand in den Bergen ein Häuschen, worin ich nun lebe. Nach allen unten in der Ebene erduldeten Leiden kam ich mir hier in den Bergen vor, wie im Himmel. Stellen Sie sich, wenn Sie können, das entsetzliche Dasein in einem kleinen Hofe im bevölkertsten Teile der Stadt vor, das durch Fäulnis vergiftete Wasser, die Fliegen, die Gerüche! Ich müßte ja längst daran gestorben sein, wenn es nicht immer nur die guten, die geliebten Menschen wären, die der Tod hinwegrafft. Mich verachtete und verschmähte er! Ich habe jetzt ein bedeutendes Einkommen und muß zweimal im Jahre selbst nach Lackno, um es persönlich zu erheben, komme soeben von dort zurück und begegne hier zum erstenmal einem weiblichen Wesen. Sonst ist dies kleine Wirtshaus immer leer und einsam.«

»Und wo haben Sie Ihren stehenden Wohnsitz?« fragte Honor in teilnehmendem Tone.

»In diesen Bergen, aber viele Meilen von hier. Ich habe jetzt meine Bücher, Blumen, Geflügel und meine Armen, das heißt ich versuche, das Geschick der Aussätzigen zu mildern.«

»Und Sie sind ganz allein?«

»Ja, allein für immer, und nur Sie wissen jetzt meine Geschichte. Sie ist auch nur für Ihre Ohren.«

»Und Ihre Verwandten?«

»Sie halten mich für tot, und ich bin es auch. Sie haben in der Kirche, wo wir zuerst angegriffen wurden, zu meinem Gedächtnisse ein schönes Fenster gestiftet – ich las die Beschreibung in den Zeitungen – mein Mann hat wieder geheiratet.«

»Hat wieder geheiratet?« rief Honor erschrocken.

»Warum sollte er nicht? Seine Kinder sind inzwischen herangewachsen, sein Sohn ist Offizier, seine älteste Tochter ist zwanzig Jahre alt. Man hat ihr in der Taufe den Namen seiner ersten Frau gegeben, des armen jungen Geschöpfes, das während des Aufstandes auf der Straße von Bhogulpore erschlagen wurde.«

»Ein entsetzliches Schicksal!« rief Honor tiefbewegt.

»Und so kommt es, daß ich weder einen Namen, noch Verwandte, noch Freunde habe.«

»Lassen Sie mich Ihre Freundin sein!« sagte das junge Mädchen, indem sie die Hand der Unglücklichen herzlich drückte.

»Wie heißen Sie, mein liebes Kind?«

»Honor Gordon.«

»Honor ist ein hübscher Name. Sie an meiner Stelle würden lieber gestorben sein, als in Unehre gelebt haben; ich sehe es an Ihren Augen. Ach, ich hatte nicht den Mut dazu, hatte niemals Schmerz ertragen können; das Leben schien mir so süß, jedes Leben schien mir dem Tode, noch dazu einem so plötzlichen, schrecklichen, gewaltsamen Tode, vorzuziehen!«

»Und wie heißen Sie?« fragte Honor nun auch.

»Nussiband.«

»Ich meine, mit Ihrem christlichen Namen. Wollen Sie mir den nicht sagen?«

»Ich selbst habe ihn beinahe vergessen, und niemand wird ihn je erfahren, auch nach meinem Tode nicht. Die Leute in der Gegend kennen mich als die persische Frau, die in der Nähe von Hawal-Ghât lebt.«

»Lassen Sie mich irgend etwas für Sie thun! Sie werden, Sie müssen mir erlauben, Ihnen in irgend einer Weise zu Hilfe zu kommen.«

»Was könnten Sie für mich thun, liebes Kind?« fragte die Fremde in hoffnungslosem Tone.

»Sie werden mir erlauben, Ihnen zu schreiben, nicht wahr? Und ich darf Sie besuchen und sehen, ob ich Ihr Leben nicht ein wenig zu erheitern vermag?«

»Ganz unmöglich! Es hat mir wohlgethan, daß ich Ihnen, einer Landsmännin, meine Geschichte erzählen konnte, und Sie sollen dafür gesegnet sein. Und nun geben Sie mir ein kleines Andenken, etwas, das mich nicht an Sie erinnern soll, denn das ist nicht nötig, ich werde Sie nicht vergessen, aber irgend eine Kleinigkeit, die mir teuer sein wird, weil sie Ihnen gehört hat.«

»Was könnte ich Ihnen denn geben?« rief Honor, voll Bedauern, daß sie alle ihre Schmucksachen bei der Tante gelassen hatte.

»Sie tragen da einen kleinen Karneol am Finger.«

Honor zog den Ring ab und gab ihn der Fremden, die zum Dank einen heißen, leidenschaftlichen Kuß auf ihre Hand drückte. Dann fuhr das junge Mädchen fort: »Ich hoffe doch, Sie erlauben mir, Ihnen zu schreiben, Ihnen Bücher und dergleichen zu schicken. Ich lasse mich durchaus nicht abweisen; aber wir können darüber noch morgen früh sprechen, nicht wahr?«

Sie erhielt keine Antwort. Nur zwei heiße Lippen preßten sich auf ihre Hand, und ein tiefer Seufzer schlug an ihr Ohr.

*

Honor erwachte beim ersten Morgengrauen, richtete sich auf und blickte erwartungsvoll hinüber nach der Fremden.

Die Bettstatt war leer. Das junge Mädchen sprang vom Lager empor und hätte beinahe ihre Dienerin umgestoßen, die eben mit dem Morgenthee in die Thür trat.

»Wo ist die andre Dame?« fragte sie aufgeregt.

»Ach, Sie meinen die persische Dame? Die ist schon abgereist, als es noch ganz finster war. Gucken Sie, Miß Sahib, dort ist sie noch zu sehen.«

Dabei deutete sie nach einem schmalen Pfade, der sich jenseits des Thales an der Höhe emporschlängelte und auf dem man eben einen Dandy mit vier Trägern verschwinden sah.

*

Honor hatte die Empfindung, als sei sie in dieser Nacht um mehrere Jahre älter geworden, und sah ungewöhnlich blaß und ernst aus, als sie mit Onkel und Tante beim Frühstück zusammentraf.

»Na, Kind, wie ist's dir ergangen?« fragte Tante Sally neugierig. »Hat sie die ganze Nacht ihre Huka geraucht?«

»Nein, Tantchen.«

»War sie sehr dunkelhäutig und fett, und kaute sie Betel?«

»Nein,« lautete die in etwas kurzem Tone erteilte Antwort.

»Wie, du hättest gar nichts zu erzählen?« fragte die alte Dame, sichtlich enttäuscht.

»Lieber Gott, Sara, sie werden beide geschlafen haben!« rief Onkel Brande ungeduldig.

»Und da hast du deinen Schmuck wieder,« fuhr Mama Brande fort. »Wo hast du denn aber den kleinen Ring mit dem Karneol hingethan? Er ist ja nichts wert, aber ich vermisse ihn!«

Wahrscheinlich sollte sie ihn im Leben nicht wiedersehen!


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