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X.

Er war es wirklich, der sich dort weitab von dem geschäftigen Treiben niedergelassen hatte; denn hier wurde kein Torf gestochen. Diesen Ort hatte man als Viehweide belassen. Auf dem Steinhügel war er allein mit seinem vor Gram fast vergehenden Herzen.

Kein tröstendes Wort hätte seinen Schmerz lindern können. Für ihn war alles aus. Sein Schicksal hatte in dieser Stunde den Stab über ihn gebrochen. Vergebens hatte er sich wieder in Amt und Würde einsetzen lassen. Seine Tage waren gezählt. Seine Autorität hatte er so ziemlich ganz eingebüßt. In seiner Lebensführung war er geradezu in eine schimpfliche Abhängigkeit geraten … Bald werden seine Knochen da irgendwo bleichen wie die Gebeine der Wildgänse, denen man ab und zu am Strand begegnet.

Er hatte sich auf einen der rauchgeschwärzten Steine mitten unter den Trümmern der ehemaligen Lucasklause hingesetzt und saß nun so regungslos zwischen den verkohlten Balkenstücken und den vom Feuer verbogenen Eisenstäben, daß Bachstelzen kamen und dicht vor seinen Füßen auf dem Boden herumpickten. Und so blieb er bis zum Abend sitzen, starrte auf seine nutzlose Hand aus Ebenholz und hielt Zwiesprache mit dem Tod.

 

Von den Torfstapeln auf den Hügeln wurden schon einige auf Boote verladen und fortgebracht. Das mutete ihn an wie ein Traum aus seinem vergangenen Leben, wenn er die Fahrzeuge vorbeiziehen sah. In der Gegend von Rozé machten sich auch ein paar Schaluppen segelfertig zur Fahrt nach Nantes. Es waren nur noch drei dieses Jahr … immer weniger. Neiderfüllt dachte er zurück, und mit todkrankem Herzen schaute er ihnen nach, wie sie durch den Verbindungskanal fuhren und dann flußabwärts der Loire zustrebten.

Das Wetter war hell und klar an diesem Tag. Die Luft war so dunstfrei, daß man bis weit über die Wiesen von Donges hinaussah.

Er ließ seine Blicke dorthin schweifen, immer den großen Segeln nach. Da sah er etwas, ganz weit draußen am Rand der Gemarkung, was ihm das Blut stocken ließ: Es waren die Hafenkräne, die er seit seiner letzten Fahrt dorthin nicht mehr gesehen hatte. Es kam ihm vor, als hätten sie an Zahl zugenommen. Der ganze Himmel schien voll davon. Er zählte sie; es waren zwei mehr als früher. Die mußten also innerhalb weniger Monate während seiner Abwesenheit aufgestellt worden sein, rasch wie ein Märchenschloß, das in einer Nacht durch dämonische Kräfte aus dem Boden schießt.

Er konnte einen haßerfüllten Fluch nicht unterdrücken auf dieses Heer von Gewalten, die immer näher an die Grenze seines Moores herandrängten.

Eigentlich waren es nicht so sehr die gespenstischen Eisengerippe, die ihn beunruhigten; ein Schleier war vor seinen Augen zerrissen, es war wie eine Erleuchtung über ihn gekommen.

Mag sein, daß ihn vielleicht sein eigenes Unglück jetzt hellseherisch machte. Jedenfalls brauchte er nicht weiter zu überlegen oder noch mehr Einzelheiten zu wissen. Allein der Anblick dieser drohenden Formen, dieser riesigen Eisenkonstruktionen verkündete laut die Parole von morgen, die Prophezeiung für die Zukunft, überall stand sie geschrieben, vor ihm, hinter ihm, über dem ganzen Himmel. Seine schöne Brière, die Tochter des Ozeans, prangend im Schmucke ihrer grünen Inseln, seine große Herrin, ihm gehörig im doppelten Sinn: durch das Recht des Eigentümers wie auch durch die Satzung der Obrigkeit, sie, die ihm alles geschenkt hatte: Feuer, Nahrung, Arbeit, Mühe, Trost, war zum Untergang verurteilt. Ihr Schicksal war bereits besiegelt; ihr Name war schon eingetragen in das Hauptbuch des Todes.

Mochte man von nun an noch so kühne Pläne ersinnen, mochte man noch so leidenschaftliche Fehden ausfechten mit der ganzen Welt – es war umsonst. Diese Wahrheit konnte seinem Scharfblick, zumal er ja über das Wohl der Brièronen zu wachen hatte, nicht entgehen.

Schmerzlich träumte er vor sich hin … Was kommen muß, kann niemand hindern … Du kannst nicht einmal den Schatten eines Schilfrohrs in seiner Bewegung aufhalten.

Er dachte über sein Leben nach bis zurück zu den Tagen, da er noch klein war, und wie die angeschwollenen Kanäle die Straßen überflutet hatten und er mitten durchs Eiswasser in die Schule plantschte … Kein Bach, keine Schleuse weit und breit, mit der nicht irgendeine Erinnerung an ein Ereignis seines Lebens verknüpft war. Das Hünengrab der alten Florenze da drunten erinnerte ihn an die Briefe, hinter denen er so lange hergelaufen war. Und so saß er da, ganz allein, oben auf dem Hügel; und während sein müder Geierblick in die Runde schweifte, verbiß er sich immer mehr in die ganze Hoffnungslosigkeit dieses schicksalhaften Untergangs, der ihm das eigene Sterben jetzt noch schwerer machte.

 

Der Oktober ging hin. Die Schneegänse flogen südwärts und machten bei ihrem Zug auf den Weihern Zwischenrast. Dann kam der November, und auch der verstrich.

Jetzt waren alle Torfhaufen fortgebracht worden. Unter den tief herabhängenden Schneewolken breitete sich das Moor in seiner endlos kahlen, eisigen Einförmigkeit aus. Nichts regte sich weit und breit, nur ein paar Krähen ließen sich in den Pappeln von Québitre im Winde schaukeln.

Doch trotz der Kälte und des schneidenden Windes, der den Ruß aus all den vielen Kaminen über die ganze Insel hinfegte, ließ Augustin keinen Tag verstreichen, ohne sich an diesem einsamen Ort einzufinden. Dann saß er wieder da, die Arme auf die Knie gestützt, stierte in den weiten Raum, hing seinen quälenden Gedanken nach und brütete in seiner schwarzen Seele Dinge aus, von denen niemand etwas zu wissen brauchte.

Wenn es zu dämmern begann, ging er heim mit wundem Herzen und müdem Kopf. Auf dem Rücken trug er dann stets ein großes Bündel Reisig, das er am Morgen unter den Bäumen aufgelesen hatte, um es Julie zu bringen. Trotz allem wäre diese abendliche Einkehr bei der alten Base eine letzte Bindung an das Leben gewesen, wenn die Leutchen da aus dem Haus im Etage-Viertel die alten geblieben wären. Aber auch hier hatte sich etwas geändert. Eine gegenseitige Entfremdung war eingetreten. Keiner sprach viel mit dem andern. Häufig konnte man auf Julies Stirn die Sorgen lesen.

Ja, eines Abends, als er wieder einmal sein Reisigbündel in die Herdecke geworfen hatte, bedankte sie sich nicht einmal dafür, sondern stocherte weiter in ihrem Feuer herum mit einem Gesicht, dem man deutlich ansah, daß sie etwas bedrückte. Während er aß, leistete ihm niemand Gesellschaft. Herr Ulrich las in einem Kalender; Maria stand vor dem Backtrog, sah immerfort die Wand an und trocknete Teller ab; er merkte gar wohl, daß irgend etwas Unangenehmes vorgefallen sein mußte, was jeder auf seine Weise zu verbergen suchte. Erst als er seinen Teller ausgelöffelt hatte, setzte sich Julie zu ihm an den Tisch, faltete die Hände und schaute ihn lange so eigenartig an, daß er sie fragte, was sie denn eigentlich gegen ihn hätte.

»Augustin, glaubst du, daß es einen Herrgott über dir gibt?«

Das behagte ihm wenig, diese Frage. Wollte man ihn gar noch auf Herz und Nieren prüfen? Das, was er seither sorgsam in sich verschloß, das einzige, was ihm noch blieb, konnte er niemals preisgeben: seine Rache. Seine Rachepläne waren gefaßt, und er verspürte keine Lust, sich da von jemand hineinreden oder sich gar davon abbringen zu lassen.

»Einen Herrgott? … Was willst du damit? …« antwortete er so abweisend wie nur möglich. »Red offen! … Red so, daß man weiß, was du willst!«

»Einer, der unsere Verdienste kennt, Augustin? Der Gnaden austeilt, aber auch Prüfungen über den Menschen kommen läßt.«

Der Ernst, mit dem sie das vorbrachte, machte ihn stutzig. Er wandte sich ab und spuckte auf den Boden.

»Was für ein Krötenschmalz schmierst du mir da aufs Brot? … Ja … ich glaub' an den großen Hirten … und an den Teufel auch … alsdann?«

»Augustin, alle Dornen, die uns durchbohren, kommen aus der Dornenkrone Christi.«

»Ja, und?«

Die Stimmung wurde immer ungemütlicher. Er zweifelte nicht mehr daran, daß sie ihn durchschaut hatte und daß sie ihm zusetzen wollte, das Unrecht zu verzeihen. Jetzt nur noch ein Wort, dann würde er ihr heimleuchten. Was ihr nur einfiel, sich überhaupt in seine Angelegenheiten einzumischen?

»Weißt du, Augustin, daß der junge Mann, in den sich deine Tochter verliebt hatte, sie jetzt nicht mehr will, weil sie eingesperrt war?«

Noch hielt er an sich. »Jawohl, der Esel läßt die Ohren wieder hängen … das weiß ich.«

»All das zusammen, Augustin, hat das Gemüt deiner Tochter verwirrt … Ganz plötzlich ist es über sie gekommen.«

Auf Julies Gesicht legte sich ein dunkler Schatten. Sie schwieg eine Weile, dann berührte sie die Stirne mit dem Finger.

Er begriff immer noch nicht ganz. Es war ihm gerade so, als ob ein Traum, ein ganz häßlicher Traum, soeben anheben würde, den ihm sein Gewissen zuflüsterte.

Julie hob noch einmal den Finger und tupfte sich zwischen die Brauen.

Er fuhr auf. »Kreuz Christi!« Über den Tisch weg packte er sie am Handgelenk und starrte ihr in die Augen, als wollte er in ihrer Seele lesen. Er drückte ihr dabei so heftig den Arm, daß es weh tat. Sie ließ es zu, ohne sich zu rühren und ohne ein Wort zu sagen.

Bestürzt und wie betäubt sah er jetzt nach den anderen hin: auf Herrn Ulrich, der nicht mehr in seinem Kalender las, auf Maria, die mit abgewandtem Gesicht still vor sich hinweinte.

»Wieso weißt du … Woher hast du das?«

Erschüttert hörte er ihr zu.

Lange blieb er sitzen. Endlich stand er auf, machte ein paar Schritte, hob seine schwarze Hand hoch, als drohte er den Steinen am Boden. Dann murmelte er »Gute Nacht« und ging hinaus.


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