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II.

Den ganzen Sommer über steckte Julie abends kein Licht an. Es wurde nur gearbeitet, bis es dämmerte, dann wurde rasch gegessen; nachher konnte man sich ja schlafen legen; denn die Arbeit am Abend bringt doch weniger ein, als das Licht kostet.

Sie hatte Maria und Cendron an den Strand geschickt, um die Wäsche dort abzunehmen, die jetzt trocken sein mußte. Und wie sie nun so allein bei ihrer Hausarbeit war, da benutzte sie die Gelegenheit, um Herrn Ulrich, der am Ofen dabeisaß und sein Gewehr reinigte, ihr Herz auszuschütten. Sie erzählte das ganze Geschehen am Morgen und wiederholte dabei genau und ausführlich jedes einzelne Wort, das zwischen ihr und dem Händler hin und her gegangen war. Sie wurde nicht fertig mit Seufzen und Klagen über sich selbst, ihre Kinder und alles, was sonst noch leidet auf dieser buckligen Welt.

Auf all das erwiderte Herr Ulrich:

»Wenn ich das Geld gehabt hätte, das mir in Aussicht steht – es werden so ungefähr zwölftausend Francs sein –, dann wären Ihnen die Schafe nicht weggenommen worden.«

»Ach ja, wollte es Gott …, daß es so gewesen wäre, wie Ihr sagt … Aber er hat es anders gefügt … und da muß halt ein jeder sein Bündel tragen.«

»Man kann sich immer gegenseitig helfen …«

»Gegenseitig helfen? … Ach, Herr Ulrich, das Leben ist kurz … aber häufig läßt es sich so verkehrt an.«

Während sie sich so miteinander unterhielten, hätte Herr Ulrich schon zwanzigmal mit dem Putzen seines Gewehres fertig sein können, aber er rieb immer noch daran herum. Endlich legte er seinen Lappen hin, stützte die Arme auf die Knie, hielt den Kopf in den Händen und blieb eine Zeitlang in dieser Haltung.

»Frau Julie«, sagte er und richtete sich wieder auf, »dürfte ich Ihnen wohl heute abend etwas sagen?«

Der Tonfall in seiner Stimme war ein wenig unsicher, ja fast schüchtern, so daß Julie, die über den singenden Kochtopf mit Kaffeewasser gebeugt war, um ihn bei der ersten Wallung vom Feuer wegzunehmen, den Fuß aus der Asche nahm.

»Es handelt sich um Maria.«

»Um Maria?« wiederholte Julie, die sich jetzt überrascht aufrichtete und die Dämmerung zu durchdringen suchte, die das Gesicht des jungen Mannes verbarg.

»Ja.«

Dann setzte er mit noch leiserer Stimme ein wenig zitternd hinzu:

»Halten Sie mich für einen schlechten Kerl?«

Ihre Blicke suchten sich in der Dunkelheit. Sie konnte aber bei ihm nur den unteren Teil seiner Beine und den blanken Gewehrlauf auf seinen Knien unterscheiden, die vom rötlichen Widerschein der Glut ein wenig erhellt waren.

»Vielleicht haben Sie noch nicht ganz verstanden, um was ich Sie bitten möchte«, fing er wieder an. »Wenn es einmal soweit ist, möchte ich mir ein Haus hier kaufen … ganz in der Nähe … eine Hütte mit einem Garten … dann will ich heiraten … und meine Frau soll heißen … kurz und gut, ob Sie wohl einverstanden wären … und … wenn sie auch selber mag.«

»Herr im Himmel!«

Ein Glück, daß es dunkel war in der Stube.

Sie wußte nicht, was sie sagen, welche Antwort sie ihm geben sollte … Eine Heirat mit Herrn Ulrich! Lieber Gott! … Lieber Gott! … Hatte er nicht gerade soeben erklärt, daß er eines Tages zwölftausend Francs reich sein werde! … Aber nein … vor seinem Gewissen darf man so nicht rechnen … und sie hatte das bestimmte Gefühl, daß ein braver Zimmermann oder ein wackerer Fischer eher nach dem Willen Gottes sei.

»Oh, Herr Ulrich! … Herr Ulrich! … Sie sind kein Mann, der zu uns paßt. Sie wissen das sehr gut … Vor allem reden Sie nicht mit ihr darüber … sagen Sie ihr nichts von solchen Sachen … Mein Gott, da ist sie schon!« unterbrach sie sich und nahm schnell ihre Arbeit wieder auf, als hinge die Ordnung aller Dinge im Zimmer, der sichtbaren, aber auch der unsichtbaren, davon ab.

Man hörte jetzt wirklich Schritte unter der Tür. Es war jemand eingetreten und blieb stehen, ohne ein Wort zu sagen.

Aber es war nicht Maria; es waren nicht die Kinder.

»Wer ist denn da? … Was wollt Ihr?« fragte sie noch ganz benommen.

Aber keiner von beiden kannte die Stimme, die sich da meldete. Es mußte jemand sein, der verkehrt gegangen war.

Julie sah nur eine schattenhafte Gestalt. Sie ging näher hin.

»Wer sind Sie denn?«

Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, lief zum Kamin zurück, wobei sie überall anstieß. »O Gott! O Gott!« murmelte sie unablässig halblaut vor sich hin, während sie in der Dunkelheit nach der Lampe tastete, einen Span nahm und sie anzündete, nicht ohne sich die Finger dabei zu verbrennen; denn zwei so große Aufregungen gleich auf einmal, das war etwas zuviel für die Gute.

»Maria, Cendron!« rief sie den Kindern zu, die jetzt vollbepackt mit ihrer Wäsche nach Hause kamen. »Macht die Tür zu!«

Von ihrem Platze aus leuchtete sie, so gut es ging; denn sie wagte keinen Schritt vorwärts – indem sie das Talglicht recht hoch hielt –, und ihr Blick ging forschend nach der dunklen Zimmerecke hin, die immer noch schweigsam blieb. Dabei zitterte sie so stark, daß ihr der Talg über die Hände tropfte. Schweigend standen alle um sie herum, Herr Ulrich, die Kinder mit ihrer weißen Wäsche, und schauten, genau so beeindruckt wie sie, in der gleichen Richtung nach der schwarzen Gestalt hin, die gerade noch ein wenig am Rande des Lichtkegels zu erkennen war.

Er war es. Er trug noch immer denselben kleinen Hut, die gleiche torfbraune Joppe. Er war es wirklich, aber, mein Gott, wie bleich! Als ob er wochenlang in einem Blutegelloch gelegen hätte, so bleich wie der hölzerne Corpus am Kreuz über dem Kamin. Von der Schulter herab hing ein Bündel, wie es die Seeleute tragen, wenn sie von der hohen See zurückkehren. Doch er blickte nicht drein wie sie, er sang nicht wie sie, wenn sie von ihren frohen Segelfahrten mit einem bunten Papagei oder einem Äffchen auf dem Arm ans Land kommen. Er sah aus, als sei er einem Geisterschiff entstiegen, als hätten ihn die finsteren Wogen eines unterweltlichen Ozeans ausgespien, als sei er direkt von einem Hungereiland heimgekehrt, wo er sogar das Sprechen verlernt hatte. Er sagte kein Wort; er schaute sie nur traurig an. Wie der Schatten seines früheren Ich, so stand er vor ihnen.

Und Julie, die ihm so vieles zu sagen gehabt hätte, wie schwer sie seine Abwesenheit empfunden hatte, wie oft und wie schmerzlich sie beim Holzmachen den wuchtigen Schritt ihres alten Bekannten vermißt hatte, der ihr sonst täglich so viel Ablenkung ins Haus brachte – auch Julie konnte jetzt nur die Augen weit aufreißen und immer wieder stammeln: »Er ist es, er ist es! …« Sie getraute sich nicht, ihn etwas zu fragen, sondern begnügte sich damit, beim armseligen Lampenlicht diesen rätselhaften, alten Mann anzustaunen, der so viel hatte durchmachen müssen.

»Gott im Himmel! … Da stehe ich und starre ihn an, als hätte ich ihn noch nie gesehen … Aber wart! … Setz dich! Du kennst doch deinen Platz, gelt? … Mein guter, armer Kerl … du kennst ihn doch … Maria, Cendron! … Legt euere Wäsche hin! – Maria …«, besann sie sich, als ob ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf geschossen wäre … Aber sie verbesserte sich sofort:

»Nein, geh nur, geh! … Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht …«

Sie lief eilig hin und her, suchte nach Geschirr, kramte in der Schublade, machte sich am Herd zu schaffen und kam dann schließlich mit einer dampfenden Schüssel, die sie vor Augustin auf den Tisch stellte. Jetzt endlich, wie sie ihm so gegenübersaß mit aufgestützten Armen und aus nächster Nähe im Lichte die Spuren seiner Leiden und seiner Krankheit deutlich wahrnehmen konnte, begann sie zu fragen:

»Und nun? … Und jetzt? … Bist du wieder gesund? … Bist du wieder vollständig hergestellt?«

Aber er ging nicht aus sich heraus und gab keine Antwort.

Langsam und schwerfällig aß er seine Suppe, und nur manchmal sahen seine dunklen, schwarzen Augen von der dampfenden Schüssel auf.

»Oh, wie hat es dich zusammengerissen! … Du redest ja gar nichts«, sagte sie, bestürzt darüber, daß er so teilnahmslos war.

Jetzt endlich ließ sich die hohle Stimme vernehmen, die sie nicht wiedererkannt hatte:

»Was gibt es Neues?«

Julie zögerte. Sie wechselte einen Blick mit Herrn Ulrich. Eine unangenehmere Frage hätte er nicht stellen können …

»Neues?«

»… auf der Brière.«

»Ach so, ja, die Brière … Richtig … Das war … Da ist so mancherlei vorgegangen.«

Sie schien vor sich hinzuträumen.

Da drinnen in seinem Krankenhaus mit den großen Mauern, da war wohl nicht die geringste Nachricht zu ihm gekommen, kein Wort von dem Verbrechen, dessen sich die gleichen Leute schuldig gemacht hatten, die die Brière an sich reißen wollten. Als nämlich diese niederträchtigen Menschen merkten, daß sie die Brière nie in ihre Hand bekommen würden und somit endgültig darauf verzichten mußten, da haben sie versucht, sie zu zerstören. Sie haben die Inseln angesteckt.

»Auf einmal nachts waren sie da, Augustin. Sie sind auf einem merkwürdigen Schiff gekommen, einer großen, hochgetakelten Barke mit schwarzen Segeln, Segeln wie aus schwarzem Trauerflor … Die Männer, die darauf geschossen haben, haben sie ganz deutlich gesehen. Beim Feuer, das sie angesteckt hatten, waren sie gut zu erkennen … Niemals, Augustin, noch nie hat man so etwas erlebt … Was das für ein Riesenfeuer war … und erst die Rauchwolken, die da aufstiegen … Die ganze Brière war wie Blut so rot.«

»Bis Vieille-Vé hat's gebrannt«, mischte sich Cendron ein, und man sah ihm an, wie wichtig er es dabei hatte.

»Erzähl, was du gesehen hast und nicht mehr! … Es brannte bis nach Sauges, Augustin, und dann endlich konnten es die Männer löschen.«

Sie redete und redete, und es war fast so, als ob bei ihren Worten gleichzeitig etwas von all der qualvollen Stimmung, die in dem Zimmer lastete, sich verflüchtigen würde. Die Zeit von früher schien wieder zurückgekehrt, jene Abende, an denen Augustin nach dem Essen zu einem Plauderstündchen dageblieben war. Wie einst leuchteten jetzt auf einmal die frischen Kinderwangen beim Schein der qualmenden Lampe. Der Kessel über dem Feuer sang sein Deo gratias dazu. Die Uhr an der Wand haspelte ununterbrochen ihr Ja und Nein bei der Unterhaltung der kleinen Tischrunde ab. Er selbst aber war vollständig geändert und ganz abgemagert; recht leidend sah er aus, wie er so dasaß mit seiner weißen Armbinde, und so müde, besonders wenn er derart ins Weite starrte und das zu sehen schien, von dem man ihm erzählte. Nein, es war unmöglich, ihn aus dieser Stimmung herauszureißen.

Julie zählte ihm alle Hochzeiten auf, die seither stattgefunden hatten. Dann kam sie auf Herrn Leriché zu sprechen und gab ihm ein plastisches Bild von der unleidlichen Auseinandersetzung, die sie mit dem Geldmenschen gehabt hatte.

»Und stell dir vor«, stöhnte sie, »daß er sie noch dazu mit ihrer ganzen Wolle bekommen hat.«

Augustin machte keinerlei Bemerkung dazu. Er fand kein Wort des Bedauerns. Grübelnd saß er da wie geistesabwesend. Dann wühlte er in seiner Tasche, zog etwas heraus, man wußte nicht recht was: ein Stück Leder oder einen Tabaksbeutel, und fing an, mit den Zähnen daran zu beißen und zu zerren. Da er aber nicht zurecht kam damit, bat er Maria, ihm das Ding mit der Schere aufzutrennen. Wie er sich jetzt so zu dem Mädchen hinüberbeugte, sah Julie ihn an, weil sie sich nicht erklären konnte, weshalb er die Zähne dabei zu Hilfe genommen hatte. Plötzlich fuhr sie auf ihrem Stuhl zurück und schrie:

»Seine Hand! … Sie haben ihm die Hand abgenommen!«

Eine tiefe Stille folgte.

Aber Augustin ließ sich nichts anmerken. Nicht einmal Julies Aufregung schien er wahrzunehmen, die an ihren Herd getreten war und sich das Gesicht bedeckte. Teilnahmslos sah er auf die zitternde Spitze der Schere Marias, die keinen Blick in der besagten Richtung zu tun wagte. Und während jeder von den Anwesenden schwieg, suchte er mit der noch unversehrten Hand in dem Lederbeutel, den ihm das Mädchen zurückgab, zog ein Goldstück heraus und ließ es auf dem Tisch klingeln.

»Da«, murmelte er, »der Halsabschneider soll dir das nicht nehmen.«

Julie begriff nicht recht, was Augustin sagen wollte, und noch ganz aufgeregt blickte sie unsicher von einem zum andern.

»Ich meine«, wiederholte Augustin, »das da wird der Halsabschneider dir wohl lassen müssen.«

Jetzt erst bemerkte Julie das schimmernde Geldstück unter der Lampe, sah den Goldglanz, der von ihm ausging, dieses wunderbare Flimmern, das gar nicht zu der sonstigen Armut im Zimmer passen wollte.

»Das schenk' ich dir zur Heimkehr«, sagte Augustin, »wie du es mir einmal vor Jahren geschenkt hast.«

Julie stand auf und sah mit starrem Blick lange vor sich hin …

»Erinnerst du dich noch? …« sagte Augustin nach einer Weile. »Es war vor vierzig Jahren.«

Sie war ergriffen; man merkte ihr die Erregung an. Der Ausdruck in ihrem Gesicht wandelte sich jetzt langsam; ein seltsames Leuchten verklärte ihre Züge. Fast lächelnd stand sie nun da wie jemand, der in seinen alten Tagen durch ein paar tanzende Schmetterlinge sich in sonnige Jugendzeiten zurückversetzt fühlt. Dann ging ihr Blick zu Herrn Ulrich und den Kindern hin. Sie wurde über und über rot und fing an zu schluchzen.

»Was gibt es denn da zu heulen?« sagte Augustin und spuckte auf den Boden. »Du weißt, es braucht sonst nur fünf Jahre, bis ein Geldstück in der Tasche zur Gänze abgewetzt ist … Das da hat achtmal so lange Zeit dazu gehabt.«

Sie wies das Goldstück nicht zurück aus Angst, ihn in seiner hochherzigen Gesinnung, die sich hinter diesem Geldgeschenk verbarg, zu kränken. Als sie aber sah, daß Augustin sein Bündel aufraffte und sich zum Gehen anschickte, trocknete sie sich rasch die Augen, und einer Regung ihres Herzens folgend sagte sie mit Nachdruck:

»Wir bringen dich heim!«

»Du gehst mit uns«, wiederholte sie und griff nach einer Laterne, die aber Herr Ulrich, der ebenfalls mitgehen wollte, ihr aus der Hand nahm.

Es war eindeutig, was sie meinte, aber er gab ihr eine genau so eindeutige Antwort, indem er seinen alten Hausschlüssel aus der Tasche zog.

»Nein … nein … nicht diesen Schlüssel!«

Ihre Augen funkelten. Mit leidenschaftlicher Entschlossenheit trat sie vor ihn hin. Auch sie hatte ihm ein Geschenk zu machen: Die bessere Seite ihres eigenen Ich wollte sie ihm geben. Sie wollte ihn wieder auf den rechten Weg zurückführen.

»Weg mit diesem Schlüssel! … Die Trennung von deiner Familie ist eine häßliche Sünde. Hab Mitleid mit deiner armen, geplagten Frau!«

Er aber biß die Zähne zusammen. Sein Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken an sein trostloses Familienleben. Seine Hand spielte mit dem dicken Schlüssel. Er zog die Stirne kraus, und es schien, daß er dabei den ewigen Naturgesetzen des Kampfes zwischen Süßwasser und Salzwasser nachgrübelte, was stets eine abscheuliche Mischung abgibt, wenn sie sich vereinen.

»Lade dir nicht diese Schuld auf«, sagte sie, »warte nicht, bis dein Herz noch ganz vergiftet ist … Sie hat dich gepflegt, als du verwundet warst … sie hat dich ins Leben zurückgerufen.«

Draußen auf dem Weg redete sie noch weiter auf ihn ein.

Wie konnte ihm seine angebliche Freiheit noch weiter begehrenswert erscheinen, heute, nachdem ein böses Geschick ihn um die Hälfte seiner Kraft gebracht hatte! Wie würde er sich anziehen, sich kochen, seine Schuhe schnüren, seine Stube sauber halten können? Und sie schilderte ihm in allen Einzelheiten seine Abhängigkeit von einer sorgenden Hand. In ihrem guten Willen und aus Mitleid malte sie alles noch schwärzer, und die Gute hatte dabei keine Ahnung, welch schmerzhafte Wunde sie damit neu in ihm aufriß.

»Komm! … Komm! … Jetzt ist der richtige Augenblick … Morgen ist es wieder zu spät … Heute abend ist das Wasser noch ungetrübt … warte nicht, bis der Hund daraus getrunken hat! … Wir gehen alle zusammen hin … Du wirst sehen, wie freundlich dich dein Haus empfängt … du wirst merken, wie süß das Brot der Versöhnung schmeckt … Siehst du dort dein Haus?«, und sie deutete auf die Häusergruppe, die sich ganz dunkel vom nächtlichen Sternenhimmel abhob.

»Komm! … Hierher, Augustin … hierher! … Was willst du denn sonst, Augustin?«

»Augustin!« rief jetzt auch Herr Ulrich.

Aber seine Schritte entfernten sich in der Nacht. Schweigend ging er zwischen den dunklen Häusergruppen und ließ sie am Kreuzweg beim Ententeich mit ihrer Laterne stehen.

»Augustin, wenn du wüßtest! … Wenn du wüßtest, welch großes Leid du hinter dir läßt!« keuchte Julie hinter dem Flüchtigen her. »Hab Erbarmen! … Nathalie ist von nun an ganz allein zu Haus … Herr Ulrich wird es dir sagen.«

»Herr Ulrich?«

Sie hatten ihn jetzt in die Mitte genommen und redeten leiser. Herr Ulrich blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um. Die Straße war leer. Alle Läden an den Häusern waren geschlossen.

»Nicht wahr, Augustin«, sagte er, »Sie haben heute abend, bevor Sie zu uns kamen, noch mit niemand gesprochen? … Sonst hätten Sie vielleicht schon gehört … Sie hätten wahrscheinlich schon erfahren, was vorgefallen ist … Ihre Tochter ist fortgeholt worden, Augustin!«

»Meine Tochter?«

Dieses Mal blieb er ohne weiteres stehen.

Julie hob ihre Laterne hoch; sie sah es wetterleuchten in seinen Augen.

»Meine Tochter? Von wem denn?«

Er stellte sein Bündel auf den Boden.

»Von wem denn?«

Er hob den Kopf. Diese Mitteilung hatte ihren Eindruck auf ihn nicht verfehlt. Julie aber merkte sofort an dem unruhigen Flackern in seinen Augen, in welchem Sinne er diese Nachricht deutete.

»Sie sind eines Tages gekommen, Augustin … Man hatte sie verdächtigt … Es gibt ja so viele böse Zungen hier … daß sie ihr neugeborenes Kind beiseite geschafft habe … im Moor … Sie ist im Gefängnis.«

»Und siehst du, deshalb mußt du heim … deshalb bist du dort so dringend notwendig«, setzte ihm Julie zu, die nichts sehnlicher wünschte, als ihre Gewissensschuld abzutragen.

Aber alles, was sie sagte, war in den Wind gesprochen. Auf seiner Stirne standen auch Worte, auch Zeichen, die wie in einen harten Stein eingemeißelt schienen. An was dachte er? Er hatte nicht einen Augenblick geschwankt und gezittert. Sogar die Glut in seinen Augen war erloschen.

Er nahm sein Bündel wieder auf und schritt, ohne ein Wort zu sagen und ohne seine verbissenen Zähne voneinander zu lösen, eigensinnig weiter.

Julie ließ den Kopf hängen, als sie das sah, und ging getreulich hinter ihm her.

Sie wagte nicht mehr, ihm weiter ins Gewissen zu reden. Sie konnte ihm nur noch leuchten. Und alle drei gingen schweigend den Weg weiter, gefolgt von ihrem großen Schatten, der an den Hüttenwänden entlang glitt oder in den dunklen Gärten an den Sonnenblumen vorbeihuschte, die unter dem Gifthauch der Nacht die Köpfe hängen ließen.

 

Ruß und Rost, diese zerstörenden Einflüsse der Zeit, hatten sich im Türschloß der Hütte festgesetzt. Endlich fiel doch Licht auf die traurige Verwüstung, auf die ganze Unordnung in der Stube, die noch so dalag, wie sie vor mehr als acht Monaten verlassen worden war. Ein Stuhl war umgeworfen; Töpfe standen unter dem Tisch; Schüsseln, in denen noch die Kruste von schmutzigem Wasser zurückgeblieben war; Decken, die halb am Boden lagen, alles genau so, wie es die Männer zurückgelassen hatten, als sie den Röchelnden fortbrachten.

Ein finsterer Geist hatte sich hier eingenistet wie immer in verlassenen Häusern. Nur widerwillig ließ er sich von seinem Platz dort vertreiben. Die trostlose Stimmung in der Stube drückte Augustin nieder. Zögernd trat er ein; er schien sich vor seinem eigenen Dach zu fürchten und warf einen scheuen Blick nach den unordentlich herumliegenden Tüchern.

»Da ist noch Blut von mir!«

Aber Julie legte die Strohsäcke zurecht, schüttelte kräftig das Deckbett, daß die Federn flogen, breitete neue Leintücher über das Lager, während Herr Ulrich ein helles Reisigfeuer anzündete, so daß die Flammen bald den ganzen Kamin anfüllten und die schlechte Luft verzehrten, die sich während der feuchten Regenzeit in der Stube angesammelt hatte.

Julie räumte energisch auf. Sie kehrte und fegte alles beiseite … natürlich auch den Bussardkäfig, in dem sich nur noch eine Handvoll Federn und ein paar Knochenreste befanden.

Augustin saß niedergeschlagen in seinem Kamin.

»Soll ich dir beim Ausziehen helfen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Dann laß dir wenigstens die Schuhe aufschnüren!«

Er gab keine Antwort, sondern fuhr sich nur einmal mit der Hand über die Augen und sah sie matt und traurig an. Dieser Ausdruck wurde noch gesteigert durch die schweißverklebten Haare, die ihm ins Gesicht hingen, und durch die tiefliegenden, wie von Daumen ausgehöhlten Schläfen, die von seiner Abmagerung während seines langen Krankenlagers herrührten. Julie machte sich jetzt Vorwürfe, weil sie ihm heute abend von der Verhaftung Theotists erzählt hatte. Diese Sache, dachte sie, macht ihm schwer zu schaffen.

»Du sollst dich jetzt ins Bett legen, Augustin!«

Aber er hörte es nicht.

Mit wehleidigem Gesicht wandte er sich an Herrn Ulrich:

»Herr Ulrich, Sie müssen mich jetzt für die erste Zeit im Boot fahren!«

»Ja, natürlich! Das Boot … Aber du bist müde … Laß dir's gesagt sein … Du mußt ins Bett gehen!«

»Oh, ich hab' oft genug geträumt«, fuhr er fort und betrachtete dabei die Hand, die ihm geblieben war. »Was wollt ihr … Da war es, als ob ein Kobold mir dabei zugerufen hätte: Niemals mehr in deinem ganzen Leben wirst du dein Boot lenken, Augustin! … Ich biß die Zähne zusammen … Man wird es wenigstens versuchen können, gab ich zur Antwort … Versuchen kannst du's, Stangen hast du ja genug zu Hause … kleine und große … aus rotem Kastanienholz und aus weißem … Die roten halten mehr aus, aber die weißen sind gerader gewachsen.«

Er hat Fieber, dachte Julie und wollte ihm gerade noch einmal zureden, sich schlafen zu legen, als sie sah, wie er mit vorgerecktem Hals wie ein Raubvogel auf eine bestimmte Stelle in der rußigen Kaminwand starrte und immer wieder nach dem rostigen Nagel griff, der dort zwischen zwei Backsteinen eingeschlagen war. Was hatte er denn? Was wollte er da? Und sie bekam schier eine Gänsehaut, als sie ihm jetzt ins Gesicht sah und seine Stimme hörte:

»Wo ist das hingekommen?«

»Was denn?«

»Das Ding, das immer hier hing.«

Jetzt fiel es ihr auf einmal ein.

»Ach, richtig! … Dein Polizeischild! … Ja, ja … Der Bürgermeister hat es geholt. Er hatte keinen Schlüssel, da hat Pibard ihm aufmachen müssen … Er hat dein Blechschild geholt, um es Larmentières zu geben.«

»Larmentières?«

»Ja, Larmentières … der hat deine Stelle bekommen … Das ging ja nicht anders … Na also … Wir machen uns jetzt wieder auf den Weg … Du mußt schlafen gehen, sag' ich … Hörst du?«

Nein, er hörte nichts. Ganz verstört sah er aus. Unverständlich knurrte er etwas vor sich hin, und anstatt sich niederzulegen, blieb er auf seiner gemauerten Bank am Herd sitzen, ließ das Kinn hängen und stierte ins Leere.

»Hörst du, Augustin?« rief ihm Julie noch einmal von der Straße aus zu, die schließlich ungeduldig wurde, als sie ihn durch die offene Tür immer noch wie ein schwarzes Häufchen Elend mit gesenktem Kopf und gebeugten Schultern vor dem mächtigen Kaminfeuer sitzen sah, anstatt sich ins Bett zu legen.


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