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II.

Das Haus Augustins lag jetzt nicht mehr verödet da; es ließ sich jetzt sogar sehr gut darin hausen, seitdem die kleine Herdflamme immerfort wie ein Leuchtfeuer in der Nacht dort flackerte. Wo ehedem der Wind ungehindert sein Spiel mit den zahlreichen Spinnweben trieb, waren jetzt die feuchten Spuren seiner regen Betriebsamkeit überall zu erkennen. Der Geruch von nassem Seetang, den er von seinen Fahrten draußen mitbrachte, hing in dem gutdurchwärmten Raum. Dieser herbfeuchte Fischergeruch rechtfertigte es vollkommen, wenn Augustin von seiner Behausung als von seinem »Zubehör« redete. Daneben roch es auch stets nach Blutegeln, Schlamm und Enten; denn an die fünf oder sechs wilde oder zahme Enten watschelten hier ein und aus, abgesehen von den Gänsen, die da bis unters Bett ihr Unwesen trieben. Alte zusammengerollte Segel, Ersatzruderstangen lagen und standen kunterbunt in allen Ecken herum, zusammen mit ein paar Grabeisen zum Torfstechen, Fischgabeln, alten und neuen Behältern aus rötlichem Weidenholz und etlichen Kisten, die mit Torfbrocken gefüllt waren. Auf dem mit Daunen und Entenfedern übersäten Boden standen ein paar schmutzige Teller mit Grätenresten von den Mahlzeiten des Katers, der jetzt »Strolch« hieß, seitdem er zwischen den beiden Wohnungen hin und her pendelte. Um das Bett waren jetzt Vorhänge angebracht, ein Geschenk von Julie, einfache, fast violette Vorhänge, mit großen, weinroten Blumen gemustert. Oben an der Decke lief eine dicke Schnur hin, an der ein paar geräucherte Aale und goldglänzende Bücklinge hingen. Gut warm war's in der Stube, denn gelüftet wurde nie. Eine kleine Muttergottesfigur, die er wohl von einem Kirchweihfest mitgebracht haben mochte, schien in diesem Grabesdunkel vom Kaminsims aus über den großen menschlichen Schatten, der hier lebte, zu wachen.

Die Abende, die er in seiner primitiven Behausung zubrachte, waren köstlich. Keine Nachbarn, die ihn ärgerten. Jeden Abend riegelte er seine Türe zu, setzte sich dann mit der größten Gemütsruhe in seinen Kamin und schaute in die anheimelnde Glut seines kleinen Herdfeuers. Er sah zu, wie die Flammen allmählich die filzweichen Mauern der kleinen Torfburg annagten, wie die braunschwarzen Strebepfeiler nach und nach von dem Feuer verzehrt wurden, wie sich über der Asche ein Glutkegel bildete, aus dem ein blaues Rauchfähnlein emporwirbelte, das der Kamin oben gierig verschlang.

Dann bastelte er an irgend etwas herum, besserte seine Fallen aus – genug Arbeit für alle zehn Finger eines Menschen während der ganzen zwölf Monate eines Jahres –, hing einen Aal zum Räuchern auf, redete mit seinem Bussard, der immer noch nicht zur Vernunft gekommen war, dieses dumme Vieh, das sich nach wie vor den Kopf an den Käfigstangen blutig stieß, wenn es sich nicht gerade Ungeziefer fing.

Unter dem Estrich aus gestampftem Lehm hatte er überdies eine Lage Torf entdeckt und noch dazu diesen erstklassigen Torf aus Bru, der Löcher in die Töpfe brennt. Er hatte gleich auszuheben begonnen, und schon gähnte zwischen der Mauer und seinem Bett ein tiefes Loch, in dem er zu jeder Jahreszeit ungehindert Torf stechen konnte, ohne daß es das Steueramt etwas anging. Er würde dann das Loch wieder zuschütten, wenn er alles herausgeholt hatte – Erde war ja genug da –, um dann gleich daneben weiterzugraben. Insgesamt rechnete er mit etwa fünfzig Kubikmetern, die ihm auf diese Weise zur Verfügung standen, abgesehen von dem Spaß, den er hatte, wenn er so in seiner Brière herumwühlen konnte, ohne aus dem Haus zu müssen.

Ja, alles das gehörte mit zu der Behaglichkeit, nach der er sich schon immer gesehnt hatte, so ein Leben ganz nach seinem Gutdünken, und das ihm eine Lust gewesen wäre, wenn ihm die Enttäuschung mit diesen verflixten Briefen nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Wenn er daran dachte, wie klein der Teil des Moorgebietes war, den er noch abzusuchen hatte – vielleicht nur noch zehn Weiler –, dann krampfte sich ihm das Herz zusammen. Diese Unruhe verfolgte ihn noch im Schlaf. Seine Nächte waren ebenso vergiftet wie seine Tage, und wenn ihn ein lügnerischer Traum narrte, dann war das Erwachen nur um so schlimmer. Alles hatte er darangegeben, alles hatte er auf später verschoben, sogar die Angelegenheit mit den Tüchern, die seine Frau verpfändet hatte, weil er sich jetzt vollständig in diesen verflixten Knoten verbissen hatte.

Ein oder zwei Tage hatte die Freude vorgehalten, daß es ihm gelungen war, den Gimpel von Mayun auf den Leim zu locken, wie er es sich wünschte. Auch noch eine andere Sache rüttelte ihn auf: Die Brière gewann nämlich wieder sichtlich neues Leben durch die ausgesperrten Arbeiter. Es wimmelte förmlich von Köpfen und Armen, wie er es in Indien bei manchen Götzenbildern gesehen hatte. Wohl gab es darunter einige Taugenichtse, ein paar Fischräuber und Wilddiebe, aber er ließ sie gewähren. Das bißchen Weidfrevel stand irgendwie in Einklang mit Gesetzen, die viel älter waren als alle Satzungen der Regierung.

Aber diese anderen, diese Missetäter, die die schwarze Erde stahlen, diese Lumpen, die die ureigenste Substanz der Brière verschacherten, die hätte er am liebsten, wie er sich ausdrückte, zwischen den Daumennägeln zerquetscht.

Trotz seiner Inanspruchnahme war er Tag und Nacht hinter ihnen her. Nie zuvor hatte er so viel natürliche Bosheit an den Tag gelegt, so daß es bald allgemein hieß, er lasse seine Wut über den Mißerfolg seiner Nachforschungen an ihnen aus.

An einem Sonntagabend hatte er in der Wirtschaft von Pendille mit so einem Galgenvogel – er war aus Beuvron und hatte den Spitznamen »Laus« – einen Wortwechsel, der einige Zeit danach weittragende Folgen für ihn hatte. Dieser Kerl rühmte sich da öffentlich, daß er schon seit zwanzig Jahren Torf stehle. Er saß mit dem Rücken gegen Augustin und hatte ihn nicht kommen sehen.

»Augustin wird dich schon noch erwischen«, sagten ihm seine Freunde.

»Vor dem hab' ich keine Angst. Für ihn ist mein Gewehr immer geladen.«

Da klopfte ihm Augustin unvermutet auf die Schulter.

Der Mann aus Beuvron war ein hitziger Kerl. Er sprang mit einem Satz auf.

»Was haust du mir auf die Schulter?«

»Weil es mir so Spaß macht!«

Wie sich da die beiden, Auge in Auge, mit roten Köpfen zornig gegenüberstanden, glichen sie zwei Wölfen, die sich gegenseitig zerreißen wollen. Der Torfräuber hatte es auf eine Schlägerei abgesehen.

»Das machen wir zwei unter uns allein aus, und zwar noch ehe vierzehn Tage herum sind!« schrie ihm Augustin im Fortgehen zu.

Es kochte in ihm.

Die größte Bitterkeit empfand er darüber, daß man sich derart seiner Autorität widersetzte. Niemand hätte sich eine solche Frechheit gegen ihn herausgenommen, wenn nicht der Fehlschlag bei seinen Nachforschungen in den Dörfern gewesen wäre.

Er ging heute nicht zu Julie, sondern sofort heim in seine Hütte. Ein Stück getrockneter Aal war alles, was er aß. Den ganzen Abend lang ging ihm vor seinem Kamin der Streit im Kopf herum. Diese Wunde bohrte in ihm, Gedanke reihte sich an Gedanke, und er knurrte dabei vor sich hin wie ein alter Hund, der jaulend von Beißereien träumt.

Er ging nicht zu Bett. Und wie er so dasaß, ließ sich ein eigenartiges Geräusch von der Tür her vernehmen.

»Verdammt«, sagte er sich, »wenn er das wäre!« Er dachte dabei an »Laus«.

Aber schon wieder regte sich etwas an der Tür; diesmal war es ganz deutlich, daß jemand klopfte.

Da nahm er sein Gewehr, lud es, ging mit festem Schritt hin und schloß auf.

Nichts … Nichts als Dunkelheit und Wind.

»Wer ist da? … Was ist los?« fragte er mit lauter Stimme, da er doch ganz sicher war, das Klopfen an seiner Tür gehört zu haben.

Er hielt sein Gewehr bereit. Im Winde hörte er Schritte, und zugleich tauchte auf der Schwelle neben ihm, ganz in ein Tuch gehüllt, ein Gesicht auf voll tiefster Seelennot, ja fast von Wahnsinn entstellt, auf das der helle Schein der Lampe aus der Stube fiel. Es war das Gesicht seiner Tochter, das erschreckend blaß unter dem Schal hervorsah, in den sie sich fröstelnd eingewickelt hatte.

»Ich bin gekommen …«, stammelte sie.

»Zum Kuckuck! … Das sehe ich auch, daß du gekommen bist!«

Langsam entlud er sein Gewehr und betrachtete sie dabei, wie sie zitternd an der Wand lehnte, die Finger ins Mauerwerk verkrallt, mit dem Blick eines gequälten Tieres.

Er jagte sie nicht fort.

Der Anblick dieses Gesichtes machte ihn unsicher, so sehr offenbarte sich darin irgendein unbekannter Schmerz, wie er ihm noch niemals in den Zügen einer Frau begegnet war. Nie war sie ihm so schön vorgekommen, und diese schmerzerfüllte Schönheit, die über ihrem Gesicht lag, erinnerte ihn unwillkürlich an das tragisch-ernste Bild der Schmerzensmutter mit den sieben Schwertern.

Aber wie er sie nun in ihren Schal gehüllt und an die Wand gedrückt von Schluchzen fast ersticken sah, begann er gleich wieder ungeduldig zu werden. Er spuckte in die Asche und meinte dann wegwerfend, wie wenn das arme Mädchen nur zu einem kleinen Besuch hergekommen wäre:

»Hör auf! … Hast jetzt genug geheult! … Geh wieder heim!«

Aber Theotist hatte, um bis hier an diese Türe zu kommen, soviel Seelenqualen ausstehen müssen, daß sie nicht so rasch Herr über sich selbst und ihre Angstzustände werden konnte. Sie wollte sprechen, aber er schüttelte den Kopf.

»Nichts da! Ich will nichts hören!«

»Vater!« flehte sie.

Aber er unterbrach sie:

»Schon gut, schon gut! … Ich weiß alles, was du mir sagen willst, von A bis Z … Ich kenne jeden Punkt und jedes Komma … Es ist verlorene Liebesmüh', mich umstimmen zu wollen … Du kommst ja nur, um deine Fühler auszustrecken; willst sehen, ob man sich mit seinem Vater nicht doch noch gütlich einigen kann … Nein, mein Kind, daraus wird nichts! Es wäre schade für die Zeit … Jedes Wort ist zuviel … Also hör, was ich dir zu sagen habe, einen Zweifel kann es dann nicht mehr geben … und dann wirst du wieder schön nach Hause gehen … Ich bin nämlich hierhergezogen, um meine Ruhe zu haben … Es ist mir zwar ganz lieb, daß du gekommen bist … ja, das ist schon gut …«

»Vater!« schrie Theotist auf, »laß mich reden! …«

»Es gibt Dinge, die ich niemals zugeben kann. Eher lasse ich mich auf der Stelle umbringen, als dazu ja zu sagen. Das sind dann solche Sachen, bei denen nicht ich zu bestimmen habe, sondern die von einem anderen Gesetz abhängen, das von einem Mächtigeren stammt als wir … Ich rede heute mit dir, wie ich noch niemals in meinem Leben zu dir geredet habe … denn da drunten … in meinem Hause … Aber, lassen wir das … Mein Vater hat sich seine Frau in Fédrun gesucht, mein Großvater hat sich eine Frau hier genommen, und alle bis in die urdenklichsten Zeiten haben sich hier verheiratet mit einer Frau aus unseren Reihen … Die Leute von Mayun haben von jeher wenig gegolten hier bei uns; und wenn das schon immer so gewesen ist seither, dann eben nur deswegen, weil Gründe dafür vorhanden sind, Gründe genau so unabänderlich wie die, daß die Aalbrut immer nur aus dem Laich der Aale auskriecht … Ich bin nicht Herr darüber … Ich habe die Gesetze nicht gemacht, weder die da oben noch hier unten … Aber eine Stimme da drinnen sagt mir: ›Augustin, du bist zum Wächter über die Wahrheit gesetzt.‹ Und ich kann darauf nur sagen: ›Gut, daran läßt sich nichts kritteln und nichts deuten.‹ Siehst du, um dessentwillen kannst du also nie die Frau dieses Galgenvogels werden, so lange ich lebe … Und wenn du auf meinen Tod wartest, um ihn zu heiraten, auch dann ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, meine Liebe; denn ich könnte sehr wohl euch noch im Auge behalten … So, und jetzt geh heim zu deiner Mutter!«

»Vater, ich bitt' Euch! … Soll das Euer letztes Wort sein? … Ihr verdammt Euer Kind!

Vater!« rief sie noch einmal, als sie gewahrte, wie der Alte seine Faust erhob und zu fluchen anfing. »Eines wißt Ihr noch nicht!«

Und mit schwacher Stimme flüsterte sie noch ein paar Worte, die Augustin mehr erriet als verstand.

Mit einem Ruck war er in die Holzschuhe gefahren und hatte sich der Tochter zugewandt, den Mund verzerrt, das Gesicht schrecklich entstellt.

»Sag das noch einmal, was du eben gesagt hast!« schrie er sie an und richtete sich in voller Größe auf, ohne zu merken, daß er beinahe ins Feuer getreten war. Dann riß er ihr den Schal weg, den sie mit verkrampften Fingern festhielt.

»Wo ist es? … Das möchte ich sehen! … Zeig her das Unkraut! … Das willst du mir nur vormachen, du Schlange. Du bist ja nur hergekommen, um mich anzulügen.«

»Ich lüge nicht. Es ist wahr, Vater!«

»Halt dein ungewaschenes Maul! … Hundertmal hast du mich schon angelogen … Wenn das wahr wäre, so würde ich dich zertreten wie einen Wurm! … Und wenn ich jemals erfahren sollte, daß du dich mit diesem Lumpen eingelassen hast, dann … Fluch über dich! … Marsch hinaus! … Pack dich fort!«

Er machte die Tür nur gerade so weit auf, daß sie durch den Spalt hinausschlüpfen konnte. Wortlos, mit gesenktem Kopf, ging sie.

Heftig drehte er hinter ihr den Schlüssel um.


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