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III.

In dem Viertel an der Inselspitze, dem entgegengesetzten Ende von Fédrun, lag einsam und verlassen am Rande des Moores eine steinalte Hütte von primitivster Bauart, ohne Speicher und Dachluke, ganz verloren in einer seit Jahren unberührten Wildnis. Die nächste Behausung war gut zweihundert Meter entfernt, der Boden ringsherum denkbar schlecht, über und über mit Torfstücken bedeckt und von Dornengestrüpp und Stechginster überwuchert. Weder Kalk noch Gips hielten die Bruchsteine zusammen. Regen und Wind hatten das Strohdach zerzaust, das überall unter der Last der dicken Moosschicht nachgegeben hatte und sattelförmig durchgebogen war. Niemand wohnte mehr in dieser armseligen Hütte.

Augustin kam zuweilen sonntags her, um sich das Gerümpel anzusehen, das sich hier mit der Zeit angehäuft hatte: ausgedienter Hausrat, geborstene Reußen, Harpunen mit abgebrochenen Zinken. Wenn ihm ein Stift am Scharnier seines Fischkastens fehlte, fand er oben auf den Resten des ehemaligen Schrankes die alten Werkzeuge seines Vaters, und dabei mußte er auch immer an die furchtbare, große Frau denken, die ihm mehr Schläge als Butterbrote verabreicht hatte.

»Ach, Mutter«, sagte er beim Anblick der alten, längst erkalteten Aschenreste, die seit mehr als dreißig Jahren im Herde lagen, »was für eine schöne Tracht Prügel habe ich damals von dir bezogen, als ein Nachbar mich dabei erwischte, wie ich unter seine Enten tauchte, um sie an den Füßen zu packen!«

Hier verbrachte er die Nacht, eine Nacht vollkommener Ruhe, um anderntags einen klaren Kopf zu haben.

Er kam von der Bertspitze und vom Wolfshag, wo er vergeblich nach den Dokumenten gesucht hatte. Und lieber, als nach Hause zu gehen und sich zu seinem Ärger noch den Streit aufzuladen, der bei seiner Stimmung unausbleiblich war, hatte er sich gesagt: »Schlafen wir also wieder einmal daheim.«

Der Gedanke war ihm so ganz zufällig gekommen. Es war das erste Mal, daß er nicht zu Hause schlief, und dieser unbesonnene Streich brachte ihm vollends zum Bewußtsein, welch herrliches Leben er hätte führen können, wenn er nicht vor Zeiten die große Dummheit begangen hätte.

Frühzeitig war er aufgestanden und hatte sich draußen vor sein Häuschen gesetzt in den leichten Morgennebel, der den Kopf frisch macht.

Vor ihm lagen im weiten Kreis, den die Fernsicht freigab, all die Dörfer im blauen Dämmerlicht ausgebreitet, die jetzt durchsucht werden mußten; und nachdenklich ließ er seine Blicke von einem Kirchturm zum andern schweifen.

Diese Geschichte mit der Brière hatte ihm zunächst einen schweren Stoß versetzt. Aber dann hatte er sich wieder gefaßt und sein Gleichgewicht zurückgewonnen. Die Gefahr flößte ihm jetzt mehr Haß als Furcht ein. Tausendjährige Kräfte standen ihm ja zur Seite. Er brauchte keine Hilfe. Die Dokumente wird er schon zur rechten Zeit und an der richtigen Stelle finden … Er hieß ja nicht umsonst Augustin.

»Geldmenschen, lausige, kommt nur her, ihr habt ja doch das Nachsehen … Kommt nur und seht, wie es der alte Brièrone anfängt, um weiter auf seiner Torfscholle sitzen zu können!« höhnte er und sah dabei zu, wie die Sonne leuchtend über dem Moor aufging.

Ein Sonnenaufgang auf der Brière ist ein eigenartiges Schauspiel, das auch die Inselleute selbst nicht gleichgültig läßt. Sie wissen nur zu gut, daß der feierliche Anbruch des Tages hierzulande etwas außergewöhnlich Prächtiges ist, und sie bewundern auf ihre Art diesen gewaltigen Feuerbrand, der auf den Wassern glüht und überall seine großen, goldenen Blumen ausstreut. Die einzelnen Wasserläufe blitzen auf; die Weiher werfen das Licht zurück, und aus dem milchweißen Nebel, der alle Grenzen verwischt, schwebt ein leichter, blaßroter Schimmer über der Endlosigkeit von Schilf und Wasserpflanzen.

Mit diesen Sonnenaufgängen hat es seine eigene Bewandtnis: In uralten Zeiten war das ganze Gebiet ein riesiger, schwarzer Wald. Eines Abends wagte sich die Schloßherrin von Blanche-Couronne, deren Gemahl im Heiligen Lande kämpfte, aus den Mauern ihrer Burg heraus. Im Walde wurde sie von Räubern überfallen. Sie warf den Banditen ihren Ehering ins Gesicht und suchte zu fliehen. Als es aber keine Rettung mehr gab, rief sie in so großer Liebe den Namen ihres Herrn, daß der Wald rings herum versank und sich in ein tiefes Moor verwandelte. Jetzt stand sie ganz allein mitten in diesem großen See und sie brachte so die ganze Nacht auf dem kleinen Erdhügel zu, bis die Morgenröte kam, und die Gewässer der Brière für immer den Glanz ihrer Juwelen annahmen.

Freilich, das war eine andere Sonne als jene aus Goldpapier, die einst als Schmuck über dem Kamin von Augustins Mutter hing. Und während er gemächlich seine Pfeife rauchte, sah er zu, wie ihre Strahlen länger und länger wurden und die Moorheide draußen übergoldeten, auf der die Torfhaufen zwischen dem Schilfröhricht sich vor dem aufsteigenden Bodennebel dunkel abhoben. Da sah er plötzlich zu seiner größten Verwunderung, denn es war Sonntag, eine ganze Anzahl von schwer mit Torf beladenen Booten auftauchen, die von draußen kamen.

»Die haben es aber sehr eilig, die da. Torf, der noch nicht einmal trocken ist … Ihn so wegzubringen!«

Aber er begriff rasch, weshalb es ihnen so eilte. Er tat einen heftigen Zug aus seiner Pfeife, brummte etwas vor sich hin und zuckte die Achseln. »Na, sieh mir einer diese Narren an! Die Schlauberger bilden sich wahrhaftig ein, wenn nur sie ihre Vorräte daheim hätten, dann wäre ihre Brière in Sicherheit.«

Dieser Mangel an Vertrauen, dieses ängstliche Gehaben machten ihn wütend. Wenn er nicht so weit weg gewesen wäre, hätte er ihnen ein paar Grobheiten zugerufen.

 

Um die Zeit des Hochamtes stellten sich auf dem Kirchenplatz so viele Menschen ein wie noch nie. Alle dazugehörigen Dörfer, alles Volk von den Ufern der Brière war gekommen, um aus dem Munde der Torfstecher Neuigkeiten zu hören. Die ganze Insel war auf den Beinen. Eine Woge von schwarzen, kleinen Hüten staute sich auf dem Platze und reichte bis zum Kirchhof hinein. Die Bauern, die gekommen waren, um ihre Kastaniensetzlinge zu verkaufen, wußten nicht, wo sie ihre Ware hinstellen sollten, und die kleinen Straßenhändler mußten wieder einpacken. Es war ein Geschrei, daß man sein eigenes Wort nicht verstand. Die ganze Insel war erfüllt von dem Lärm, mit dem jeder seine Vermutungen feilbot, und die Gerüchte wollten kein Ende nehmen. Hier sprach man von einem Unternehmen, das Torf zu künstlichen Rasenflächen verarbeiten wollte; dort erzählte man sich von Feldmessern, die man erwischt und samt ihrem Omnibus, mit dem sie in aller Frühe gekommen wären, zum Teufel gejagt habe. Nach der Schilderung sah der Omnibus ungefähr so aus wie das Tier in der Geheimen Offenbarung: Sieben Köpfe, zehn Hörner, auf jedem Horn ein Lästerwort. Manche zeterten: »Das ist die Regierung!« – »Und ich sag' dir, eine Gesellschaft steckt dahinter!« Man sprach davon, den Fremden übel mitzuspielen, die sich auf der Heide blicken ließen, jeden Kahn zu versenken, falls jemand sich dazu hergäbe, einen solchen den Jägern aus der Umgegend zu vermieten. Mitunter kam es zu erregten Äußerungen: »Es ist eine Schenkung! – Das lassen wir uns nicht gefallen! – Was soll denn da aus unseren Kindern werden?« Doch jetzt vernahm man plötzlich irgendwo die Stimme Augustins: »Nur ruhig Blut! Sie werden sich schon noch finden, euere Dokumente!«

Nun kam es zu einem merkwürdigen Zwischenfall: Eine alte Frau, die auf einem ungesattelten, großen Gaul saß, den sie irgendwo im Moor aufgelesen hatte, tauchte plötzlich aus einem Seitengäßchen mitten in diesem Tumult auf. Ihr Rock war über und über mit Schlamm bespritzt. Sie trug das Gebetbuch unter dem Arm und schien taub für das Hohngelächter rings herum. Auch nahm sie keinerlei Notiz davon, daß alle ihren Namen schrien: »Florenze! Florenze!« Jeder kannte sie, die Einsiedlerin vom Kervily-Dolmen. Es war ja nicht zum erstenmal, daß diese verrückte Alte sich so etwas leistete. Man zog sie an den Füßen; man zerrte am Zügel, um das Pferd in Trab zu bringen. Es war ein aufgedunsenes Tier, das, so gut es ging, die vom Lastenziehen mißgestalteten Beine hob, während die Alte schrie: »Ich bin die Jeanne d'Arc der Brière, ich will in die Kirche reiten!« Das ging so lange, bis sie Augustin gewahr wurde. In ihrem Schrecken ließ sie sich anpacken und auf die oberste Stufe der Kirchentreppe bringen.

»Ach, du hast mich vom Pferde geholt, Luzifer! Aber du wirst nicht finden, was du suchst … du wirst sie nicht bekommen! Das prophezei' ich dir … weil du mich hier vor dir miauen läßt wie eine Katze, die sich verlaufen hat …«

Und doch war es ein Sonntag wie alle anderen mit Glockengeläute, das man bei diesem schönen Wetter bis von Crossac und St. Reine her hören konnte. Auf dem Damm von Rochette fanden auch Kampfspiele statt zwischen dem Gänserich von Montauciel und dem von Quatre-Cents-Grenouilles, die von ihren Herren vorher mit branntweindurchtränktem Hafer gefüttert worden waren.

Es wurde drei Uhr, es läutete schon zur Vesper, und Augustin war noch immer nicht zurück. Sein langes Ausbleiben mußte allmählich beunruhigen. Aber er machte sich nicht die geringsten Vorwürfe in seinem »Wespennest«, wie er sein Gewissen nannte; im Gegenteil, er stellte sich sogar mit einigem Vergnügen vor, was für ein Gesicht seine Frau wohl machen würde. Aber da der Mensch ja ein Gewohnheitstier ist, und weil er jetzt mit der Ausbesserung seines Kahnes für die große Fahrt fertig war, gönnte er sich trotz allem das zweifelhafte Vergnügen, seine Schritte wieder heimwärts zu lenken. Allein, je näher er kam, um so unheilvoller ballten sich die zornigen Wetterwolken zusammen. Alle die häßlichen Einzelheiten seiner Häuslichkeit gewannen wieder Gestalt, der bucklige Nachbar Richard mit inbegriffen. Schon der bloße Gedanke an seine Frauensleute, vor allem an Nathalie mit ihrem kleinen Kopftuch, ihrem schwarzen Rock und Mieder, ihrem großen, gelblichen Schneidezahn, der wie ein Spinnenbauch in der Sonne glänzte, ließ ihn die Lippen zusammenpressen und bereitete ihm Unbehagen … Ein schlimmes Weib, wenn sie auch äußerlich noch so sanftmütig tat; schlimmer noch als alle anderen ihresgleichen. Geizig, hinterhältig konnte sie wie keine zweite ihre Bosheit hinter einer unschuldigen Duldermiene verbergen. Schlug er einmal über die Stränge, verspätete er sich bei Julie, so fand sie tausend Möglichkeiten, um kleinliche Rache zu nehmen: Da ist die Flasche nicht mehr zu finden; da bleibt die Tür am Abend verschlossen, mag er noch so laut klopfen; da gibt es die ganze Woche nur altbackenes Brot. Und wurde er auf das hin zornig, dann mimte sie ihr bekanntes Zittern, daß ihn schon dieser Anblick allein in Wut versetzte. Dieses verfluchte Gehaben machte ihn rasend. Bei solchen Anlässen hätte er sie am liebsten erwürgen mögen.

Die Freiheit, ja das war's, was ihm fehlte. Die Freiheit des Reihers, der nächtigt und fischt, wo das Schilf ihm gefällt … Nie hatte er sich so sehr nach dieser Freiheit gesehnt wie jetzt, da er älter wurde. Früher hatte er sich nicht viel dabei gedacht. In der Jugend kümmert einen das nicht; da dreht sich alles wie ein Mühlrad. Wenn aber erst einmal das Alter kommt, dann hat man nicht mehr die Kraft, sich von der Bank zu erheben trotz aller Weisheit, die es mit sich bringt … All die älteren Leute aus seiner Bekanntschaft haben schließlich einander mit Geduld ertragen gelernt, aber bei ihm war gerade das Gegenteil der Fall … Und er träumte von dieser Freiheit, selten wie Gold, kostbar wie Gold, die er aus reiner Dummheit aufgegeben hatte, ohne zu wissen, was er tat. Heute bedauerte er diesen Verzicht, und zu diesem Bedauern gesellte sich der Unwille und das Gefühl der Demütigung, die der Stolz des alternden Adam kaum überwinden konnte, besonders der Gedanke, daß es nur eine Frau war, die letzte und erbärmlichste seiner Rippen, die ihn fünfunddreißig Jahre lang um seine Freiheit betrogen hatte.

Was nun die Geschichte von gestern abend betraf, so ließ sich im Augenblick trotz allem nicht viel dagegen tun. Die Dummheit des Nachbarn Richard allein gab ihm, wenn er sich's recht überlegte, noch nicht genügend Handhabe, um zum Schlag auszuholen. Er knirschte mit den Zähnen.

Ich werde sie gefügig und gottergeben machen wie zwei Heilige, dachte er bei sich. Aber im gleichen Augenblick blieb er stehen und starrte zwischen der Gabelung eines wilden Maulbeerbaumes hindurch; denn da vorn auf der Türschwelle nahm er die runde Haube, das schwarze Mieder und den schwarzen Rock wahr.

Sie wartete auf ihn. Wie eine Schildkröte streckte sie den Kopf vor und zog ihn wieder zurück. Sicher beschäftigte sie der Gedanke: »Was mag er wohl treiben?«

Dieser Anblick machte ihm wahrhaft keine Freude. »Alter Freund, wenn du die Hunde kraulst, bekommst du Flöh'!« Er blieb wie angewurzelt stehen und brummte in den Bart. Schritt für Schritt wich er zurück, bis er schließlich vollkommen den Kurs gewechselt hatte und auf das Etage-Viertel lossteuerte, wo Julie wohnte.

 

Sie war zu Hause.

»Na. Julie, … alte Schachtel!«

Eine weiche, frische Mädchenstimme, die im Leiertone vorlas, hielt inne, und eine breite Frauengestalt erhob sich von ihrer Putzarbeit am Boden.

»Sieh da, Augustin!«

Die Frau sah ihn mit ihren großen, graugrünen Augen an, die offen und gutmütig in die Welt blickten und keine Spur von Falschheit verrieten.

»Armer Augustin, du bist von Nantes heimgekommen, um wenig Erfreuliches zu hören!«

Er setzte sich ohne Umstände an den Tisch, stützte beide Ellenbogen auf und machte schon ein viel vergnügteres Gesicht. Immer, wenn er bei Julie eintrat, wandelte sich sein finsterer, übellauniger Blick, den er sonst zur Schau trug. Ihr Haus war wohl auch das einzige, in dem er verkehrte.

»Maria hat mir gerade eine schöne Geschichte vorgelesen«, sagte sie, »die Geschichte vom Jakob, wie er mit dem Engel ringt. Ich dachte mir: gerade so geht es der Brière. Hoffentlich wird auch sie die Stärkere sein … Was für ein Unglück! … Was meinst du dazu, Augustin? … Wie wird diese Geschichte ausgehen?«

»Laß den Karpfen nur ruhig den Fluß hinaufschwimmen«, erwiderte er seelenruhig.

»Mein Gott! Und wenn die Dokumente sich nicht mehr finden!«

»Sich nicht mehr finden? Ich pfeife auf alle diese Wenn und Aber. Wer im Recht ist, der bleibt es auch für immer … und keine Macht der Welt ist imstande, das ungeschrieben zu machen.

Das ist genau so wie mit einem Sumpfhuhn, auf das man geschossen hat … Hat man es schon jemals gleich im Gebüsch gefunden? Man sucht herum, biegt die Zweige mit der Flinte auseinander … und dabei hat sich das Biest ganz in deiner Nähe mit den Flügeln in der Gabelung einer Weide verfangen … Laß mich nur machen! Augustin wird's schon schaffen.«

Auf beide Arme gestützt, die großen, tätowierten Hände vor sich gekreuzt, sah er zu, wie Julie in einem Bottich, den sie auf den Tisch gestellt hatte, einen Stoff immer wieder eintauchte, der sich nach und nach mit einer blauen dampfendheißen Flüssigkeit tränkte.

»Es ist ein alter Überrock, den ich mit Wickenwurzeln färben will, die mir Cendron geholt hat … Wir können's uns ja leisten …«

Augustin wußte, wie sparsam mit allem und jedem unter diesem Dach gehaust wurde, und wie tüchtig die arme Julie war. Arm im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr ganzer Besitz bestand in einer kleinen Herde von acht Schafen. Das Haus, in dem sie wohnte, gehörte ihr nicht. Seit Jahren hatte sie sich um Gottes Lohn die Erziehung der beiden Waisenkinder ihrer Schwester aufgehalst: Cendron, der jetzt zwölf Jahre alt war, und Maria, die bereits über sechzehn zählte. Schwere Schicksalsschläge hatten einst ihr Leben vollständig geändert. An sich selbst durfte sie jetzt nicht mehr denken. Aber so war sie zu einer großen Mütterlichkeit gereift. Ein ruhigeres Leben hätte sie sich auch gar nicht mehr gewünscht. Eine Nebeneinnahme hatte sie zwar von einem Mieter, dem sie seit drei Jahren Kost und Logis gab; aber dieser Verdienst war sehr gering, und so sparte sie mit dem Stroh, schürte ihr Feuer nur schwach und machte aus einer Hose zwei. Mit ihrer Bienenzucht verdiente sie das tägliche Brot. Sie schnitt Seegras für Matratzen; den ganzen Tag über war sie auf den Beinen. Es konnte vorkommen, daß sie sich über ihre eigene Betriebsamkeit lustig machte: »Was dampft denn da so?« sagte sie dann. »Ach, das bin ich ja selbst. So heiß ist mir geworden!« Und sie kochte und wusch, gab auf Cendron acht und war oft so müde, daß sie sich »wie ein Huhn auf ein Bein stellen mußte«.

Augustin hatte sich ein Pfeifchen angesteckt, und während Marie leise las und ihr zartes, hübsches Gesicht mit dem lebhaften, dunklen Blick über das alte Buch neigte, schaute er mit halbgeschlossenen Augen und sichtlichem Behagen Julie bei der Arbeit zu. Sie wand ihren Rock aus, hing ihn vorm Feuer zum Trocknen auf, schüttete die sauere Milch aus den kleinen Töpfen in einen Napf, setzte sich dann an den Tisch und putzte ihren Sauerampfer, den sie am Wege gepflückt hatte. Alle ihre Bewegungen empfand er wie Musik.

Das Grünzeug wanderte aus dem Tuch in die Schüssel, indes sie sachte ihr Gespräch von vorhin wieder fortsetzte. Sie fragte ihn, woran er im Augenblick denke.

Da erzählte er von seiner Fahrt nach Nantes und schließlich auch davon, wie er bei seiner Ankunft gestern abend in Fédrun plötzlich auf seinem Weg so niedliche, kleine Blumen entdeckt habe, und wie diese Blümchen ihn bis zu seiner kleinen Hütte gelockt hätten. Einmal dort, sei ihn plötzlich die Lust angekommen, die Nacht hier zu verbringen, einsam wie in jungen Jahren.

»Die Geschichte mit der Brière hat dir wohl ganz den Kopf verdreht, armer Augustin! Und was hat dann Nathalie dazu gesagt?«

»Nathalie? Die habe ich noch gar nicht gesehen.«

»Aber das ist doch nicht möglich!«

»Oh«, meinte Augustin, »sie wird sich hüten, mir Vorwürfe zu machen … Aber ihre kleine Rache wird sie mich schon fühlen lassen, natürlich mit der süßesten Unschuldsmiene.«

Julie, die eine entfernte Verwandte Augustins war, kannte das Familienleben des alten Paares sehr gut.

»Mit einem guten Wort bringt man sogar manchmal einen Stier zu Boden«, gab sie ihm mit gelassener Stimme zurück, wie sie es immer tat, wenn sie ihm den Kopf zurechtsetzen wollte. »Und viele Dinge wandeln sich zum Guten, je nach der Art, wie man sich zu ihnen einstellt. Nathalie hat viel durchmachen müssen, als du deinen Buben fortgejagt hast; und jetzt, wo Theotist in Nöten ist, sagt sie sich: Ein schrecklicher Mensch! Was hat er nur davon, seine Kinder aufzufressen?«

»Ich bin kein Menschenfresser«, gab er trotzig zur Antwort. »Ich habe noch niemand gefressen, wie du mir da vorwirfst … Freilich, unter den Pantoffel lasse ich mich nicht zwingen. Was ich einmal gesagt habe, daran halte ich fest. Ich bin schon zu alt, um mich noch biegen zu lassen.«

»Reg dich doch nicht auf!«

»Ich reg' mich ja gar nicht auf. Aber es ärgert mich in der Seele … Alle diese jungen Leute haben kein Mark in den Knochen. Sie werden hin und her gezerrt; sie haben von den Dingen keine Ahnung und deshalb auch keinen Respekt. Keiner weiß mehr, wo er herkommt … Und nun meine ich so: Die Brière ist mehr als wir; sie ist die Kuh, wir sind die Kälber. Ohne Brière und ohne ihre Gesetze gibt es keine Brièronen; ohne Brièronen, die dieses Joch auf sich nehmen, keine Brière. Das eine ist die Voraussetzung für das andere. Fehlt eines davon, dann reißt alles ab, und jeder geht so jämmerlich zugrunde wie der Fisch im Eis … Die Brière, die mich kennt, weiß, daß ich mich noch nie in Nebelregionen verloren habe, und sie heißt mich, an diesem Gedanken unverbrüchlich festzuhalten und meinen Widerstand nicht aufzugeben. Und so rufe ich allen zu: Es gibt keine andere Wahl! Kehrt um auf eurem Weg, kommt zurück! … Die Brière selbst ist es, die uns das befiehlt … Seht euch vor!«

Im oberen Stockwerk regte sich etwas, als sei jemand durch die Decke hindurch vom Klang der Stimme geweckt worden. Es war der Mieter. Einen Augenblick später trat er ein.

Im Hause nannte man ihn Herr Ulrich. Aber auf der Insel hatte man ihm allgemein den Spitznamen »Herr Ohnesorg« gegeben, der wunderbar zu seinen lebhaften kleinen Augen, seinen Sommersprossen, den paar spärlichen Borsten ums Kinn und der ausgelassenen Fröhlichkeit paßte, die immer um seine Züge spielte. Kein Mensch wußte, weshalb er dem nahen Städtchen, aus dem er stammte, den Rücken gekehrt hatte und sich in dieser gottverlassenen Gegend aufhielt. Sohn eines Notars, der wegen mißlicher Geschäfte das Zeitliche gesegnet hatte, war auch er für eine kurze Zeit seines Lebens auf dem schwierigen Posten eines Kanzleisekretärs tätig gewesen. Jetzt aber gehörte er unweigerlich zu Julies Haushalt. Damals, als Maria daran dachte, sich für die Aufnahmeprüfung im Lehrerinnenseminar vorzubereiten, hatte er ihr nach besten Kräften geholfen, freilich ohne nennenswerten Erfolg, weil sie immer lachen mußte, wenn sie ihn ansah. Im Hause griff er überall zu, spaltete Holz, richtete den Garten; daneben machte er Experimente mit Torf, ja er hatte sich sogar einen kleinen Königsbrunner Ofen ausgedacht, um dem Torffeuer den unangenehmen Rußgeruch zu nehmen, der seinen Wert, wie er sagte, in den Augen des Städters herabminderte. Durch diese Erfindung hoffte er, sein und natürlich auch Fräulein Julies Glück zu machen.

Nachdem er Augustin begrüßt hatte, half er sofort wie selbstverständlich beim Gemüseputzen.

»Nun, Herr Ulrich ist ja jetzt da; aber wo steckt denn eigentlich Cendron?« erkundigte sich Augustin.

»Cendron? Da kannst du lange fragen, wo der steckt«, schmunzelte Julie unter allgemeinem Gelächter. »Da sitzt er in der Kaminecke.«

Maria schlüpfte hinter das Sackzeug, das vor dem Kamin hing, um den Wind abzuhalten. Aber Cendron wollte sich nicht sehen lassen. Als man ihn aber schließlich doch aus seinem Versteck herausholte, kam er scheu und beschmutzt zum Vorschein.

»Na, Cendron, die Brière ist wohl sehr dreckig?« fragte Augustin den Buben, dessen Pate er war.

»Nein«, gab Cendron zur Antwort.

»Dann ist sie wohl sehr naß?«

»Nein«, schüttelte der Wildfang wiederum den Kopf.

»Ja, aber wie ist dann das?«

»Es wäre gescheiter, wenn du ihm ins Gewissen reden würdest«, fiel Julie ein. »Schau ihn nur an, wie er sich wieder zugerichtet hat. Ich weiß schon bald nicht mehr, wie ich ihn wieder sauber bringen soll … Was meinst du, wo ihn Herr Moyon vorhin erwischt hat? … Am Wasserrechen bei Mazin war er untergetaucht, um die Enten an den Beinen zu packen.«

»Du lieber Himmel! So etwas hast du angestellt? So etwas machst du? … Was muß ich da von deiner Tante hören!«

Cendron tat keinen Muckser.

»Du hast die Enten an den Beinen gezogen?«

Cendron wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

»Komm her, laß dich umarmen!«

Das gab jetzt einen Heidenlärm. Julie tat empört; Herr Ulrich pflichtete bei, und Marias glockenhelles Lachen perlte dazwischen wie Nachtigallentrillern.

»So ein Schlingel … So ein Schlingel!« machte Augustin, ohne ein Wort weiter darüber zu verlieren. Maria hatte jetzt den Arm um den Hals des Buben gelegt und sagte zärtlich zu ihm: »Komm, setz dich daher und laß sie gehen!«

Er blieb mäuschenstill sitzen. An seiner Schwester hing er abgöttisch. Für sie schwänzte er die Schule, um in den Ruinen der alten Natternburg zu wühlen, wo man bestimmt zwischen den Dornen den Glücksring finden mußte, wenn man nur fleißig suchte, nämlich den Ring der Schloßherrin von Blanche-Couronne.

»Unausgesetzt plag' ich mich für ihn … Dabei habe ich keinen Sou, um den Halsabschneider zu bezahlen, der erst heute morgen wieder da war.« Und dann ließ die Tante die ganze Litanei ihrer Sorgen folgen.

Sie hatte die Dummheit begangen, bei dem dicken Krämer, der dazu noch Wucherzinsen nahm, Geld zu borgen. Noch keinen einzigen Centime hatte sie bis auf den heutigen Tag zusammengespart, um das Geld am bestimmten Termin zurückzubezahlen. Und der Mann hatte ihr gedroht, sich an den paar armseligen Schafen, die ihr gehörten, schadlos zu halten.

»Wie ein Aasgeier fliegt er mir immer um den Kopf herum.«

Aber nach und nach beruhigte sie sich. Die gutmütige Julie kam bei ihr wieder zum Vorschein, auf deren Rücken man mehr Wolle scheren konnte als bei ihren Schafen. Maria schenkte Augustin ein Glas Wein ein, der, um seinen Fehler wieder gut zu machen, Cendron mit dem Finger drohte. Herr Ulrich erzählte Geschichten, um seinen Zuhörern die Zeit zu vertreiben. Als Augustin sich dann von seinen Freunden verabschiedete, glühte hinter der Mühle schon das Abendrot am Himmel.

 

Er stieß die Tür auf. Hier ging es weniger laut zu … Drinnen war alles dunkel … Ja, da drinnen wurde es früh Nacht.

Zunächst konnte er nur das Kopftuch seiner Frau erkennen, die am Kamin saß; und beim Eintreten überlegte er sich, ob er den beiden nicht am besten gleich einen Krach machen sollte. Aus dem dämmerigen Dunkel ließ sich Nathalies Stimme vernehmen, aber so schwach, so wehleidig, daß ihn sofort die Wut packte. Er wartete jetzt nur darauf, daß sie die Frechheit hätte und das Thema selber anschneiden würde.

»Augustin«, sagte sie, »ich habe den ganzen Tag vergeblich auf dich gewartet …«

Er schwieg.

»Schon seit heute morgen ist ein Brief für dich da.«

Er sagte immer noch nichts.

»Ein Brief aus Nantes …«

Ein Brief aus Nantes konnte nur von seinem Sohne sein.

Nach einer Pause setzte sie hinzu: »Der Tod hat uns heimgesucht, Augustin.«

Und mit einem tiefen Seufzer beschloß sie diese Kunde, als ob ihr die Stimme versagen würde. Zugleich beugte sie sich über den Herd, um die Glut anzufachen.

Augustin blieb ungerührt. Mit starrem Blick musterte er seine Frau auf ihrem Platz im Kamin. Er brauchte keine weitere Erklärung, um zu wissen, wo sie hinaus wollte. Eine Bosheit, die ihr ähnlich sah, ihn mit dieser Todesnachricht auf die Folter zu spannen. Aber er, nicht minder dickfellig, ließ ihr alle Muße, um sich auszuseufzen sozusagen.

Und so mußte sie wohl oder übel weiterreden.

»Unser Sohn ist Witwer geworden … seit einer Woche, Augustin.«

Er hatte das vermutet … Er äußerte sich nicht im mindesten dazu, ließ sich den Brief vorlesen, der über die Krankheit und die letzten Stunden der Bretonin berichtete.

Die beiden Frauen sahen sich verstohlen an. Beide hatten Angst vor dem heftigen Auftritt, der ihnen wegen der Vorkommnisse von vorgestern abend noch drohte. Nur der Gedanke an diesen Brief, der gerade zur rechten Zeit gekommen war, um ihnen das möglicherweise zu ersparen, hatte sie etwas beruhigt; denn so konnten sie damit rechnen, daß er aus Ehrfurcht vor dem Tode schweigen würde und sie wenigstens heute abend in Ruhe ließe.

Tatsächlich blieb er auch still. Er hatte die Arme gekreuzt. Man konnte seinem Gesicht fast etwas wie Genugtuung anmerken, vielleicht sogar Zufriedenheit.

»Wie man sich bettet, so liegt man«, sagte er schließlich mit finsterer Miene. »Ich hatte meine Gründe, wenn ich verfluchte, und der ewige Lenker hatte die seinen, da er mich erhörte … eine Warnung für alle, die es angeht.«

Von seinem Platze aus sah er forschend zu Theotist hin, die im Hintergrund des Zimmers saß und ihn nur zu gut verstand. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie entsetzt auf ihren Vater.

Und so verging der Abend stumm und traurig wie jeder unter diesem Dache.


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