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V.

»Es ist der Inselwächter Augustin aus Fédrun, genannt Luzifer.« Diese öffentliche Belobigung ihres Vaters hatte trotz allem einen großen, geheimen Stolz in Theotist wachgerufen. Sie war weniger aus Neugier hergekommen als vielmehr in der Hoffnung, bei diesem Menschenstrom auf die eine oder andere Weise etwas von ihrem Geliebten zu erfahren. Als aber dieser gegen jede Erwartung in eigener Person vor ihr auftauchte, dazu noch an der Spitze der Abordnung von Mayun, hätte sie am liebsten in den Erdboden versinken mögen. Diese blauen Flecken kamen ihr vor wie ein öffentliches Brandmal, durch das sie selber bloßgestellt wurde. Wie entsetzlich mußte das Geschwür in seinem Herzen sein, daß er sich so zeigen konnte und dazu noch mit einer so stolzen und herausfordernden Miene.

Sie war ganz verwirrt, aber dennoch blieb sie da und hörte sich die Reden mit an bis zum Aufbruch des Vaters. Bei dessen Anblick wich sie freilich zurück und zog instinktiv ihren Schal fester um sich. Mit einemmal, ohne daß sie wußte, wie es zuging, hatte dieser Beiname Luzifer, dieser Spitzname, der ihr in seiner Verschwommenheit bisher gar nichts bedeutet hatte, in ihrer Vorstellung seinen ausgeprägten, höllisch-finsteren Sinn angenommen. All der Abscheu, die ganze Furcht, die sich mit der Vorstellung des Fürsten der Hölle verbinden, preßten ihr das Herz zusammen, als sein finsteres, ausgemergeltes Gesicht vor ihr auftauchte mit seinen eigenartig funkelnden Augen.

Noch viel unheimlicher aber wurde ihr zumute, als sie dicht hinter ihm Jeanin erkannte. Er ruderte mit beiden Armen, um sich stets in der Nähe seines verhaßten Gegners zu halten. Er heftete sich an seine Sohlen und durchbohrte ihn mit seinem Blick. Ein fürchterlicher Blick war das, aus dem grimmigster Haß aufloderte und der ihn vollends entstellte … Ihr wurde fast übel dabei … Und als sie dann obendrein sah, wie ihr Geliebter bei dem Zug der Aufbrechenden mitging und mit wilder Miene bei dieser Art Ehrengeleite ihm sogar unmittelbar auf dem Fuße folgte, riß es sie zurück. Sie war derart erschüttert von diesem häßlichen, unnatürlichen Benehmen, daß sie bestürzt und beschämt sich nach Hause flüchtete, unfähig, noch länger dazubleiben oder sich gar dem Zuge anzuschließen.

Ihre Mutter, wohl die einzige gesunde Person in ganz Fédrun, die sich nicht im geringsten durch das Fest stören ließ, war bei ihrer Rückkunft gerade damit beschäftigt, das Fressen für ihren Hund herzurichten.

»Da komm her, Wolf, friß!«

Sie hatte ihn noch ganz klein eines Morgens auf der Kirchentreppe aufgelesen; tags zuvor waren Zigeuner durchgekommen. Und dieses Tier tröstete sie über alles hinweg, über ihren Mann, ihren Sohn, ihre Tochter und all die vermißten Zärtlichkeiten während ihrer dreißigjährigen, harten Ehe, ja sogar über ihren verfehlten Beruf.

»Ja, mein guter Wolf, mein guter Wolf! Wenn ich mich am Fenster mit jemand unterhalte, dann stellt er sich gleich neben mich, legt die Pfoten auf den Sims und versteht alles, was ich sage.«

Theotist war auf der Schwelle unter der Haustüre stehengeblieben. Sie hatte in der Ferne das Schreien vieler Stimmen vernommen; es war das Lärmen der Leute, die sich von ihrem Vater verabschiedeten. Und in ihrem nervös-überreizten Zustand mutete sie dieser Lärm an wie das Heulen von Menschen, die gegen ein Tier losgehen.

Während des ganzen Abends konnte sie ihrer Erregung kaum Herr werden. Immer wieder sah sie Jeanins fürchterlichen Blick vor sich. Dazu gesellte sich das zahnlose Profil der alten Quatrofunre, die sie ebenfalls in der Menge entdeckt hatte. In der Nacht konnte sie kein Auge zutun.

Am nächsten Tag erging es ihr nicht besser. Sie saß am Fenster, aber zur Arbeit hatte sie wenig Lust. Immer wieder rastete sie und griff sich an die fiebernde Stirn. Einige Worte, die der junge Mann bei ihrem letzten Zusammensein gesagt hatte, fielen ihr in einem ganz neuen Sinn wieder ein. Sie steigerte sich mehr und mehr in ihre Unruhe hinein.

Es war jetzt fünf Uhr. Der Tag begann sich zu neigen. Da sprang sie so hastig auf, daß ihre Handarbeit und Schere zu Boden fielen. Unordentlich raffte sie alles zusammen und lief wie toll aus der Stube. Fast hätte sie unten an der Treppe ihre Mutter umgerannt, die sie vergeblich fragte, was ihr fehle.

Oben vernahm man das Poltern von Schuhen, die auf den Boden geworfen wurden.

Theotist hatte rasch ihre Stiefel angezogen, sich ein Halstuch umgeknüpft und den Schal übergeworfen.

»Fragt mich nichts«, rief sie der guten Frau zu, die unten an der Treppe wartete, »laßt mich gehen!«

»Setz doch deine Haube auf, wenn du fortwillst, es ist kalt draußen.«

»Laßt mich!«

Und als sie die Türe hinter sich zumachte: »Ich gehe zur Cölestine Mahé.«

Die Arme in den Schal gewickelt, lief sie, so schnell sie konnte, aber nicht zu Cölestine Mahé. Sie ging aus Fédrun hinaus, eilte durch St. Joachim und bog in den Moorweg ein, diesen endlosen, schmalen Weg. Sie konnte nicht anders, sie mußte nach Mayun; weder die späte Abendstunde noch der aufsteigende Nebel konnten sie davon abhalten. Es drängte sie genau so wie damals, als es sie in den Bretecher Wald getrieben hatte. Nach diesen zwei aufregenden Tagen hatte sie nur den einen Wunsch, heute abend noch mit Jeanin zu sprechen, einerlei wo sie ihn fand. Kein Mensch begegnete ihr; nichts Lebendiges war zu sehen, nur ein paar Krähen flogen über sie hin, als sie so ganz allein auf dem langen Weg zwischen den Lachen dahineilte.

Lange ging sie so.

Als sie ankam, verglühte der Himmel rot hinter den Strohdächern. Zu Dutzenden trieben sich noch die Kinder in den Gassen herum und verzehrten gierig die letzten Äpfel, die sie im Keller stibitzt hatten. Beim Anblick des fremden Gesichtes unterbrachen sie ihre Spiele und steckten die Köpfe zusammen.

Es war gerade die Zeit, da die Tiere zur Tränke geführt wurden. Mit wiegendem Schritt trieben große Mädchen, eine Gerte in der Hand, die Kühe zum Brunnen. Lustig klapperten die Holzschuhe an den Füßen. Mitunter warfen sie mit Steinen nach einem Hund. Munter klang ihr silberhelles Lachen; und als sie Theotist ansichtig wurden, verrenkten sie sich fast die Hälse.

Der Platz, wo Jeanin wohnte, wimmelte von Vieh, das sich um den Wassertrog drängte. Die Kühe ließen ihre Mäuler über dem zitternden Wasserspiegel abtropfen, dann machten sie mit einer jähen Bewegung kehrt und verschwanden eine nach der andern im Dämmerlicht der Gäßchen.

Theotist drückte sich an den Häusern hin. Das Herz schlug zum Bersten in ihrer Brust.

Jetzt stand sie vor einer halboffenen Tür. Sie klopfte. Eine Stimme rief: »Herein!«

Zunächst sah sie nur ein paar Brillengläser funkeln, dann bemerkte sie darunter einen grauen Bart, endlich ein kleines, altes Männlein, das ganz braun war und auf seinen Knien Korbruten schälte mitten in einer ganzen Wolke von Abfällen.

»Verzeihung«, sagte sie mit erstickender Stimme, »wohnt hier Jeanin?«

Vom Licht geblendet, beugte der Alte den Kopf vor; denn weder die Stimme noch die Gestalt waren ihm bekannt. Dann machte er statt jeder Antwort zwei oder drei Schnitte, so daß es aussah, als wollte er seine Schaberei fortsetzen, blickte aber dabei über seine Brille weg zur Seite, als müßte er jemand um Rat fragen. Und jetzt bemerkte Theotist, daß dort zwischen den Säcken und den Kartoffelkörben eine alte Frau hockte.

»Ist Jeanin da?« wiederholte sie noch einmal, ohne die Türklinke loszulassen, die sie in ihrer Erregung auf- und niederschnappen ließ.

Aber nun fing der Alte an zu fragen.

»Sind Sie vielleicht aus Fédrun?« sagte er, und dabei blitzten seine Brillengläser so streng, daß es Theotist kalt über den Rücken lief …

»In diesem Fall«, bestimmte der Korbflechter, »wenden Sie sich gefälligst an mich, wenn Sie Jeanin suchen«, und vertiefte sich wieder in seine Arbeit.

Unter anderen Umständen hätte sie sich tödlich beschämt aus dem Staube gemacht.

»Ihren Neffen Jeanin … meine ich … Ihren Neffen …«, wiederholte sie mit erhobener Stimme, um das Brüllen der Kühe zu übertönen. »Wenn Ihr wüßtet, um was es sich handelt, dann würdet Ihr mir rascher Auskunft geben … Ich komme, um ihm sehr wahrscheinlich einen großen Dienst zu erweisen … Eine innere Stimme sagt mir, daß ich ihn sprechen muß … Wenn er hier ist, muß ich ihn sehen … deshalb verheimlicht mir bitte nicht, wo ich ihn finden kann.«

Sie sprach nicht, wie sonst ein Mensch gewöhnlich spricht. Die Brillengläser funkelten verlegen.

»Einen großen Dienst?« murmelte der Alte verwundert, indem er ihr über die Gläser hinweg einen Blick zuwarf … »Nun, wenn das wahr ist, so muß ich Ihnen leider sagen: Er ist nicht zu Hause … Da Sie aber aus Fédrun sind, darf man wohl, ohne Sie zu beleidigen, erklären, daß just, seitdem er Sie kennt, es ihn nicht mehr daheim leidet … Ja, das ist so! … Ich kann Ihnen keine bessere Auskunft geben … Ich weiß nicht, wo er ist … auch nicht, wann er heimkommt.«

Und da die alte Frau neben ihm gerade unausgesetzt hustete, sagte der Onkel zu ihr mit sanfter Stimme: »Du solltest doch deinen Brusttee trinken, Georgine.«

Theotist war wieder draußen und schlug nun aufs Geratewohl einen Weg ein, ohne zu wissen wohin.

Sie irrte durch die Gäßchen, in denen es schon dunkel wurde, und kümmerte sich nicht um die erstaunten Frauenaugen, die ihr nachschauten.

Unter der alten Eiche hüpften ein paar halbwüchsige Mädchen herum, um sich warm zu machen. Sie sangen und lachten dabei. Theotist fragte sie, ob sie Jeanin gesehen hätten.

»Vor kurzem sind sie fort, um Eis zu brechen«, gab eine von ihnen zur Antwort. »Vielleicht ist er dann auf den Abend zum Fischen nach Langate.«

»Oder aber«, sagte eine andere, »er ist vielleicht in Osca beim Stangenhändler, da geht er öfters hin, oder in Cabeno bei Buffetrille. Wer weiß …«

Es war leicht möglich, daß Jeanin gerade beim Fischen an der Straße nach Langate war, und wieder etwas getröstet in dieser Hoffnung schlug Theotist den Fußweg ein, den man ihr zeigte.

In dieser Gegend ist das Moor mit Humusboden durchzogen, so daß Wiesen und Torfgruben abwechseln.

Sie bog vom Weg ab und geriet in sumpfiges Ödland, wo sie mit den Schuhen fast zu versinken drohte.

Dann kam wieder eine schmale Landzunge aus hartgefrorenem Schlamm, danach die Küste. Hier lagen wirklich große Eisblöcke herum, die man ans Ufer gezogen hatte. Sie hielt inne, um zu verschnaufen, und horchte. Aber kein Laut war zu hören. Auf der Brière war es bereits Nacht. Das Wasser schlief unter seiner Nebeldecke, und ein paar vereinzelte, glutrote Wölkchen leuchteten zwischen den schwarzen Binsenstauden.

Die Langater Straße war ganz in der Nähe. Am Wasser rauschte es in den Zweigen der Weidenbüsche. Da ging sie ins Schilf nahe dem Ufer, beugte sich mit dem Mund dicht auf das Wasser nieder und schrie mit aller Kraft, daß es weithin schallte: »Jeanin! … Jeanin!«

Als einzige Antwort kam aus der Ferne eine gebrechliche Stimme. Es war der Ruf eines alten Mannes, der von einem mit hohen Bäumen bewachsenen Hügel herabkam und unsichtbar in der Dunkelheit seine Schafe vor sich hertrieb.

Sie beugte sich noch weiter vor und stieß von neuem ihre Rufe aus. Aber auch diesesmal bekam sie keine Antwort. Man hörte nur die ferne Klage eines Krammetsvogels.

Sie ging auf demselben Weg wieder zurück und stolperte von einem Erdloch ins andere.

Am westlichen Himmel verschwand das letzte Lichtwölkchen. Nun war es vollends dunkel geworden. Aber sie fürchtete sich nicht vor der Nacht.

Im Dorfe begegnete sie keinem Menschen mehr. Sie ging zu Jeanins Haus zurück. Ein Kind öffnete ihr. Der Onkel saß noch am gleichen Platz und schabte noch immer Rinde beim Schein einer Kerze. Als er Theotist wieder sah, machte er ein höchst überraschtes Gesicht, schob die Brille auf der Nase zurecht und antwortete ihr unwillig; denn er schien jetzt selber über die Abwesenheit Jeanins in Sorge zu sein. Sein Neffe sei noch nicht zurück; das war alles, was aus ihm herauszubringen war. Das Kind machte die Türe hinter ihr zu, und sie stand wieder auf der Straße.

Sie verweilte keinen Augenblick. Da sie von den Mädchen gehört hatte, er könnte vielleicht in Osca sein, machte sie sich dorthin auf in der Hoffnung, ihm vielleicht unterwegs zu begegnen. Aber es war umsonst. Auch beim Stangenhändler in Osca traf sie ihn nicht an. Sie merkte die Nacht nicht. Nur ein Gedanke ging ihr im Kopf herum, ein schrecklicher Gedanke, der sie mit Gewalt weitertrieb … So lief sie jetzt nach Cabeno zu Buffetrille, wo die Leute, die gerade schlafen gehen wollten, sie entgeistert anstarrten.

Von dort ging sie weiter, immerzu.

Sie war nur noch ein armes Häuflein Elend, aber ein ungewisser Drang führte sie immer wieder zu seiner Insel und zu seinem Hause zurück. Sie schlug den kürzesten Weg ein und ging am Rand des Moores entlang. Sie kannte sich da noch gut aus von ihrer Kinderzeit her: Erst mußte man den Pfad am Gutmannshügel vorbei, der ins Altweidenfeld führte, dann über den Kriegerhügel bis nach Pimbrogère.

Ein kleines Licht in der Ferne, das in Fédrun noch brannte, mußte ihr als Leitstern dienen, und so ging sie immer weiter am glitzernden Wasser entlang in die dunkle Nacht.

»Jeanin, Jeanin, wo bist du?« Aber sie wagte jetzt nicht mehr zu rufen in dieser unermeßlichen, unheimlichen Finsternis, wo die Sterne fast das einzig Sichtbare waren und man Torfboden und Wasser nur noch in groben Umrissen unterscheiden konnte.

Sie ging am Ufer entlang, so rasch sie ihre Füße trugen. Aber sie kam in diesem unebenen Gelände nicht so schnell vorwärts wie auf der Landstraße. Alle Augenblicke strauchelte sie oder blieb mit ihrem Rock irgendwo hängen. Sie stieß gegen Schuppen, in denen man früher Torf aufgestapelt hatte, oder brach durch die Eisdecke durch und versank im Schlamm, so daß sie sich an den Binsen festhalten mußte … Aber was war das alles im Vergleich zu der Unruhe, die in ihrer Seele brannte?

»Jeanin … was machst du … Warum hast du nicht auf mich gewartet?«

Sie mußte weiter, koste es, was es wolle … Oft konnte sie kaum mehr die Füße aus den Erdlöchern herausziehen. Sie war so aufgeregt, daß sie überhaupt nicht wußte, welchen Weg sie einschlug.

Das kleine Licht brannte nicht mehr. Tiefe Finsternis umgab sie; sie kannte sich jetzt nicht mehr aus. Sie suchte den Lakaienhügel, fand ihn aber nicht.

»Oh, warum mußte ich auf diesen Einfall kommen? … Warum mußte ich zu ihm hin?«

Immer zahlreicher wurden die Torflöcher, immer beschwerlicher wurde ihr Weg. Todmüde schleppte sie sich weiter. Der Atem ging ihr aus. Sie mußte schließlich stehenbleiben, so erschöpft war sie vor Erregung, Kälte und Angst. Sie war sterbensmatt.

»Wenn nur das nicht die Ursache ist«, redete sie mit sich selbst und preßte die Hände an den Leib. »Wie oft schon haben Frauen in diesem Zustand den Verstand verloren!«

»Oh, mein Gott, steh mir bei!« flehte sie und schaute hilflos zu den eisigen Sternen empor.

Der Mond ging auf und riß sie aus ihrer Verzweiflung. Sein feuriges Rund schwebte über der dunklen Erde.

Ein gefrorener Weiher glitzerte in der Ferne auf, aber das Gelände wurde dadurch nur noch unsicherer. Sie schreckte bei jedem Geräusch zusammen, das sich vernehmen ließ in dieser Helle, die das Moor aus seinem ersten Schlummer weckte. Überall regten sich jetzt die Vögel in ihrem nächtlichen Versteck. Da und dort hörte sie die Eisdecke bersten. Das Schilf wiegte hin und her und raunte hörbar unter der zarten Liebkosung des Lichtes.

Ein Reiher stieß seine lauten Schreie aus. Wildenten streiften an ihr vorüber. Alles erschreckte sie. Sie wankte wieder weiter, ohne zu wissen, wohin sie ging, und ohne zu fragen, wann sie ans Ziel käme. Sie glitt aus, taumelte, irrte umher, getäuscht durch das trügerische Mondlicht, das sie oft haltmachen ließ vor leeren Schatten und sie dann wieder in Schlammlöcher lockte. Von dem Eiswasser, das in ihren Schuhen stand, kroch eine bittere Kälte an ihrem Körper empor. Sie hatte jeden Mut verloren; sie war am Ende ihrer Kraft.

Etwa in Schußweite gewahrte sie die Umrisse eines großen Torfhaufens, den der Besitzer nicht fortgeholt hatte. Sie schleppte sich bis zu ihm hin in der Absicht, sich dort einen Unterschlupf zu suchen. Doch sie hatte sich getäuscht. Es war kein Torfhaufen, es war das Hünengrab der alten Florenze.

Sie suchte die Tür, klopfte an, rief, klopfte noch heftiger in tödlicher Angst, die Frau könnte nicht da sein, weil sie keine Antwort gab. Endlich sah sie einen Lichtschimmer zwischen den Ritzen. Die kleine Tür ging auf, und im Schein einer Laterne sah sie das Gesicht der Greisin, die in die Nacht hinausspähte.

»Florenze, ich bin's! … Ich habe mich verirrt! … Ich kann nicht mehr! … Laß mich bei dir bleiben!«

Florenze hob ihre Laterne in die Höhe. Ihre Hand begann zu zittern.

»Komm nur! … Komm herein!« sagte sie endlich, indem sie mit dem Rücken die Tür aufstieß, so daß sie weit offen stand. Sie ging dann rückwärts ins Innere, ohne die Augen von ihrer jungen, nächtlichen Besucherin zu wenden.

»Komm herein! … Ich hab' auf dich gewartet! … Ich warte immer auf dich! … Komm!«

In der Hütte war es angenehm warm. Theotist ließ sich auf den niederen Holzschemel fallen, der in der Herdecke stand, lehnte den Kopf an die harte Mauer und schloß die Augen.

»Komm herein! …« wiederholte die Alte mit zitternder Stimme, während sie schon vor ihrem Herd kniete und die Glut anblies.

»Oh, wie mir deine Füße leid tun! Der Schmutz von allen Sumpflöchern hängt daran; sogar dein Schal ist verspritzt … Deine Finger sind zu Eisklumpen gefroren«, sagte sie und legte mit behutsamer Zärtlichkeit ihre Hand auf die des Mädchens. »Und wie blaß du bist!«

Theotist hatte den Kopf aufgestützt; sie schien zu schlafen. Aber von Zeit zu Zeit wurde sie von Fieberfrösten geschüttelt. Die alte Frau betrachtete sie unausgesetzt mit zärtlicher Rührung. Sie hatte jetzt Kaffee aufs Feuer gestellt, und ganz heiß mußte ihn Theotist trinken.

»Du bist gekommen, während ich schlief … Wie ein Traum bist du erschienen«, murmelte sie, indem sie ihr zart den Arm streichelte.

»Angeline! …« kam es jetzt hörbar von ihren Lippen.

»Ich bin nicht Angeline.«

»Du bist nicht Angeline? … Weißt du denn, wer du bist? … Ja … Schau mich noch einmal so an mit deinen großen, traurigen Augen! Ich fürcht' mich nicht … Ich hab' dich lieb.«

Dieses seltsame Reden überraschte Theotist nicht. Sie hörte kaum hin. Sie weilte mit ihren Gedanken wieder in der fürchterlichen Nacht da draußen, und unter dem schützenden Dach wurde ihre ganze frühere Qual wieder wach.

»Frierst du noch? … Warum zitterst du denn immer?« flüsterte die Alte, die neben ihr kauerte und sich zärtlich über ihr Antlitz neigte, das sie mit den Händen verdeckte.

Und als Theotist keine Antwort gab, stand sie auf und ging langsam, geheimnisvoll in die hintere Ecke ihres Stübchens und wühlte dort in einem Haufen abgelegter Kleider. Ein Vorhängschloß knirschte. Gleich darauf kam die Alte zurück und hielt ein lichtschimmerndes Gewand in den Händen, das wie der Sternenhimmel funkelte, ein Stoff, der aus lauter Lichtstrahlen gewebt zu sein schien und in unvorstellbar weichen, silbernen Falten niederrann.

»Du wirst es keinem Menschen sagen! … Nie! … Nie! … Häng dir das um, diese Kostbarkeit … Du willst nicht? … Weshalb machst du so ein erstauntes Gesicht? Es war ihr Mantel, wenn sie vom Ball heimging … Am Tage, da sie starb, wurde er mir zugeschickt als eine liebe Erinnerung von ihr … und ich mußte unterschreiben, daß ich's bekommen habe.«

Das Mädchen ließ sich in den seidenartigen Stoff einhüllen, der mit Schwanenpelz eingefaßt war; und das Gesicht der Alten, die vor ihr kniete, strahlte. »Angeline, Angeline!« murmelte sie, mehr als je von ihrem Wahnbild überzeugt.

»Der ist aber warm«, sagte Theotist mit einem Lächeln.

Und so verharrten die beiden lange, während die alte Frau in unverständlichem Gemurmel die geheimen Gedanken ihres Herzens sprechen ließ.

»Du willst fort?« fragte sie, als Theotist plötzlich aufstand. »Wo willst du denn hin, Menschenskind? Die Brière ist jetzt nicht besser als vorhin … Komm! … Komm an die Tür, schau nur!«

In drückendem Schweigen lag die Nacht. Nur in der Ferne sah man ein paar vereiste Teiche aufglitzern. Hoch am Himmel zog der Mond langsam dahin; doch er glänzte nicht so hell wie Theotist in ihrem Mantel am Eingang der Hütte.

»Du kannst nicht eher weg, als bis die beiden großen Sterne da verschwunden sind … erst dann ist es Morgen … Wir wollen wieder hineingehen.«

Aber ein dumpfer Knall wie von einem Gewehrschuß kam aus der Ferne. Theotist packte die neben ihr stehende Alte am Handgelenk und klammerte sich mit aller Kraft fest.

»Hast du's gehört, Florenze?«

»O weh! … Das war die große Peitsche des Salzsiederperchten.«

Sie horchten.

»Oh, ich hab's gut gehört!« stöhnte Theotist.

»Mach rasch! … Ich will die Tür verrammeln … Der Perchtengeist wird sich daran sein Messer zerbrechen! … Mit einem doppelt gedrehten Hanfstrick will ich sie verschnüren, vierfach geschlungen wie um die Hörner meiner Geiß.«

Sie schob das Mädchen vor sich her. »Wie du zitterst! … Du kannst ja nicht mehr … Komm, leg dich hin! … Da ist mein Strohsack.«

Theotist ließ sich auf das rauhe, harte Lager fallen, das aus Maisstroh und Wacholderreisig aufgeschichtet war, und stierte mit offenen Augen zur Decke hinauf …

Florenze schob ihr ein paar Decken unter den Kopf.

»Schlaf! … Denk nicht an das, was in dir lebt … Ich werde dich wecken, wenn die Reiher rufen.«

Und sachte, mit mütterlicher Besorgtheit breitete sie den weiten, silbernen Mantel über sie aus.


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