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Es war ein schöner Sommermorgen. Ein lieblicher Nelkenduft erfüllte die Luft, und die Geranienstöcke mit ihren purpurroten Blütendolden vor den Fenstersimsen leuchteten sonnentrunken auf den weißgekalkten Hüttenwänden. Da ging es im Hause der Julie im Etageviertel recht laut zu; ja es hörte sich fast an wie ein Streit.
Ein kleiner Wagen hielt vor der Tür. Ein Mann – es war kein Einheimischer – wartete bei dem Fuhrwerk und schlenderte auf dem Wege hin und her. Er hatte eine Samtmütze auf dem Kopf und beide Hände in den Hosentaschen vergraben.
Plötzlich hörte man die Stimmen im Freien. Mit hochrotem Gesicht erschien jetzt Herr Leriché in seiner blauen Bluse unter der Tür und hinter ihm Julie, die bleich, mit verwirrten Haaren, ihn anflehte.
»Herr Leriché, ich beschwöre Sie! … Lassen Sie mir Zeit bis Allerheiligen!«
»Ja, ja, diese Allerheiligen kenne ich. Nichts da mit Allerheiligen! Das Geld, das Sie mir schuldig sind, hat nichts mit Allerheiligen zu tun … Hier ist Herr Pataud … Das ist der Mann … Führen Sie uns in den Stall!«
Aber Julie klammerte sich an ihren Besitz und flehte noch eindringlicher:
»Herr Leriché! Herr Leriché!«
»Lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem Herrn Leriché!« schrie der Krämer und ging wieder ins Haus zurück. »Frau Chantal, Sie haben mir jetzt lange genug in den Ohren gelegen … und wenn Ihnen diese gütliche Abmachung nicht zusagt …«
Der Rest verlor sich im Hause, da sich die Türe wieder geschlossen hatte. Herr Pataud, der Mann auf dem Weg draußen, seines Zeichens ein Metzgermeister aus Barbotte, kratzte sich am Kopf, sah dem Treiben der Tauben auf dem Dache zu und wartete weiter.
Dann ging die Tür wieder auf, und man hörte Herrn Leriché gerade noch sagen:
»Der Gerichtsvollzieher! Der Gerichtsvollzieher!« Als ob dieser sich irgendwo in der Gegend herumtreiben würde und nur darauf wartete, ihm zu Hilfe zu kommen.
Julie trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie hatte es jetzt aufgegeben, noch länger für eine aussichtslose Sache zu kämpfen. Einen Herzschlag lang heftete sich ihr Blick auf diese kleinen stechenden Augen, die sie anfunkelten, diese glattrasierten, eingekniffenen Lippen, schmal wie die Lederriemen an einer Geldbörse, diese Bluse, unter der kein Mitleid wohnte. Dann langte sie mit einem Stoßseufzer nach ihrem Halstuch.
»Komm mit, Maria, du bringst dann die anderen auf die Weide!«
Der Stall stand ganz in der Nähe am Bootsgraben im Grase der Uferwiese. Es war eine armselige Hütte, die sich an eine Ulmengruppe anlehnte und mit Schilfgras gedeckt war. Augustin hatte sie vor längerer Zeit gezimmert.
Jetzt gingen alle drei hinein, Pataud als erster. Mit vorgestreckten Händen tastete er sich in der Dunkelheit vor. Das Getrappel der kleinen Hufe auf dem Farnkraut und die leicht phosphoreszierenden Augenpaare wiesen ihm dabei die Richtung. Die Tiere hatten sich in der hintersten Ecke unter dem schwachen Lichtstreifen, der durch die Dachluke fiel, auf ein ängstliches Häuflein zusammengedrängt.
Es waren lauter schwarze Schafe mit Ausnahme von zwei oder drei, die eine weiße Blesse an der Stirne hatten.
Herr Pataud fuhr einem nach dem anderen prüfend durch die Wolle. Herr Leriché, der aus Angst vor den Spinnweben den Kopf eingezogen hatte und an der Türe stehengeblieben war, weil er den Stallgeruch lästig empfand, fragte jetzt:
»Taugen sie was?«
»Hm, hab' schon bessere gesehen … Zuviel mit Heidegras gefüttert.«
Nichtsdestoweniger hielt er jetzt ein Schaf fest, packte es am Schwanz und zog es aus dem Stall. Das wiederholte sich bei einem zweiten, einem dritten, bis ihm fünf in dieser Art durch die Hände gegangen waren.
Julie war wie betäubt. Sie wußte nicht einmal, welche Tiere man ihr wegnehmen wollte. Sie sah nur, wie der Metzger in die Wolle griff, und jedesmal lief sie hinter ihm her, wobei sie öfters auf der Streu ausglitt.
Ein paar Frauen aus der Nachbarschaft, die sich in der Nähe zu schaffen machten, warfen Herrn Leriché bitterböse Blicke zu, die sich aber sofort zu einem Lächeln aufhellten, sobald er sich nach ihnen umdrehte.
Als man damit fertig war, fragte er Julie nach der Restsumme in Höhe von fünfundsechzig Francs, die sie in bar zahlen wollte. Sie hielt ihm das Geld hin:
»Hier«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
Herr Leriché warf sich in die Brust, drehte den Kopf so steif erhaben nach dem Gelde hin, daß sein Hals nicht einmal den Kragenrand streifte, sortierte die Geldstücke, wog sie in der Hand, hob mit einer gewichtigen Geste seine Bluse hoch, als ob sie Wunders wie schwer wäre, und ließ das Geld in einer seiner vielen Taschen verschwinden.
»Fünfundsechzig Francs … Das wäre also in Ordnung … Gut so.«
Wie leicht und froh gestimmt war heute alles unter dem klarblauen Himmel: die dichtbelaubten Bäume, die so prächtig ihre dunkelgrünen Wipfel über den Strohdächern emporwölbten, die Strohdächer selbst im Schmucke ihres weißen Blütenteppichs, ja sogar die Schafe, die hinter den Staubwolken verschwanden, die der Wagen aufwirbelte, der sie fortbrachte, ohne daß die Ahnungslosen das Ziel ihrer Reise kannten. Die Spatzen schrien wie besessen vor Freude; ein weiches, sanftes Lüftchen ließ schon den würzigen Duft der reifenden Früchte wahrnehmen. Nur im Schafstall allein schien alles Leid der Welt eingepfercht zu sein, wo Julie mühsam ihre Tränen niederkämpfte und wieder die Streu in Ordnung brachte, was eigentlich jetzt ganz überflüssig war.
Auf der Straße trieb Maria den Rest der Herde vor sich her: zwei Schafe und ein Lämmlein, das so munter auf allen Vieren herumsprang, als wäre das Leben ein einziges Freudenfest. Sie schämte sich sehr mit ihren drei Tieren; denn die Leute, die sie so vorbeikommen sahen, wußten genau, was aus den anderen geworden war. Wenn ihre Schafe da und dort einen Grashalm, ein Blatt, ein Heckenreis abzupfen wollten, ließ sie es nicht zu, sondern trieb sie mit ihrer dünnen Gerte weiter. Ihre Handarbeit trug sie heute zusammengerollt unter dem Arm, während sie sonst gewöhnlich hinter der Herde langsam herging und strickte.
Heiß brütete die Sonne über der Brière. Von Fédrun bis zu den Uferhängen war alles nur ein einziger weiter See flutenden Lichtes, über den glitzernden Wasserläufen stiegen überall von der Wärme zitternde Luftschichten auf. Keine Handbreit Schatten weit und breit, nirgends ein Laut. Nur von Zeit zu Zeit hörte man aus der Ferne das Lied der Flachsbrecherinnen wie ein leises Echo.
Auf den Höhen von Brécun war eine steinige Weide, die sich nach dem Moor hin senkte. Dorthin pflegte Maria zu gehen. Auch heute saß sie wieder unter ihrer Hecke im Heidekraut, das von der Hitze der Hundstage angesengt war. Ihr Kopftuch, auf das die Sonne unbarmherzig niederbrannte, schützte ihr Stirn und Wangen. Sie blickte vor sich hin und träumte, während die Schafe weideten und dabei nach ihrer Gewohnheit von einem Grasbüschel zum anderen liefen, als fürchteten sie, das Grünfutter könnte ihnen davonlaufen.
Maria war gerade siebzehn Jahre alt geworden. Noch hing der Himmel über ihr, wie das Sprichwort sagt, voller Geigen. Heute war sie nicht recht zur Arbeit aufgelegt, und immer, wenn sie drei Runden gestrickt hatte, ließ sie ihre Nadeln rasten und versank in süßes Nichtstun.
Den ganzen Morgen war sie sehr unglücklich gewesen; aber nach und nach vergaß sie ihren Kummer. Mochte sie sich noch so große Mühe geben, an die schreckliche Szene von heute früh zu denken und sich dabei die großen Opfer zu vergegenwärtigen, die ihre Tante sich auferlegte, während ihre Armut von Tag zu Tag größer wurde – ihr Herz empfand in diesem Augenblick, ohne daß sie es eigentlich wollte, eine so süße Wonne, wie sie auch von diesem schönen Sommertag ausstrahlte. Glich er nicht dem blauen Schmetterling, der in der Sonne von Blume zu Blume flatterte, der Libelle, die über den Spitzen des Sauerampfers schwirrte, dem kleinen Segel, das sich dort zwischen dem Schilf bauschte wie eine Fahne beim Bittgang über dem Ährenfeld? Drüben auf der Weide schlugen Gänse mit ihren weißen Flügeln. Eine ganze Wolke von Staren flog über sie weg … Und dann die blitzblanken Häuschen vor allem, die so verloren unter dem weiten Himmelsrund träumten und ihre Gedanken fortlenkten, hin zu all den vielen Ländern und Städten, die sie noch nie gesehen. Einige Brièrer Mädchen hatten sich in der letzten Zeit aus der Heimat fortgewagt, waren hinausgezogen in die Ferne; und wie auf Vogelschwingen schweiften ihre Gedanken ihnen nach in dieses Märchenland da draußen …
Der Tag verging. Es war jetzt zwei Uhr, dann drei … Bald legte sie ihre Hände in den Schoß, dann griff sie wieder zum Strickzeug. Ein ganzer Teppich von Gänseblümchen war rund herum ausgebreitet. Sie pflückte eines, dann noch eines und schließlich eine ganze Schürze voll. Sie konnte hübsche Kränze flechten mit diesen Blumen und sie begann sogleich. Ihre Wolle mußte dazu herhalten. Zuerst schlang sie zwei Blumen zusammen, dann wieder zwei dazu, und nach und nach entstand unter ihren schlanken, feingliedrigen Händen ein reizendes Blumengewinde aus lauter weißen Blütenblättern mit dem goldsamtenen duftenden Herzchen darin.
Als sie jetzt aufblickte, sah sie einen Mann am Wassergraben entlangschreiten. Es war Herr Ulrich, der von der Jagd hier vorbeikam. Da schnitt sie eilends die Stengel ab und ließ ihr Blumenkränzlein in den Händen ein paarmal auf und nieder tanzen.
Es war nicht das erstemal, daß Herr Ulrich Maria auf dieser Moorwiese aufsuchte. Wenn er wußte, daß sie dort war, richtete er es oft so ein, daß er sie noch vor Heimkehr antraf, um eine Weile mit seiner kleinen Freundin zu plaudern. Er erzählte ihr dann von der Jagd und von seinen Versuchen mit dem Königsbrunner Ofen.
Zuweilen unterhielten sie sich auch über Augustin, der infolge einer ganzen Reihe von Komplikationen seit langen Monaten weit weg im Spital der Stadt weilte, und wie sehr er wohl die Brière vermissen werde, zumal sie ihn, wie er zu sagen pflegte, noch immer in allen seinen Krankheiten geheilt habe … Herr Ulrich, der zweimal dort war, um ihn zu besuchen, wurde nicht vorgelassen. So war die Zeit verstrichen; sie ging immer weiter, und schließlich sprach man immer seltener von ihm.
Jetzt war Herr Ulrich da. Das Gewehr hatte er auf dem Rücken hängen. Wie gewöhnlich setzte er sich zu dem Mädchen.
»Den schönen Kranz hast du wohl für das Muttergottesbild geflochten?« Dann fiel sein Blick auf die Schafe. »Arme Maria, jetzt bist du ja eine recht kleine Schäferin.«
Aber Maria sah weder traurig noch mutlos drein, im Gegenteil, jugendliche Anmut und heitere Lebenslust strahlten aus ihren Augen.
Ohne etwas zu sagen, kramte sie aus ihrem Beutel ein Papierknäulchen hervor, wickelte es sorgsam aus und reichte dem jungen Mann einen kleinen, unscheinbaren Gegenstand.
Es war ein alter, von Grünspan überzogener Ring.
Herr Ulrich betrachtete ihn und kratzte mit dem Nagel daran herum.
»Aber das ist ja Gold«, sagte er, »ein uralter Ring … Maria … Wo hast du den her?«
»Cendron hat ihn in der Natternburg ausgegraben.«
Herr Ulrich konnte an ihren Augen und auf ihren Lippen ohne weiteres die märchenhafte Erwartung ablesen, die sie damit verband; deshalb brachte er es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß noch viele solche Ringe aus der Zeit der römischen Besatzung im Torfmoor stecken müßten.
»Meinen Sie, daß das der richtige ist?« fragte sie.
»Das muß er sein, Maria.«
Dem Mädchen schoß das Blut in die Wangen vor lauter Aufregung. Sorgfältig wickelte sie ihren Schatz wieder ein.
»Vor allem, erzählen Sie niemand etwas davon!« bat sie.
»Niemand, Maria, hab keine Angst … Ich wünsche aus ganzem Herzen, daß dieser Ring dir Glück bringen möge …, denn ich hab' dich sehr lieb, Maria … Und du? Hast du mich auch ein wenig gern?«
»O ja.«
»Wenn ich erst einmal das Geld habe, das mir in Aussicht steht – es werden so an die zwölftausend Francs sein –, dann kaufe ich mir hier ein Häuschen und einen Garten und …«
Aber er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern kam ins Träumen. Sein Blick verlor sich in der Ferne, und dann blieb er lange still.
Der Tag ging zur Neige. Kleine, fahlgelbe und rotbraune Punkte bewegten sich weit da draußen. Bei der klaren Sicht waren sie gut zu erkennen. Bald werden die friedlich über die öde Heide heimziehenden Kühe, die im Vorbeigehen an den schimmernden Wasserlachen trinken, hier sein.
Maria erhob sich, als sie den Lichthof bemerkte, der jetzt allmählich die Wolle ihrer Tiere umsäumte. Das war immer das Zeichen, an dem sie erkannte, daß es Zeit war, sie heimzutreiben. Sie holte sie vom anderen Ende der Wiese herbei und trieb sie vor sich her; dann kehrten sie gemeinsam über den Dammweg heim nach Fedrun.
Als sie dort ankamen, senkten sich bereits die Abendnebel auf das Dorf nieder. Die Sonne ging unter hinter dem Moor. An den Ufern der Insel spiegelten sich die alten, ausgehöhlten Weiden in der glatten, rosaroten Wasserfläche, die wie träumend dalag.
Weit draußen auf dem Wasser sang ein kleiner Bub aus vollem Halse. Es war Cendron. Sie erkannte ihn in der Dämmerung, wie er ganz klein dort drüben auf einem Floß herumpaddelte. Seine Worte waren nicht zu verstehen, aber seine Stimme gellte weithin und erfüllte die Luft wie ein begeisterter Lobgesang auf das Wasser.