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V.

Der Sommer war schon weit vorgerückt. Ein Sonntag hatte sich im ewigen Gleichschritt der Zeit an den andern gereiht. Es waren schon acht oder zehn Wochen her, seit Larmentières von der oberen Plattform der Kirchentreppe aus die große Neuigkeit verkündet hatte, daß die Brière nun wieder ihren ungestörten Frieden habe. Das war die großartigste Versammlung gewesen, die jemals im Schatten des hohen Kirchturmes von St. Joachim stattgefunden hatte. So laut war es wohl noch niemals zugegangen seit urdenklichen Zeiten wie an diesem Tage, wo mehr als tausend Menschen begeistert ihre Hüte schwenkten und über ihre wiedergewonnene Freiheit jubelten. Die Böllerschüsse krachten, der Wein floß in Strömen, und die Wogen des Festes gingen so hoch, daß der darauffolgende Tag, wie es öfters nach einem solchen Trubel geht, sich höchst nüchtern anließ. Es sah fast so aus, als ob aller Wein getrunken, das Pulver verschossen und die ganze Begeisterung verflogen wäre, wie wenn die im Herzen der alten Moorgebiete aufgestapelte Freude mit einem Schlag vergeudet worden wäre.

Nun hätte man ja dieses seelische Ruhebedürfnis nach all den Freudensprüngen des Festtages für einen ganz natürlichen Vorgang halten können; aber auch am übernächsten Tag war diese Teilnahmslosigkeit noch nicht gewichen, ebenso an all den folgenden Tagen und in all den seither verflossenen Wochen … Und jetzt schien es fast, als ob die Bedeutung dieser für das Wohl und Wehe der Brière so weittragenden Bekanntmachung ganz aus dem Gedächtnis der Leute verschwunden sei wie der flüchtige Schrei der Zugvögel, die jetzt im Spätsommer den Himmel beleben.

Die Stimmung an diesen Sonntagen war immer noch gedrückt und freudlos. Freilich stand auch jetzt noch immer vor dem Hochamt eine plaudernde Menschenmenge auf dem Kirchplatz herum; denn diese Gewohnheit war von den Dorfbewohnern aus jenen Tagen, da die Erregung so hoch gegangen war, beibehalten worden. Aber es war kein einziges fröhliches Gesicht darunter. An diesem Sonntag war es genau so wie an den früheren.

Die Stimmung schien eher noch gedrückter. Viel wurde noch immer von dem berüchtigten Brandstifterschiff geredet; nur war es jetzt keine Barke mehr, sondern eine Art Schoner; ja, das unheimliche Schiff mit seinen Mars- und Rahsegeln aus schwarzem Krepp, seinen feurigen Bullaugen, die in die Nacht glotzten, war schon längst kein gewöhnliches Schiff mehr, es stammte aus der Geisterwelt und trug alle Anzeichen drohenden Unheils.

Auch von Augustin war häufig die Rede. Ganz allgemein wurde es im Interesse der Inseln beklagt und bedauert, daß er infolge seiner Verstümmelung seine Hände in Zukunft nicht mehr richtig gebrauchen konnte. Kein Wunder, wenn er jetzt nicht mehr aus seiner Ofenecke hervorkam.

»Ja, ja, dort wird er auch Zeit dafür haben, um über seine Tochter und seinen Sohn nachzudenken.«

Seitdem er die Briefe wiedergefunden hatte, schätzte man seine geistigen Fähigkeiten noch viel höher ein. Einige erzählten, sie seien in den letzten Wochen zu seiner Hütte hinausgegangen, um ihn um Rat zu fragen; aber sie hätten sich dann wieder aus dem Staub gemacht, weil er ihnen nur einen bösen Blick aus dem Fenster zugeworfen habe.

»Mit Augustin ist nichts mehr los … er ist ganz verbraucht«, erklärte Kleinschmidt, der an einer Hausecke von ein paar jungen Leuten umringt war, die ihm zuhörten.

Es war ein armer, alter Mann mit einer langen Mähne und einem ungepflegten, gelben Bart. Seine Kleider waren recht fadenscheinig und zerfranst und zeigten schon einen Stich ins Grüne.

Er war von den Gendarmen beim unerlaubten Fischfang ertappt worden, und nun wollte er, daß Augustin ein Wort für ihn einlegen und ihm aus der Patsche helfen sollte.

»Ja, so geht es dem kleinen Fischer heutzutage, es sitzt ihm immer das Messer an der Kehle … Aber was kann man da machen! … Schließlich verliert der Topf ja auch einmal seinen Boden, wenn man ihn immer aufs Feuer stellt … Hab' ich nicht recht? Ich, wann ich einen Frosch ins Wasser hüpfen seh', dann sag' ich mir immer: Der arme Kerl hat wohl auch sein Leben satt auf der Heide. Ha, die Brière! … Ja, was war das doch einmal ein herrliches Leben in der guten, alten Zeit!«

Wenn wenigstens Augustin sich für ihn eingesetzt hätte.

»Aber«, sagte er, »da hab' ich neulich an seiner Tür geklopft, doch aufgemacht hat er mir nicht.«

Er verstummte und zog plötzlich den Hut. Auch die anderen Anwesenden auf dem Platze grüßten. Es war der Rat der Gemeindenvorsteher, der vorbeiging. Diese Ratsherren sind angesehene Männer, eine Art Patrizier oder Senatoren. Sie begaben sich nach Fédrun zu Herrn Moyon, der infolge seines Leidens nicht auf die Bürgermeisterei kommen konnte, um dort den Vorsitz bei der Ratstagung zu führen. Alle Leute drehten sich nach ihnen um. Die Gäste in den Wirtshäusern drängten sich an die Fenster, um sie da draußen vorbeigehen zu sehen, alle in einer Reihe, die die ganze Straßenbreite einnahm. Trotz ihrer unterschiedlichen Größe waren sie in ihren Anzügen aus schwarzem Tuch und den kleinen, fest auf die ehrwürdigen, weißen Haare gedrückten Hütchen einander sehr ähnlich.

Jetzt ließ Kleinschmidt seine Zuhörer stehen und folgte den Ratsmitgliedern in einiger Entfernung seitlich am Straßenrand und hielt mit ihnen gleichen Schritt.

Es war ein angenehm milder Sonntag. Die Wege waren mit weißen Hauben übersät, und überall funkelte der Goldschnitt der Gebetbücher. Die Brière im strahlenden Sonnenschein glich einem reifen Ährenfeld. Auf den blauen Wassern mit den blühenden Irisstauden, die die Ufer umsäumten, schwammen überall Enten herum. Hin und wieder überflatterte ein Enterich mit kräftig gebogenem, prachtvoll smaragdgrünem Hals eine kleine Ente, badete sich gleich darauf mit solcher Behendigkeit, daß das Wasser, das durch sein wiederholtes rasches Tauchen aufspritzte, in kristallenen Tropfen über das glänzende Gefieder rieselte.

Die Ratsherren gingen unter Vermeidung von überflüssigen Reden würdevoll auf das kleine, weiße Haus zu, an dem die Geranienstöcke blühten. Herr Moyon erwartete sie bereits. Er saß mit seiner Kaninchenfellmütze auf dem Kopf in seinem Lehnstuhl und hielt den schwarzen Stock zwischen den Knien.

Auf dem Tisch standen genau so viele Flaschen und Gläser in einer Reihe, als es Ratsherren gab. Aber nein, es stimmte nicht – es war noch die übliche Gläserzahl wie zu alten Zeiten –, aber jetzt gab es nur noch sechzehn Räte, der siebzehnte fehlte, und zwar schon fast ein Jahrhundert lang, seitdem nämlich die Gemeinde, die dieses Glas einst repräsentierte, zur Stadt geworden war, mit der jede Verbindung aufgehört hatte.

Während alle ihre Plätze einnahmen, lugte Kleinschmidt draußen durch den Türspalt und achtete genau auf die Vorgänge drinnen in der Sitzung. Als er sah, daß alle ihre Stühle eingenommen hatten und Herr Moyon sich gerade räusperte, um gut bei Stimme zu sein, klopfte er dreimal an die Tür und trat ein, den Hut in der Hand.

»Aber, Kleinschmidt, ich hab' dir doch schon hundertmal gesagt, daß, wenn Mitteilungen an den Gemeindenausschuß zu machen sind, dies erst am Ende der Sitzung geschehen soll … Sonst werden die Beratungen gestört … Was gibt es denn?«

Kleinschmidt fuhr sich mit der einen Hand durch die dichten, weißen Strähnen, machte ein zerknirschtes Gesicht, ließ seinen Blick über die Ratsmitglieder schweifen, die in zwei Reihen auf der anderen Tischseite saßen und ernst und würdevoll dreinsahen. Feierlich saßen sie da, die Stirne in Denkerfalten gelegt, das Kinn sonntäglich rasiert, säuberlich im Glänze ihrer frischgebügelten Kragen aus schönem Mayuner Leinen, die sich von ihren schwarzen, im kargen Licht des Raumes noch dunkler wirkenden Anzügen scharf abhoben.

»Es ist nur … ich möchte den Herren von der Gemeindentagung sagen«, erklärte er und drehte dabei den Hut in seinen runzligen Händen, die wie von einer Kruste aus Wasserlinsen überzogen schienen, »daß mich neulich abends die Gendarmen von Herbignac angehalten haben … An der Schleuse von Mazin ist es gewesen … Es war elf Uhr … Ihr seht doch, hab' ich ihnen gesagt, daß ich nicht fische; ich gehe nur mit meinen Netzen nach Hause. Es ist verboten, haben sie mir gesagt, nach zehn Uhr abends zu fischen … Wir treffen Sie hier mit Ihren Netzen an. Das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. – Nun, sagen Sie selbst, meine Herren, finden Sie das gerecht? … Ich ziehe meine Netze um zehn Uhr heraus und damit Punktum … Kann ich dann nicht nachher vier Stunden für den Heimweg brauchen, wenn mir das Spaß macht? … Darf ich mich nicht ein wenig ins Gras legen, wenn mich gerade die Lust ankommt, und ein wenig schlafen?«

»Wenn sich das so verhält, wie du sagst … Aber ist das auch wahr?« fragte eines der Ratsmitglieder.

»Und ob das wahr ist, meine Herren! Das ist noch nicht einmal der vierte Teil der Wahrheit … Stimmt es vielleicht nicht, daß sich noch nie so viel Schutzleute auf der Brière herumgetrieben haben wie eben jetzt? … Lüg' ich Ihnen da vielleicht etwas vor? Na also, was wollen die eigentlich von uns? … Wo man geht und steht, hört man ihre Säbel rasseln, sieht man ihre Schuppenketten an den Helmen blitzen. Wozu das alles? … Alsdann, meine Herren, hab' ich an Sie die Bitte, ob Sie nicht gütigst ein Wörtchen für mich einlegen wollten, daß ich ungeschoren bleibe.«

Kleinschmidt wartete auf Antwort, ohne es recht zu wagen, seinen Richtern, die sich zunächst abwartend verhielten und die Stirne runzelten, ins Gesicht zu schauen.

Es vertrug sich nicht gut mit ihrer Stellung, zum Polizisten zu laufen und ihn zu bitten, sein Protokoll wieder auszustreichen.

Kleinschmidt senkte demütig den Kopf vor so großem Schweigen, schüttelte seine lange, gelbliche Mähne und hob die Augen, als wollte er Zeugnis ablegen für den geheimnisvollen Niedergang der alten Freiheiten.

»Wie ist es eigentlich jetzt … mit der Brière? Alles gehört doch uns … und im Grunde gehört uns gar nichts!«

»Jawohl, nichts gehört uns!« wiederholte er, als er sah, daß die Räte noch immer schwiegen. »Es ist aus damit … Und da schwätzt man noch von ungestörtem Frieden! Kruzitürken!«

Damit trollte er sich.

»Schließ die Tür ab, Larmentières!« sagte Herr Moyon zu einem hochgewachsenen, schwarzbärtigen Mann, der am Kamin stand.

Aber die Worte des Alten verfehlten nicht ihre Wirkung. Ein peinlicher Eindruck blieb bei allen im Zimmer zurück. Die Räte verharrten noch immer in Schweigen. Sie warteten, bis sich die Schritte entfernt hatten.

Es war ihre erste Sitzung seit jener Konferenz, auf der ihnen ihr Rechtsbeistand die erfreuliche Mitteilung machen konnte, daß das geplante Unternehmen fallen gelassen worden sei. Heute aber war in ihren nachdenklichen, strengen Mienen nichts mehr von der guten Laune zu sehen, die doch nach der so glücklichen Wendung der Dinge sich unbedingt hätte bemerkbar machen müssen.

»Der Mann hat recht … Bald wird es dahin kommen, daß wir nur noch über unsere Haut verfügen können.«

»Oh, das geht nicht so weiter! … Das geht wirklich nicht so weiter, meine Herren, und noch dazu, nachdem die Rechtslage im Zusammenhang mit dieser Geschichte, die uns zur Vorlegung unserer Brièrer Urkunden zwang, eindeutig zu unseren Gunsten geregelt ist.«

»Geregelt nennen Sie das?« rief ein dicker Ratsherr, indem er mit beiden Fäusten auf den Tisch schlug. Dabei streckte er den Kopf vor und ließ seine Augen grimmig gegen seinen Vorredner rollen. »Gar nichts ist geregelt! … Die Sache ist sozusagen ausgegangen wie das Hornberger Schießen, überhaupt, was ist denn dabei schon herausgekommen?«

»Sehr richtig! Jawohl! … Der hat ganz recht!« ließen sich viele Stimmen vernehmen. »Genau so haben sich die Dinge abgespielt.«

»Genau so haben sich die Dinge abgespielt?« warf ein anderer ein. »Wer kann denn überhaupt etwas Genaueres sagen, wie sie sich abgespielt haben? Was wissen denn wir davon? … Was haben wir denn gesehen? … Ein Mensch stirbt, ein anderer kommt zur Welt, und alles geht seinen alten Schlendrian weiter.«

»Jedenfalls soviel ist sicher«, bekräftigte der Bürgermeister von St. André und hob dabei die Stimme, um den Lärm zu übertönen, »daß ein Ausbeutungsplan besteht, der von den Ingenieuren ausgearbeitet worden ist und nur zurückgehalten wird, bis sich eine günstige Gelegenheit ergibt.«

»Auch das ist wahr«, fuhr der Bürgermeister von Crossac fort, »daß die große Stadt, die durch das Vorkommnis auf den Geschmack gekommen ist, auch heute noch an eine Veräußerung der Brière denkt, als sei sie ein Ausbeutungsobjekt allein zu ihrem Vorteil … Man wartet dort nur noch den richtigen Zeitpunkt ab. Den richtigen Zeitpunkt«, sagte er und hob dazu bedeutsam den Zeigefinger.

»Meine Freunde!« fiel nun Herr Moyon ein. »Meine Amtskollegen! Sie haben gut reden, und dabei stehen wir doch erst am Anfang. Eines aber steht jetzt fest, daß die Sorge sich bei uns eingenistet hat … Ich sehe, wie niedergeschlagen Sie alle sind. Auch das Land selbst ist unruhig und bekümmert; denn den Leuten sind jetzt die Augen aufgegangen. Gestern noch, meine Freunde, lebten wir verborgen und unbekannt. Ohne viel Lärm spielte sich unser Leben hier ab unter der Ordnung einer altehrwürdigen, großen Schenkung, den Körper in der Sonne, den Kopf im Schatten, und wir waren frei, jawohl frei … und doch auch wieder so heimatlich verwurzelt, wie die schwimmenden Wasserpflanzen zugleich fest in ihrem Grund verankert sind … Aber eines müssen wir uns heute eingestehen, über eines sind wir uns jetzt ganz im klaren, weil die Ereignisse, die uns so warm gemacht haben, uns das zu verstehen gaben, daß es nämlich mit dieser köstlichen Abgeschiedenheit, der wir uns seit Jahrhunderten erfreuen konnten, vorbei ist … Die neue Zeit ist wie eine Gewitterwolke an unserem Himmel aufgezogen, und schon rasen die ersten Sturmzeichen über unsere Köpfe dahin … Es gibt keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen, und das ist die größte Qual … Gut, man weiß jetzt, was uns blüht; man weiß, daß man keine Stunde mehr ruhig schlafen kann … Man weiß, daß einem Gefahren drohen, die nicht mehr wie seither von irgendeinem einzelnen ausgehen, ob er nun Peter oder Jakob heißt, sondern von der Herrschaft der neuen Zeit, die keinen Namen und kein Gesicht hat, und die alles in ihren Schmelztiegel und ihre Hochöfen steckt … Meine Freunde, es läßt sich aber gar nichts voraussagen, was morgen sein wird; denn ein solcher Kompaß ist noch nicht erfunden … Aber soviel steht fest: Jene Macht ist in unseren Gesichtskreis getreten. Wir wissen es ja, daß sie in Reichweite gekommen ist, und deshalb werden uns von nun an Unruhe und Sorge nicht mehr verlassen.«

Die Ratsherren wiegten bedächtig die Köpfe.

»Was tun? Was kann man denn dagegen machen?«

»Beten, daß sich die Steine in süßes Weißbrot verwandeln«, ließ sich eine bittere Stimme hören.

»Unruhe und Sorge«, nahm Herr Moyon das Wort wieder auf, »die schlimmer sind als das Übel selbst.«

»Schlimmer als das Übel selbst, jawohl … Aber wehe den Menschen, die sich selbst aufgeben!«

»Es kann gar nicht die Rede davon sein, daß wir uns selber aufgeben, Meister Evin. Zunächst besitzen wir ja unsere Dokumente, auf die wir uns in unserem Kampfe stützen können. Allein, nach all unserer Wahrnehmung und Erfahrung hat sich jetzt die ganze Fragestellung verschoben. Heute lautet sie so: Was können die Dokumente ausrichten gegen eine gesetzliche Enteignung, diese neuzeitliche Erfindung? Sie werden darauf auch keine Antwort geben können, nicht wahr? Denn das wird allein die Zukunft entscheiden: Warten wir eben getrost ab, wie sich die Dinge entwickeln. Das Paradies ist verloren, und das ist alles, was ich sagen wollte … Jetzt können wir gleich zur Behandlung der Gemeindenumlagen übergehen.«

»Einen Augenblick, bitte, Herr Moyon!« rief Meister Evin und erhob sich.

»Meine Herren!« sagte er mit etwas erregter Stimme. »Haben wir den Mut? … Ja, ich frage Sie, haben wir den Mut? … Denn wahrhaftig, wenn mir einer vor einem Jahr das vorgeschlagen hätte, was ich Ihnen jetzt vorschlagen will, so hätte ich ihm erwidert: Nein, lieber lasse ich mir das rechte Auge ausreißen. Nun also, wenn so viele Leute daran denken, die Brière aufzuteilen, dann wohl deshalb, weil der Torf keine Abnehmer mehr findet, und darum sagt man sich: Weshalb soll denn dieses armselige Sumpfland mit aller Gewalt erhalten werden, oder wie der reiche Mann im Evangelium zu seinem Gärtner: Nun komme ich schon das dritte Jahr, um Feigen von diesem Baum zu pflücken, aber ich finde keine daran. Hau ihn um! Er steht unnütz da. Nun, und da sag' ich mir: Fangen wir doch selber als die ersten damit an, das Moor trocken zu legen; verwandeln wir unsere Moorwiesen in Weideland! Treiben wir Viehzucht! Wenn wir aber erst einmal soweit sind und unsere Brière in ein schönes, grünes Wiesenland umgestaltet haben, vollbedeckt mit Herden, dann soll einer kommen und sagen: Ich will mir dieses Gebiet aneignen.«

»Nein! … Meister Evin, nein!« fiel ihm der Bürgermeister von Crossac ins Wort. »Das Wasser frißt die Brière auf. Ergreifen wir lieber dafür Partei, machen wir einen großen, fischreichen See aus ihr! Die Bewohner können sich dann mit Karpfen- und Hechtzucht befassen.«

»Aber meine Freunde, meine Freunde!« rief Herr Moyon jetzt dazwischen. »Wenn wir erst damit beginnen und uns in einen Streit einlassen, der so alt ist wie die Welt selbst, ich meine den Streit zwischen trocken und naß, dann kommen wir niemals zu Ende. Ist die Brière ein Torfland oder nicht? Nun, dann soll sie es auch bleiben, solange als wir es verantworten können. Das Vordringlichste aber scheint mir zu sein, daß wir möglichst bald unsere Schulden tilgen; denn es steht kaum zu hoffen, daß wir den Staat bezahlen können wie der blöde Jakob von Berches, der den Wirten mit Rosen bezahlt, die er in fremden Gärten stiehlt, nicht wahr? Wir schulden dem Staat fünfhunderttausend Francs … und achttausend haben wir in der Kasse. Also? … Also schlage ich jetzt von meiner Seite aus vor, daß wir die Steuern erhöhen. Oh, ich weiß wohl … die Bewohner unserer Inseln sind nicht auf Rosen gebettet. Aber was will man machen? Wir müssen in den saueren Apfel beißen. Bisher haben wir lediglich das Ausgraben von Mortasholz und das Schilfschneiden besteuert; nun müssen auch alle anderen Gewerbe der Brière bei der Veranlagung mit herangezogen werden: der Bootsbau, die Herstellung der Ruderstangen, die Töpfereibetriebe von Osca, die Korbflechterei in Mayun.«

»Schreib auf, Larmentières … Boote, Ruderstangen, Geschirr, Korbwaren … Die Einzelheiten werden wir nachher noch ausarbeiten.«

»Wenn Sie schon so weit gehen, Moyon, warum nicht auch die Bienen besteuern, wenn wir doch einmal dabei sind«, ließ sich der Bürgermeister von Chapelle vernehmen.

»Schreib auf: Bienen … Ich vergaß die Bienen. Gerechtigkeit muß sein … Meine Freunde, es gibt Leute, die haben drei Stöcke, andere zehn, wieder andere zwanzig … Von vier aufwärts wollen wir sie besteuern. Finden Sie das nicht vernünftig?«

»Gut, gut«, stimmten mehrere Ratsherren bei.

»Ich sage Ihnen, meine Herren, daß Sie ja schließlich gar nicht anders können, als meinem Vorschlag zuzustimmen.«

Nun entspann sich eine Debatte über die Art, wie man am besten diese verschiedenen Steuern den Einkünften jedes einzelnen anpassen sollte. Und erst nach einer langen Rechenarbeit, bei der sich alle die alten Köpfe über die Zahlenreihen neigten, konnte der Wortlaut der Bekanntmachung endlich festgelegt werden. Dann wurden noch einige andere Beschlüsse gefaßt, die die Wiederinstandsetzung der Brücke in B. betrafen, die für Heuwagen bestimmt war und jedes Jahr durch Senkung des Torfbodens zu den gleichen Ungelegenheiten Anlaß gab.

Damit war die Sitzung beendet. Aber Herr Moyon bat die Ratsherren, sich noch einen Augenblick zu gedulden.

»Meine Freunde, ich habe Ihnen noch ein paar Worte zu sagen … Es handelt sich nämlich um die Kontrolle über die Einkünfte aus all den Erzeugnissen, für die wir soeben eine Steuer festgelegt haben … Darüber hab' ich mich schon mehrfach mit Larmentières besprochen. Larmentières hat sein Amt sehr gewissenhaft versehen. Wir können ihm für seine Dienstleistung nur unsere volle Anerkennung aussprechen. Natürlich hat er sich in dieser kurzen Zeit noch nicht die Erfahrung sammeln können, die erst die Folge einer langen Berufstätigkeit sein kann. Er fühlt die Schwierigkeiten im Verkehr mit den Leuten. Zumeist weigert man sich, ihm hinsichtlich der schuldigen Umlagen klaren Bescheid zu geben. So gerät er häufig mit ihnen darüber in Streit, und weil das seiner Natur zuwider ist, wie er mir sagt, möchte er am liebsten sein Amt wieder niederlegen.«

»Jawohl«, sagte Larmentières. »Das Land ist zu erbittert.«

»So habe ich denn, meine lieben Kollegen, an folgendes gedacht: Wir könnten vielleicht doch unseren früheren Wächter Augustin wieder in sein Amt einsetzen … denn er hat bestimmt die notwendigen Eigenschaften, um durchzugreifen. Was meinen Sie dazu?«

Die Ratsherren griffen sich ans Kinn und kratzten sich hinter den Ohren. Sie hatten ja ihre Meinung über diesen Punkt schon einmal geäußert.

»Seit fast zwei Monaten ist er bereits wieder hier«, fuhr der Bürgermeister von St. Joachim fort. »Daß er seine Stelle nicht wieder bekommen hat, ist für ihn ein schwerer Schlag gewesen. Aber auch für uns ist es sehr peinlich, das zu wissen … Verstehen Sie wohl! … Er hat in aufopferndster Weise seinen Dienst erfüllt.«

»Aber ja, aber ja, Moyon! … Man versteht das alles sehr gut … Aber hat man denn schon jemals einen Blinden vor einem Lager Posten stehen sehen?«

»Ein gutes Mundwerk ist noch nicht alles«, meinte ein anderer. »Die Gemeinden benötigen eine Hilfskraft, die auch noch für andere Geschäfte zu gebrauchen ist als eben nur dazu, um Zettel unter die Türen zu schieben.«

»Man weiß doch«, äußerte ein Dritter, daß speziell bei uns ein Invalide überhaupt nicht mehr Dienst tun kann. Wie will er zum Beispiel nur den Kahn fortbringen? Auch Nachtigallen kann man nicht mit Märchen füttern, Moyon.«

Ein anderer wollte gerade einen Einwand vorbringen, da klopfte es dreimal wie mit Hammerschlägen an die Tür.

»Wer klopft denn da so unverschämt? Das kann doch nur wieder der Kleinschmidt sein … Larmentières, schauen Sie doch einmal nach!«

»Wer ist da?« fragte Larmentières.

Man hörte draußen eine Stimme.

»Es ist Augustin, Herr Bürgermeister.«

»Augustin?!«

Alles schwieg. Herr Moyon schien sehr überrascht. Er zögerte und überlegte, denn das konnte gut, aber auch schlecht ausgehen, dieser Besuch, mitten in der schönsten Debatte.

Alle Ratsherren hatten sich wieder gesetzt.

»Laß ihn herein!« sagte der Bürgermeister.

Der Schlüssel drehte sich um, und Augustin trat über die Schwelle.

Er hatte seinen guten Anzug an, denselben, den er damals bei der großen Versammlung wegen der Briefe getragen hatte. Einen Schritt von der Tür entfernt blieb er stehen, so gerade wie eine Ruderstange, und nahm den Hut ab.

»Guten Tag, meine Herren!« sagte er mit dröhnender Stimme. Diese Stimme hallte seltsam durch den stillen Raum. Sie hatte einen ehernen, durchdringenden Klang, als sei da einer gerade von den Toten auferstanden.

Er musterte die Versammlung, und sein Blick war durchdringend, hart und ein klein wenig siegesbewußt, als ob er sich über sie lustig machen wollte.

Überrascht schauten ihn die Ratsherren an. Sie hatten ihn seit seinem Unfall nicht mehr gesehen. Ebenso aufrichtig, wie sie ihn damals nach seinem Unglück, das ihn betroffen hatte, bedauerten, ebensosehr bezweifelten sie es, ob er mit seinen Kräften jetzt noch den schweren Dienst auf der Brière versehen könnte. Aber sein Kommen gerade jetzt mitten im heißen Kampf der Meinungen war ihnen doch überaus unerwünscht. Auch waren sie nicht darauf gefaßt, ihn so aufrecht und ohne jede Spur von seinem Krankenlager vor sich zu sehen, und er schien auch keineswegs gekommen zu sein, um sie wegen seines Testamentes um Rat zu fragen.

Herrn Moyon blieb vor Überraschung der Mund offen, als er seinen Schützling so ganz anders wiedersah. Man merkte ihm deutlich die freudige Genugtuung an, die aus seinen Augen strahlte.

Das Gefühl dafür, daß ihr alter Wächter ein Anrecht auf einen liebenswürdigen Empfang habe, siegte schließlich doch über die Verlegenheit, in die sie sein unerwartetes Erscheinen versetzt hatte. Schon streckten sich ihm viele Hände entgegen. Augustin übersah sie nicht, sondern griff mit seiner unversehrten Hand zu. Aber man merkte, daß es ihm nicht von Herzen kam. Offensichtlich war er in der Absicht gekommen, ihnen seine Meinung zu sagen.

»Der arme Augustin! … Der arme Augustin!«

Ein jeder sah nach dem leeren Ärmel hin, aber umsonst; denn er barg den Stummel in seinem Hut, den er fest an sich drückte.

Alle schauten todernst.

»Nun, bist du wieder vollständig hergestellt?«

Seinem Aussehen nach hatte er sich in der Tat wieder sehr gut erholt.

Man bot ihm ein Glas Wein an.

»Ohne Zweifel ist dir durch diese Geschichte recht übel mitgespielt worden.«

Da trat Augustin einen Schritt zurück, blickte sie scharf an und sagte kalt:

»Bei Gott, ja! Ich habe meine blauen Wunder erlebt … Ich kann Ihnen auch erzählen, was mir dabei am meisten zugesetzt hat: Als ich heimwärts ging, da sah ich auf der Straße vor mir ein großes Schlagloch, das mit Wasser gefüllt war. Die untergehende Sonne spiegelte sich ganz rosarot darin … Da dachte ich bei mir: Wie herrlich ist dieses zarte Rot! Als ich näher kam, hatte die Pfütze sich verfärbt; sie sah jetzt grünlich aus … und als ich noch näher kam, da war es nur ein schwarzes Dreckwasser, meine Herren.«

Als er anfing, schien er zu scherzen, aber am Schluß hatte seine Stimme eine flammende Schärfe.

Die Ratsherren sahen sich bestürzt an.

»Na, du hast wohl einen kleinen Spaziergang hierher gemacht?«

»Ja, die alte Wildgans ist wieder gekommen und klopft mit dem Schnabel an die Tür.«

Die Falte auf seiner Stirne schwand nicht. Er stierte bald den einen, bald den anderen der Ratsherren an. Etwas schien in ihm aufgestaut, das jetzt noch zunahm; und als Herr Moyon sich in diesem Augenblick die Hände rieb und zu ihm sagte: »Wir sprachen gerade von dir … Wenn man den Esel nennt …«, da brach es spontan aus ihm hervor, worüber er sich bisher noch ausgeschwiegen hatte.

»Reiben Sie sich nur die Hände, Herr Bürgermeister! Auch andere können es Ihnen ruhig gleich tun. Nur keine Angst!« Diese Bemerkung brachte Herrn Moyon so außer Fassung, daß er bis über die Ohren rot wurde; denn wenn er sich die Hände rieb, so geschah das nur aus Freude bei dem Gedanken an die gute Wendung, die er sich von diesem unvorhergesehenen Besuch versprach. Die grausame Bedeutung, die ihm Augustin dabei unterschob, lag ihm ganz fern.

»Armer Augustin, du stehst noch immer vollständig unter dem Eindruck deines Unglücks! Aber sag doch selbst, wie könnte ich überhaupt auf den Gedanken kommen, mit meinen beiden Händen vor dir zu prunken, wo ich doch selbst so schlimme Beine habe? Komm … setz dich lieber her! … Wir wollen ein wenig zusammen plaudern.«

Aber Augustin hörte nicht hin.

»Der Herrgott hat mir seinerzeit zwei Hände gegeben«, beharrte er in seinem Trotz.

»Ach ja, leider … zwei Hände. Natürlich, Augustin!«

»Wie allen Menschen.«

»Wie allen Menschen«, wiederholte Herr Moyon mit einem fragenden Blick nach seinen Kollegen hin.

»Nun gut, er hat sie mir wiedergegeben.«

Bei diesen seltsamen Worten wurde es ganz still in der Stube. War Augustin wahnsinnig geworden? Herr Moyon beobachtete ihn jetzt mit Unruhe, ja mit Angst. Man hörte ein paar Stühle rücken. Eine Bewegung ging durch die Reihen der Ratsherren.

»Er hat sie mir wiedergegeben, damit Sie keine Entschuldigung mehr haben, wenn Sie den alten Krüppel wegwerfen … Hier, sehen Sie selbst!«

Herr Moyon sah zu ihm hin. Seine Augen quollen ihm fast aus den Höhlen, als er das sah, was Augustin ihm jetzt zeigte.

Auch die anderen Ratsherren saßen stumm vor Staunen auf ihren Plätzen.

Während nämlich die eine Hand weiß war, konnte die andere, diese Wunderhand, dem tiefsten Schwarz, das es in der Natur gibt, den Rang streitig machen. Sie war von einem so tiefen Schwarz wie altes Ebenholz, glänzend wie frisch aus den Fluten gezogen, unheimlich wie die Abgründe des Meeres. Mit den gestreckten Fingern, dem gekrümmten Daumen sah sie aus wie ein starres, plumpes Zepter; und da, wo die Handfläche zur Rundung überging, spiegelte sich das Licht wie ein Stern am dunklen Nachthimmel.

Für Augen, die auf der Brière daheim waren, konnte es keinen Zweifel geben: diese Hand war aus dem Kernholz eines Mortasstammes geschnitzt.

Augustin stand da wie ein Götterbild. Sein verzerrter Gesichtsausdruck war verschwunden. Er strahlte förmlich, und sein sieghafter Blick ging stolz von einem Gesicht zum andern.

»Ich fordere Sie auf, mir jetzt zu sagen, wo die Brière bei mir aufhört und wo ich anfange.«

Die Ratsherren waren von ihren Plätzen aufgestanden und drängten sich alle zu ihm hin.

Sie umringten ihn. Die Ausführung dieser außergewöhnlichen Arbeit mußten sie sich aus der Nähe betrachten. Und mit einem Blick auf die niedergebeugten Köpfe sagte er jetzt:

»Das Holz ist älter als Jesus Christus … und es wird nicht wurmstichig werden, dafür stehe ich euch ein.«

Diese Verschmelzung menschlicher Formen mit der Materie aus ihrem Torfholz verwirrte sie aufs äußerste.

»Ja, wer hat dir das bloß machen können, Augustin? … Wer hat denn dieses Kunstwerk fertiggebracht?«

»Ich sagte Ihnen ja schon, der Herrgott … und der hat mich auch schon gelehrt, sie zu gebrauchen.«

Und mit einer drohenden Bewegung hob er die Hand hoch über die Schulter, dieses gefährliche Zepter, so daß man die eiserne Manschette sehen konnte, die der Hufschmied zur Befestigung am Handgelenk angebracht hatte. Er hatte ihr auch schon einen Namen gegeben: Sancta Justitia.

»Und damit«, sagte er, »werde ich ihm das Gesicht einschlagen«, ohne etwas Genaueres hinzuzufügen, um wessen Gesicht es sich handelte.

Nun betrachteten die Ratsherren Augustin selber. Sie musterten ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und seine Kraft und Entschlossenheit machten großen Eindruck auf sie. Im übrigen war er kaum wiederzuerkennen. Sein glücklicher Einfall hatte ihn neu belebt und daneben auch – nicht zu vergessen – die gute Kost, die ihm Julie zukommen ließ, und zwar, ohne daß er etwas davon ahnte, mit Hilfe des Zwanzigfrancsstücks, das er ihr zurückgegeben hatte.

»Und nun, meine Kollegen? Und nun?« fragte jetzt Herr Moyon, der fast ebenso stolz dreinsah wie sein Schützling.

Eine schwache, spitze Stimme ließ sich vernehmen:

»Ich sehe wohl, daß Augustin mit einem Schlage dieser Hand einen umbringen könnte … aber ich bezweifle stark, ob er eine Mücke damit fangen kann …«

»Herr Rat«, gab Augustin zur Antwort, »seien Sie versichert, daß man weniger mit den Händen zu den Menschen redet; man muß ihnen schon einen Prügel hinhalten.«

»Aber ja … aber sicher …«, beeilte sich Herr Moyon beizupflichten, um diesem Wortwechsel ein Ende zu machen. »Aber was beschließen wir nun?« Dabei rieb er sich mit Nachdruck die Hände – überzeugt, daß er es dieses Mal ungestraft tun durfte –, um seinen Kollegen Mut zu machen und sie anzueifern. Und diese nickten jetzt zustimmend mit den Köpfen, wenn auch ihre Schultern nicht so ganz einverstanden schienen. Sie waren offenbar etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Der eine nahm eine Prise, der andere schneuzte sich, ein dritter goß sich den Rest aus der Flasche ein, und doch redete daraus eine ganz verständliche Sprache, ähnlich wie sich überall in der Schöpfung die Wesen gleicher Art, auch wenn sie nicht sprechen können, untereinander verständigen.

Herr Moyon wollte das Eisen schmieden, solange es heiß war. Er gab Larmentières einen Wink, der ihn auch sofort verstand und ihm sein Amtsschild brachte.

Der Bürgermeister rief Augustin zu sich:

»Komm her … laß dir deinen Arm neu verbrämen!« Und während er ihm aus Freundlichkeit das Ding eigenhändig ansteckte, drehte Augustin den Kopf nach der Seite wie ein Pferd, das seine Deichsel betrachtet.

»Das war auch höchste Zeit …«, meinte er.

»Nun sind ja deine Sorgen wieder behoben … und wir hoffen, daß dein Gebrechen dich nicht an der Ausübung deines Amtes hindert.«

»Oh, mit der da!« erwiderte Augustin. Er zeigte seine Holzhand, gleichsam als ob er damit zum Ausdruck bringen wollte, daß er sich jetzt mehr auf sie als auf die andere verlasse.

Aber auch er war bewegt, das sah man ihm an. Mochte er sich auch zu einem Lächeln zwingen, seine Lippen zuckten über seinen Raubtierzähnen.

»Herr Moyon, wollen Sie mir die neue Hand schütteln? Das soll dann ihre Taufe sein«, sagte er.

Herr Moyon ging lächelnd darauf ein, begnügte sich aber damit, sie nur leicht anzufassen, ohne sie zu drücken.

Jetzt ging Augustin zum Tische hin, nahm das Glas Wein, das man ihm eingeschenkt und das er bisher verschmäht hatte.

»Auf Ihre Gesundheit, Ihr Herren Räte!«

Er leerte das Glas in einem Zug.

Aber die Beine versagten ihm jetzt den Dienst. Man sah ihm an, daß ihm der Wein in den Kopf gestiegen war. Er konnte nicht anders, er mußte von Zeit zu Zeit die Augen schließen, weil alles im Zimmer vor ihm zu tanzen begann.

»Danke! … Ich danke euch allen!«

Er wandte sich zum Gehen.

»Dank auch dir … Larmentières!«

Man hielt ihn nicht zurück. Man sah, daß es ihn fortzog. Alle schwiegen und warteten. Er taumelte wie ein Trunkener oder aber wie einer, der im Dunkeln sich mit vorgestreckten Händen nach der Tür hintastet.


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