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VI.

Um das Gebiet so sorgfältig abzusuchen, würde er noch lange brauchen. Er hatte erst den kleinsten Teil des Weges hinter sich, denn siebzehn Gemeinden liegen im Umkreis auf einem Gelände von dreizehntausend Hektar zerstreut: Saint-Malo, Crossac, St. Reine, St. André. Ihre kleinen Glockentürmchen kann man am Rande des Moores aus der blauen Hügelkette aufragen sehen. Eine nette Rundreise um das ganze Küstengebiet herum.

Nach Camert und Camerun besuchte Augustin Gué, Vessauze, Neu-Bertaut und Gitinaie, sodann Chapelle-des-Marais, den großen Flecken, der die nördliche Gegend beherrscht. Gleich hernach kam dann Mayun an die Reihe, dieses so verachtete Dorf, aus dem Jeanin, der unglückliche Liebhaber Theotists, stammte.

Jedes Dorf der Brière hat sein besonderes Gesicht, sein eigenes Brauchtum und Handwerk. In Camerun, wo die Häuser hell gehalten sind und auch jedes Frühjahr frisch gestrichen werden, ist alles blitzblank bis herab zum Kohleneimer. Man lebt auch gut dort; ein jeder hat seinen Wein und seinen Schnaps im Keller liegen.

In Mayun ist das ganz anders. Da sind die Häuser mit Lehm verschmiert und mit Stroh gedeckt. Armselig verkriecht es sich in einer Talmulde. Die Menschen sind hier bäuerisch, primitiv und ungehobelt.

Am Dorfeingang steht ein altes, eisernes Kreuz, so zerbrochen, daß es zum Erbarmen ist. Ihm gegenüber liegt eine alte, halbzerfallene Mühle, deren Flügel sich so schwerfällig regen wie die Flossen eines fliegenden Fisches. Die Gäßchen im Dorf selbst sind krumm und winkelig. Unregelmäßig springt das Mauerwerk bald zurück, bald vor. Im Schatten von dichten Bäumen öffnet sich ganz unvermittelt der Dorfplatz. Jeder hat sich vor Zeiten nach eigenem Gutdünken sein Häuschen hingebaut. Jetzt sind die großen Hütten ganz braun geworden. In freundnachbarlicher Vertrautheit lehnen sie sich aneinander unter ihrer grünen Mooshaube, auf der Blumen wachsen.

Schweigsam geht jeder dort seines Weges; schweigsam sind die hochgewachsenen, schönen Mädchen, wenn sie am Abend ihre Herden heimtreiben.

Die Leute gehen nicht gern aus ihren Hütten heraus, wo sie Körbe flechten. Das ist ihre Beschäftigung, ihr Broterwerb schon seit Jahrhunderten, seitdem einer ihrer Landsleute sich einmal in einem englischen Gefängnis diese Handfertigkeit angeeignet hatte. Es ist eine friedliche und geruhsame Tätigkeit, bei der man nicht so rasch alt wird. Du nimmst dein Spaltmesser, schneidest die Faulbaumrute mittendurch, schlingst die Gerte um die Rippen aus Kastanienholz. Das eine Ende steckst du hier durch, das andere dort. Die Gerten schwirren; das Geflecht knistert, und so gehen die Tage dahin.

Jeanin wohnte am Dorfplatz in der dritten Hütte links nach dem mächtigen Steintrog, der als Viehtränke dient, Tür an Tür neben dem einzigen noch lebenden Verwandten, seinem Onkel Jean Jeanin, einem alten Junggesellen, dem man wegen seiner Frömmigkeit den Spitznamen »der liebe Gott« gegeben hatte. Er selber hatte wegen seines sauberen Gesichtes, seines großen und stämmigen Wuchses von den weiblichen Zungen den Beinamen »Bukett« erhalten.

Die beiden Männer führten gemeinsamen Haushalt; sie aßen am gleichen Tisch. Aber nur der Onkel war Korbflechter.

Jeanin Bukett besorgte die Geschäfte außer dem Hause; er bebaute einige Morgen Land, die an der Straße nach Osca lagen und ihm als Erbeigentum gehörten, ging zum Schilfschneiden und Torfstechen, wilderte sogar ein wenig, obwohl das Wildern sonst in Mayun nicht üblich war. Aber sein Vater hatte ihm ein ziemlich gutes Gewehr hinterlassen, und er wußte sehr gut damit umzugehen. Übrigens gab es hier Wild im Überfluß und ebenso auch viele Aale südwärts der Straße von Langate.

Längst schon hätte der Bursche heiraten sollen. Letztes Jahr hatte er sich mit Nanette, der Tochter des Bootsstangenhändlers Gelliot, öffentlich verlobt, einer netten Kleinen, die zugleich die beste Sängerin in der ganzen Umgebung war. Alles war schon abgemacht. Die Zukünftige hatte bereits ihre Brautgeschenke erhalten: etliche Flaschen Malaga und ein paar Gebinde Flachs zum Spinnen ihrer Tücher. Aber seit jenem Sonntag, an dem das St-Cornels-Fest gefeiert wurde, hörten die Eltern nichts mehr vom Bräutigam.

Aber einige, die ihm auflauerten, kamen dahinter, daß er nach Einbruch der Dunkelheit unter dem Vorwand, Reußen auszulegen, ein Boot bestieg, in Wirklichkeit aber die Richtung nach Fédrun einschlug und sich dort herumtrieb.

Als der gute Onkel dahinterkam, ließ er den grauen Kopf hängen und machte ein bitterernstes Gesicht. »Ich bin sehr bekümmert darüber, dich auf diesem Wege zu wissen.

Heirate nah' bei deinem Haus,
Such Leut' von deinesgleichen aus.«

Er war ganz trübsinnig geworden. Bukett kümmerte sich nicht darum. Onkel und Neffe sprachen kaum noch miteinander.

Nun hatte Jeanin in diesen Tagen erfahren, daß der Inselwächter in allernächster Zeit nach Mayun käme, um auch hier seine Nachforschungen anzustellen. Um einer Begegnung mit ihm auszuweichen, gab er sich alle Mühe, seinem alten Onkel einzureden, daß es höchste Zeit wäre, jetzt im Walde Faulbaumruten zu schneiden. So kam es, daß die beiden Jeanin am gleichen Tage, als Theotists Vater sich erstmals mit seinen Stiefelabsätzen auf einer Türschwelle am Dorfeingang anmeldete, nach dem großen, etwa zwei Meilen landeinwärts gelegenen Bretecher Wald unterwegs waren. Ihren Schubkarren hatten sie frisch geschmiert und sich für den Fall, daß es Regen geben sollte, zwei Säcke umgehängt. Der Onkel zog infolge einer früheren Verwundung mit der Axt das eine Bein etwas nach.

»Wir trennen uns lieber«, hatte der Onkel gesagt, als sie in den Wald kamen. »Die Arbeit geht sonst nicht so rasch vorwärts.«

Aber Jeanin, der es vorher so wichtig gehabt hatte, herzukommen, war mit seinen Gedanken ganz woanders als in seinem Wald.

Der Arme hatte sich noch nicht von der Enttäuschung erholt, die die Fahrt nach Nantes ihm gebracht hatte. Dazu kam jetzt noch die Trauer darüber, daß er sich nicht mehr nach Fédrun wagen durfte, nachdem er beinahe erwischt worden war. Auch war er unglücklich darüber, daß er nicht mehr des Nachts zu ihrem Hause hinschleichen konnte, um dem geliebten Mädchen die Hände zu drücken, wenn sie sich aus dem Fenster zu ihm herabbeugte.

Er hatte sich insgeheim viel darauf eingebildet, als erster eines dieser stolzen Mädchen als Frau heimführen zu können. Ja, diese Eroberung hätte ihn zum stolzesten und glücklichsten Hochzeiter gemacht; und so kam es ihn hart an, sich einzugestehen, daß er da etwas angefangen hatte, wozu seine geistigen Fähigkeiten nicht ausreichten, und daß er selber doch nur ein ungeschickter Tölpel war, ein armer Kerl aus Mayun. »O du dummer Korbmacher! Du hast ja so rauhe Hände. Aber wie willst du zarte Finger haben, wenn dir schon so schwere Last aufgebürdet ist!«

Es war ihm schwer ums Herz.

Das Schneiden der Faulbaumruten ist kein Kinderspiel. Es braucht viel Kraft, um den ganzen Tag mit dem Messer zu hantieren und durch Büsche, Jungholz, Dornen sich durchzuwinden. Auch sind nicht alle Faulbaumzweige für den Korbmacher geeignet. Sie müssen lang sein, ohne Seitentriebe und sollen eine weiche, gesprenkelte Rinde haben. Mit hochgeschürzter Bluse, den Hut tief in die Stirne gedrückt, windet sich der Mann durch das Dickicht. Er hält die Hand vors Gesicht, sucht, prüft und schneidet im Vorbeigehen. Mehr ist darunter, was unbrauchbar ist, als was taugt.

Anstatt zu arbeiten, sah er den Krähen nach und vergaß ganz, warum er hier war. Unaufhörlich drang von der anderen Seite der Waldsenkung das Knacken von Onkel Jeans Messer herüber, der fürchterlich in den Faulbaumsträuchern hauste.

Immer hatten die beiden Korbflechter miteinander gewetteifert, wer wohl die meisten Ruten zusammenbrächte. Sie hatten das zwar nie zugegeben, aber ihr Blick sagte genug, wenn sie abends ihre Bündel beim Schubkarren abluden. Meistens hatte Onkel Jean dabei am besten abgeschnitten. Aber jetzt, da der Bursche schlapp machte, hatte das seinen Reiz verloren; denn der Onkel wußte ohnedies schon im voraus, wie groß der Ertrag des Tages sein würde.

Der hauptsächlichste Vorteil für Jeanin lag darin, daß er einer Begegnung mit dem Inselwächter auskam.

Im Augenblick schnitt er eifriger zu, denn er hatte im Gebüsch ein Geräusch gehört und wollte sich nicht vom Onkel dabei ertappen lassen, daß er bei seiner Arbeit heute nachlässig sei. Aber es war nur irgend jemand, der am Waldrand dürres Holz auflas.

Offenbar hatte diese Holzsammlerin ebenfalls Geräusche gehört, denn sie bog das Gestrüpp auseinander. Umgekehrt war nun er wieder neugierig und wollte gerne wissen, wer da käme, ob ein altes Mütterchen oder ein junges Ding.

Jetzt konnte er zwischen dem Jungholz ein schwarzes Kleid erkennen, dann ein Kopftuch. Aber auf einmal war es ihm, als gehe ein warmer Wind durch die Blätter. Sein Herz begann hörbar zu schlagen; eine Blutwelle schoß ihm ins Gesicht.

»Theotist!«

Mit drei Sätzen war er bei ihr. Sie wollte reden; er aber bedeutete ihr, zu schweigen. Er faßte sie mit der einen Hand, schob mit der anderen die Zweige beiseite und zog sie mit sich fort ins Dickicht.

Sie liefen unter den Bäumen hin, an den Faulbaumsträuchern vorbei, bis sie im dichtesten Unterholz ein windgeschütztes, fast unzugängliches Plätzchen gefunden hatten. Dort saßen sie dann beide am Rande einer großen, mit Laub angefüllten Mulde, und Jeanin hörte kaum auf das, was Theotist sagte. Er konnte sich nicht satt sehen an ihren schönen Nachtvogelaugen, die noch goldener waren als alle die welken Blätter rings herum.

Zärtlich drückte er sie mit schüchterner Zurückhaltung an sich.

»Theotist! … Theotist!«

Sie war von zu Hause weggegangen in der Absicht, eine Kusine in Crossac zu besuchen. Aber unterwegs war es plötzlich mit Macht über sie gekommen. Sie hielt es einfach nicht länger aus ohne jede Nachricht. Es war ihr alles gleich; sie mußte nach Mayun. Zufällig hatte sie auf der Straße aufgeschnappt, daß die beiden Jeanin in den Bretecher Wald gegangen wären, und so sei sie hergekommen … Schon lange laufe sie überall herum … Zum dritten Male schon habe sie den Weg durch den Wald gemacht.

»Und hör jetzt nur! … Du kannst in Zukunft ohne jede Gefahr zu mir ans Fenster kommen … Du kannst mir ganz unbesorgt rufen … Er ist nicht mehr da, … er ist fort … fort! … Deshalb bin ich hergekommen, um dir das zu sagen. Verstehst du nicht? … Fort, sag' ich dir … Mit der Mutter hat er einen Streit gehabt … Er ist aus dem Chat-Fourré ausgezogen … Er wohnt nicht mehr bei uns.«

Und als der Bursche große Augen machte, erzählte sie ihm den Streit wegen der Tücher, die Geschichte mit dem Stempelpapier, den Umzug.

»Und denk dir nur: Eines Abends, wie ich auf dich warte, es war eine wunderschöne Nacht, da höre ich ein Geräusch im Garten. Ich habe sofort meine Laterne angesteckt und nachgesehen … Ich hab' gedacht, du wärst es … aber nein, er war's … er! Ich hielt ihm meine Laterne gerade unter die Nase … Er hat Torf auf seinen Karren geladen.«

»Nun, Theotist, wenn es so ist, dann können wir ja Hochzeit halten.«

»Ach, Jeanin, nein!«

»Immer sagst du nein, Theotist.«

»Weil du nicht gehört hast, wie schrecklich er mir gedroht hat … Nein, du weißt nicht, du hast keine Ahnung, was er für ein Mensch ist.«

»Er kann uns nicht hindern, wenn wir wollen.«

»Oh, Jeanin, er kann noch viel mehr … Weißt du noch die Kranke, die du in Nantes besucht hast, die Frau meines Bruders? Siehst du, da war es auch so … Jetzt ist es aus … sie ist tot … Und davor habe ich Angst … Ich bin überzeugt, sein Fluch ist daran schuld. Wenn wir heiraten, wird er uns genau so verfluchen … Wir müssen noch warten, Jeanin.«

Sie nahm ihn bei der Hand.

»Aber deine Mutter ist doch einverstanden.«

»Oh, meine Mutter. Wie du daherredest! Die arme Frau! … In einem fort sagt sie immer wieder dasselbe: ›Bis jetzt hab' ich mein Unglück nur gesehen, aber seit heute, seit er fort ist, hör' ich's überall, sogar wenn das Wasser rauscht.‹ Neulich hat sie mir gesagt: ›Ich bin sicher, Theotist, daß der Herrgott dir beistehen würde, wenn du zu ihm gingst. Du weißt schon, zu wem.‹ Und als ich sie dann fragte, wen sie denn eigentlich meine: ›Nun, deinen Vater natürlich. Ich glaube bestimmt, daß du allerhand bei ihm ausrichten würdest, wenn du zu ihm hingingst.‹ Ich soll zu ihm gehen nach allem, was er mir an den Kopf geworfen hat? Und einen Fußfall tun, damit er vielleicht ja sagt zu meiner Heirat? ›Nein, nein … darum handelt es sich nicht. Aber du könntest ihm zureden … Ohne Zweifel würdest du erhört werden mit Gottes Hilfe, der dir noch immer beigestanden hat.‹ – ›Aber, was soll ich denn, Mutter?‹ Da hat sie sich abgewandt und mir zur Antwort gegeben: ›Ihn bitten, daß er wiederkommt.‹ Die Arme ist von Eifersucht geplagt … Sie ist eifersüchtig auf Julie Chantal, zu der Vater alle Abend hingeht, wie sie behauptet.«

Jeanin schüttelte den Kopf: Warum noch weiter miteinander gehen, wenn sie doch nicht heiraten durften, da sie Angst hatte … Dann könnte man ja noch zehn Jahre warten und dann wieder zehn Jahre.

»Sag das nicht, laß mit dir reden! … Ich hab' so meine Gedanken … Weißt du, warum ich nichts dazu tun will, daß er wiederkommt? Weil er dort bleiben soll, wo er jetzt ist, in seiner Hütte. Mit der Zeit wird er sich beruhigen.«

»Er wird sich beruhigen, Theotist?«

»Ja … aus Gleichgültigkeit. Wenn er dann jeden Abend bei der Chantal sitzt, wird er mit der Zeit Frau und Kind vergessen, und in dem Fall, Jeanin, könnte ich auch den größten Trottel von Berches heiraten, wenn ich das wollte.«

»Meinst du, Theotist?«

»Wer allein haust, ist bald ganz allein«, sagte sie.

Sie lehnten den Kopf aneinander und küßten sich. Sie hielten sich eng umschlungen.

Alles war still um sie herum. Kaum hörten sie das Vorbeischwirren eines Spatzenschwarms im Laub, das Knarren zweier Äste, die sich hoch oben aneinander rieben, über ihren Köpfen rauschte es in den Wipfeln der turmhohen, alten Buchen, die fast bis in die Wolken ragten.

»Oh, Theotist, Tag und Nacht muß ich an dich denken … überall seh' ich dich … wo ich geh' und steh' … im Wasser bei der Tränke … Ich werde fast verrückt! … Die Arbeit geht mir nicht mehr aus der Hand, … ich bin wie ein lahmer Gaul.«

»Warum denn? Ich kann jetzt doppelt soviel schaffen wie früher.«

»Ich nicht …«

Sie sah ihn einen Augenblick an, dann sprang sie plötzlich auf.

»Gib mir dein Messer!« sagte sie.

Sie sah sich um, griff in den nächsten Busch, schnitt eine Rute ab, eine zweite, eine dritte.

Halb belustigt schaute er ihr zu; dabei kratzte er sich am Kopf.

»Na, das ist wohl nicht so leicht wie Blumenpflücken.«

Aber da sie immer weiter schnitt mit aufgekrempelten Ärmeln und federnden Gelenken, zog auch er sein zweites Messer heraus, schnitt eine Handvoll Ruten, dann eine zweite, dann eine dritte.

Sie drangen ins Dickicht ein. Jetzt schnitten sie alle beide. Nun war es aus mit der Unterhaltung; sie arbeiteten. Jeanin ging jetzt sogar voraus. Von Zeit zu Zeit warf er ihr zu: »Es müssen möglichst wenig Knoten dran sein; wenigstens bis zur Hälfte dürfen sie keine haben.«

So gut sie es vermochte, ging Theotist hinter der blauen Bluse her und dem kleinen Hute, dessen Krempe sich mit welkem Laub füllte.

Die Gerten schwirrten, die Messer flogen. Zu Ende war der böse Traum. Nun war der junge Mann aus Mayun voll und ganz bei seiner Arbeit. Mitten zwischen den hochgeschossenen Eschensprößlingen ragten die Faulbaumzweige schlank empor, biegsam und zart wie Wünschelruten aus dem Feenreich. Mit Eifer setzte Jeanin sein Messer an; mit Hingebung sammelte er ein, und dabei bahnte er sich mit den Schultern einen Weg durchs Gebüsch, daß die Zweige raschelten, wie wenn ein großes Tier sich rücksichtslos einen Weg sucht.

Sobald sie eine größere Menge Reiser geschnitten hatten, legten sie sie ab. Die kleinen Bündel bezeichneten den Weg, den sie genommen hatten. So arbeiteten sie mehr als drei Stunden drauflos. Mitunter begegneten sie sich wieder bei ihrer Arbeit und umarmten sich. Und ehe sie sich versahen, stand die Sonne schon abendlich rot hinter den Bäumen.

»Meine Hände wollen nicht mehr«, sagte schließlich Theotist.

Jeanin hatte diese müden Hände ergriffen. Strahlend vor Glück betrachtete er die tiefe Rille, die der Messergriff dort hinterlassen hatte. Sein Atem ging so heftig, wie wenn er nach einem Wettlauf verschnaufen müßte. Ein starkes Gefühl von Kraft ging von seinen schöngeschwungenen Schultern unter der geflickten blauen Bluse aus.

»Mit dir«, sagte er, »könnte ich in alle Ewigkeit so weitermachen … Du brächtest es fertig, daß ich auf leeren Hanfäckern Faulbaumruten schneiden könnte! … Du bist eine tüchtige Frau.«

Sie schlang beide Arme um seinen Hals. Dann sahen sie sich tief in die Augen.

»Ich warte von jetzt an wieder abends auf dich … Aber trotz allem, sei vorsichtig, wenn du zu mir kommst.«

Sie standen eng umschlungen und noch eine ganze Weile verharrten sie so regungslos, und in der schweigenden Dämmerung des Waldes waren sie kaum zu erkennen.

 

Nachdem Jeanin Theotist zur Straße gebracht hatte, sprang er rasch wieder ins Gehölz zurück.

Was für ein Tag! Er war noch ganz benommen davon … Er lachte und hüpfte, pfiff und sang und versuchte das Glockengeläute an seinem Hochzeitstag nachzumachen.

Häuflein um Häuflein, Büschel um Büschel trug er die Faulbaumgerten zusammen, ganze Arme voll. Er war völlig in Schweiß gebadet, als er alles auf den Weg geschleppt hatte.

Oben an der Lichtung, vor dem roten Abendhimmel, hantierte der Onkel, der schon längst Feierabend gemacht hatte, am Schubkarren herum. Jeanin rief ihn her.

Mit kleinen Schritten, ohne allzu große Eile, humpelte der Alte zu ihm hin. Als er aber näher kam und den riesigen Haufen geschnittener Ruten sah, blieb er verdutzt stehen, rieb sich die Augen, hustete verlegen, räusperte und schneuzte sich.

»Ist ja kein Wunder! … Das ist ja wirklich kein Wunder!«

»Was denn, Onkel?«

»Du schneidst und schneidst und schneidst … und kümmerst dich gar nicht darum, daß es Nacht wird.«

Jeanin, der wiederum so herzhaft wie früher das Messer führte, lachte sich ins Fäustchen, während er die Zweige säuberte und zusammenschichtete. Dann band er sie mit einem Weidenstrick zusammen, den er sich rasch drehte, wobei er mit dem Fuß auf das eine Ende trat.

»Ich wollte dich nur bitten, mir beim Aufladen behilflich zu sein«, sagte er und wies auf das Bündel, das fast so groß war wie ein Wagenrad.

Natürlich half der Onkel mit größter Bereitwilligkeit, obwohl er dabei schimpfte und schnaufte.

Jeanin steckte einen Prügel durch das Rutenbündel, prüfte das Gleichgewicht aus, wobei er ein wenig hin und her wippte; dann setzte er sich in Bewegung, den Kopf vorgestreckt und fast laufend.

»Der schneidet und schneidet und schneidet«, knurrte der ältere Jean vor sich hin, und mühsamer als sonst humpelte er fassungslos über seine Niederlage nebenher.

Jeanin hatte einen Traggurt an den Griffenden des Schubkarrens befestigt, den er sich um die Schultern legte; dann fuhr er los. Der Onkel folgte; er sagte kein Wort. Nach ungefähr einer Wegmeile löste er den Neffen ab. Über ihnen begannen die Sterne zu funkeln; unten im Tale tauchte in ihrem weiten, tiefblauen Dunstkreis die Brière auf.

 

Während die beiden noch unterwegs waren, langte Theotist in Fédrun an, wo schon alles in tiefem Schlafe lag.

Sie lief schnell, den Kopf noch voll von all dem, was sie heute wie in einem schönen Traum erlebt hatte. Plötzlich gewahrte sie in der Ferne ein Licht; es war das Fenster in der gefürchteten Hütte an der Inselspitze.

Sie blieb stehen. Es drängte sie, hinter das Geheimnis dieser späten Nachtwache zu kommen.

Niemand würde sie sehen. Sie fing an zu laufen.

Aber als sie an dem Gäßchen angekommen war, zitterte sie vor Angst über ihr waghalsiges Beginnen. Dieser Stein in der Mauer, dieses nächtliche Licht, das war ja alles schon die nächste Umgebung ihres Vaters, Dinge, denen seine Wärme, sein Geruch anhaftete … Sie fühlte sich wie im Bannkreis eines Zauberers.

Danach wagte sie sich näher heran, freilich in der tödlichen Angst, es könnten auch zwei Augen sie von drüben her beobachten.

Die Fensterscheibe war schmutzig. Theotist konnte zunächst nur den Lichtkegel um die Lampe auf dem Tisch unterscheiden, dann allmählich den Schrank und einige dunkle Umrisse … Endlich sah sie ihn unter seinem Rauchfang sitzen.

Er saß vornübergeneigt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, in derselben Stellung wie zu Hause. Er rührte sich nicht. Nur sein Profil war zu sehen, ein Teil des Gesichtes, das von der Herdglut rot beleuchtet war.

Friedlich brannte das Feuer in kleinen, zarten Flämmchen. Der Kamin, die ganze Einrichtung, der Mann, all das schien seit urdenklichen Zeiten so gewesen zu sein. Es war alles so, wie sie es sich vorgestellt und erwartet hatte. Keine Aufregung, keine Gewissensbisse gab es zwischen diesen vier Wänden. Der Pulsschlag des Lebens in diesem Raum war von einer erschreckenden Ruhe.

Impulsiv drückte sie ihr Gesicht gegen die Scheiben. Da war ihr, als bewegte er sich und blickte zu ihr hin. Erschrocken fuhr sie zurück und rannte wie eine Besessene davon, bebend vor Angst und doch auch wieder voll Zuversicht.


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