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III.

Die Brière hat ihr grünes Kleid jetzt vollkommen abgelegt. Viel weiter dehnt sich scheinbar der Himmel über der kahlen Landschaft aus. Luft und Wasser sind nur noch durch den schmalen Streif des Binsenröhrichts getrennt. Die Gestade der Insel sind ununterbrochen in Nebel gehüllt. Eisig bläst der Wind aus vollen Backen, und nur allzuoft kommt ein Boot in Gefahr, auf den großen Wellengängen der Binnenseen zu kentern, wenn eine Böe plötzlich mit einem Stoß ins Segel fährt.

Das ist die Zeit der gefürchteten Nebel, wo kein Zeichen mehr dem Schiffer in der Nacht den Weg weist. Wenn es drei Wochen lang regnet, so tritt die Flut über die Dämme; die Bäume und Häuser stehen im Wasser. Jetzt brauchen die Kähne keinen Umweg mehr zu machen; sie schwimmen über alles hinweg auf diesem großen, uferlosen See.

Traurig sieht es hier im Winter aus – überall Schnee und Eis. Die Kinder rennen hinter den erstarrten Wasserhühnern her. Ganz gespenstisch schaut die Brière aus, wenn der Feuerschein aus den Hochöfen von Trignac beim Abendgrauen auf dieses weiße Leichentuch fällt.

Zwar sind im Augenblick ihre Feuer immer noch erloschen. Am tiefhängenden Wolkenhimmel im Süden sind die großen, schwarzen Rauchfahnen verschwunden, die sonst in riesigen Schwaden darüber hinziehen. Die Öfen stehen kalt, und die Arbeiter in den Dörfern müssen sich eben durch Fischfang ihr tägliches Brot verdienen. Doch niemand macht sich darüber Sorgen. Das Moor spendet alles, was man braucht. Es ist ein unerschöpflicher Quell – Brand und Fische und Fleisch –, man kann sich satt essen und ist sein freier Herr.

Freilich sind die Bewohner deshalb um so mehr in Unruhe, weil über den geheimnisvollen Verbleib der Dokumente immer noch nichts bekannt geworden ist.

An Straßenecken und Uferdämmen stehen sie beieinander, stecken die Köpfe zusammen und diskutieren. Was treibt nur dieser verfluchte Luzifer, dieser Augustin?

Am Abend spähen sie nach dem säumigen Boten aus und warten, ob der Kahn endlich die frohe Botschaft bringt. Aber es ist immer dasselbe mit dem Teufelsboot. Kaum hat man es entdeckt, ist es auch schon wieder verschwunden und legt anderswo an. Es sieht fast so aus, als ob er sich über sie lustig machen wollte.

Während sie so zuwarten, bauen sie ihre Teiche, bessern ihre Strohdächer aus, teeren die Boote – denn die Brière hat in kurzer Zeit ihre Sprößlinge wieder heimisch werden lassen und sie wieder in das rauhe Alltagsgewand gesteckt, das sie unablässig auf ihrem Nebelwebstuhl webt. Überall lodern am Morgen viele kleine Knüppelholzfeuer unter den Teerkesseln an dem weißbereiften Ufer.

Sie fischen in den großen Teichen, wo sie hinter dem Schilf verschwinden, und stechen mit ihrem Dreizack im Schlamm und in den Wasserpflanzen herum. Bei jedem Stoß spritzt das Wasser hoch und fällt in Tropfen nieder. Der Schlamm steigt auf und verbreitet sich in einer großen Wolke, und schon zappelt ein Aal an den stählernen Zinken. Ihrer zehn hantieren da mit ihrem Dreizack in der rauhen Faust herum, Boot an Boot, und wühlen das Wasser auf.

»Na, Augustin, fertig? … Gehört uns nun alles oder gehört uns nichts?«

Augustin ist eben aufgetaucht, aber auch schon wieder verschwunden, schweigend, ohne Antwort zu geben. Der Nebel hat seine hohe Gestalt wieder verschluckt …

»Was macht er? Wo fährt er nur hin?«

Die Fischer stellen sich auf den Bootsrand, um ihm nachzusehen.

Aber keine Spur ist mehr vorhanden von dem Mann, der allmählich allen zum Rätsel geworden ist. Nur zahlreiche Krähenschwärme, die dort in den Dünen hausen, fliegen auf.

 

Ja, er ist fertig! Er war überall gewesen, hat alles ausgesucht bis in die Mühlen und in die Pfarrhäuser hinein. Nicht die leiseste Hoffnung ist ihm geblieben.

Von Kerougas, seinem letzten Dorf, kam er heute abend zurück mit schleppendem Gang wie ein gebrochener Mann.

Anstatt bei seiner Ankunft in Fedrun gleich zum Bürgermeister zu gehen und ihm von seinem Mißerfolg zu berichten, ging er sofort nach Hause und schloß sich ein. Am nächsten Tag verhielt er sich ebenso. Er hatte sich immer noch nicht zu dem traurigen Eingeständnis entschließen können. Er war wieder wie gewöhnlich losgefahren, ohne zu wissen wohin.

Das ging nun schon eine ganze Woche so, und niemand, weder der Bürgermeister noch die Gemeindenräte ahnten das mindeste. Die ganze Brière war noch in völliger Ungewißheit.

Er schwieg und bildete sich ein, dadurch den Lauf der Dinge aufhalten zu können.

Da er sich indessen verraten hätte, wenn er zu Hause geblieben wäre, griff er alle Tage zur Ruderstange, um die Leute irrezuführen. Die Frühaufsteher sagten denn auch, wenn sie ihn im Moore verschwinden sahen: »Da draußen fährt Augustin nach der anderen Inselseite.«

Es gibt auf der Brière manchen Schlupfwinkel, der so verborgen ist, daß ihn sogar die Wildenten nicht finden, solche wildverwachsene Stellen, die zwar im Winter verdorrt sind, aber trotzdem nicht lichter werden, Schilfstauden, die wie Lanzen aussehen, Kaiserkerzen und sonstige Pflanzen, die geradezu geschaffen sind, einen Kahn aufzunehmen wie in einem Höhlennest. Nirgends ist der Mensch weiter aus der Welt – wozu auch die Inseln und Dörfer zählen – als in einem solchen Dickicht, wo es sich Zaunkönig, Kröten und große Wasserspinnen gut sein lassen.

In einem solchen sicheren Schlupfwinkel verbarg sich jetzt Augustin mit seinem Geheimnis; und als er einmal dort von Fischern überrascht wurde, weil er sich so in seine Gedanken versponnen hatte, daß er für alles andere taub geworden war, sprang er hastig wie ein gehetzter Flüchtling davon und rannte ins dichteste Schilf hinein, wo er hängenblieb und alles niedertrampelte, bis er sich schließlich wieder geborgen fühlte.

Dort lauerte er wie ein Fuchs, der auf den Abend wartet, traurig, trübsinnig, mit gebeugtem Rücken, den Hut tief über die Augen gezogen, die von seinen schlaflosen Nächten gerötet waren. Dabei stierte er wie geistesabwesend auf die aufsteigenden Luftblasen oder auf eine Mücke, die tot auf dem Wasser dahintrieb.

So verbrachte er jetzt seine Tage, Stunde für Stunde, bald am Felsenacker, am Alten Vé oder drüben am Grünen Berg.

Wie lange sollte dieser Zustand noch währen? … Er wußte es selber nicht. Vielleicht bis an sein Lebensende … Die Haare müßten ihm schon bis auf die Schultern herabhängen, bevor er sich zur Preisgabe der verfluchten Wahrheit verstehen würde. Mochte diese Wahrheit auch noch so offenkundig sein, so daß sie weder ein Bemänteln noch Bemängeln zuließ, er wies sie ab. Er verschloß sich hartnäckig vor ihr. Er sagte nein dazu. Mit Leib und Seele stemmte er sich gegen dieses widrige Geschick. Er begrub sie lebend in seinem Schweigen …

»Laß dich begraben! Pfui über deine Unfähigkeit!« sagte er beschämt zu sich selbst und ließ den Kopf hängen.

Die Enttäuschung mit den Briefen war für ihn eine neue Bestätigung für die Schlechtigkeit dieser Welt und für die ganze Hohlheit all der Gesetze, auf denen das menschliche Leben ruht. Schwindel, diese Dokumente! … Schwindel die Unterschriften! Er wünschte alle Papiere, mit denen er zu tun hatte, zum Teufel.

Am liebsten hätte er alle Menschen vergiftet. Er verfluchte sie, wenn sie hinter ihm her waren, ja sogar die Kinder, die ihm überall auflauerten. Er war ihnen gram wegen ihrer Neugier, ihrer Aufgeregtheit, ihrer Erwartung.

Wenn er aus seinem Versteck in der Ferne Leute gehen sah, wie sie Streu holten, Moorholz hinter sich herzogen oder von den Hügeln ihre wilden Stiere heimbrachten, dann ließ er aus seinem Verhau Laute hören, so eine Art Knirschen, das wie grauenvolles Gelächter eines unheimlichen Wasservogels im Weidengebüsch klang.

Und so lebte er dahin, trübselig wie ein kranker Reiher, der aus den Schilfstauden hervoräugt.

 

Als er eines Nachmittags sich wieder so im hohen Gras des Tresorbaches grämte, vernahm er plötzlich eine Stimme: »Augustin, du tust deine Pflicht nicht!«

Später wußte er nicht genau zu sagen, ob diese Stimme von außen kam oder ob er sie nur in seinem Innern gehört hatte.

Wie dem auch sei, jedenfalls fuhr er auf, und ein merkwürdiges Schauspiel bot sich seinen Blicken dar. In einer Uferbucht, etwa hundert Meter entfernt, sah er Laus, Laus mitten beim Torffrevel. Er war gerade dabei, sein Boot zu füllen.

Der Mann war nicht allein; seine Frau half ihm bei der Arbeit. Auf alle Fälle konnte man annehmen, daß sie es war. Sie hatte sich einen alten Kleiesack nach Art einer Bischofsmütze über den Kopf gestülpt.

Ihren Kahn hatten sie längsseits am Ufer festgemacht und beluden ihn von beiden Enden her.

Augustin schlüpfte aus seinen Holzschuhen, so daß er barfuß war, prüfte sein Gewehr und pirschte sich mit dem Boot heran, geduckt wie ein Leopard.

Sein altes Blut war wieder wach geworden beim Anblick des verhaßten Gegners, den er hier von Rechts wegen fassen konnte.

Jetzt konnte er mit dem Kerl abrechnen, der ihn herausgefordert hatte. Eine bessere Gelegenheit würde es nie wieder geben.

Er fuhr ganz dicht am Schilf hin. Dann hielt er an, denn er wußte, daß in diesem Augenblick ein kleines Versehen über Leben und Tod entscheiden konnte.

Alles hing von der Schnelligkeit ab, mit der es ihm gelang, die freie Stelle zu durchqueren. Hatte der andere Zeit genug, sich umzudrehen, dann gingen die beiden Gewehre zusammen los.

Aber beim Näherkommen stieß er sein Boot mit einem Ruck seiner Ferse geradewegs auf den Bug des anderen Kahnes hin, streckte die Hand aus, um den Anprall abzufangen, und konnte das Gewehr packen, das der Kerl in seinem Boote liegen hatte.

»Laus«, schrie er, »jetzt sind wir soweit. Ich stehe zu Diensten!«

Laus machte einen Sprung, sah sich aber sogleich der drohenden Mündung eines Flintenlaufes gegenüber, den Augustin auf ihn gerichtet hatte. Es war sein eigenes Gewehr.

»Soll ich dich etwa laufen lassen?« fragte Augustin halb spöttisch, »jetzt, wo uns beide, dich und mich, diese Kerle, die da drüben Streu nach St. Lyphard fahren, gesehen haben?«

Eine wilde Freude blitzte auf in seinem Gesicht. Der Fang hatte sich gelohnt. Die verhaßte Untätigkeit hatte sich also doch bezahlt gemacht.

Er bedeutete dem Mann, was auf ihn warte. Sein Gewehr, sagte er, werde er mitnehmen, um es zum Büchsenmacher zu bringen. Mit einem boshaften Lachen, das ihm angeboren war, stieß er sich von dessen Kahn ab und fuhr durch den Kanal davon.

Dieses Abenteuer hatte ihn wieder in die Wirklichkeit zurückversetzt; die Pflichten als Wächter und der Eifer für sein Amt beherrschten ihn völlig. Das erste, was er jetzt zu tun hatte, war die Abfassung eines Protokolls, und unverzüglich fuhr er nach St. Joachim, damit Laus nicht erst zum Bürgermeister laufen konnte, um ihm etwas vorzuheulen.

Die Leute aber, die seit Wochen nichts mehr von seinem Fahnden nach den Brièrer Urkunden erfahren hatten, liefen aus ihren Häusern, um etwaige Neuigkeiten zu hören. Sie sahen ihm nach, wie er die Dorfstraße hinaufging, die beiden Gewehre auf der Schulter; denn nicht einmal einer blinden, neunzigjährigen Greisin konnte es verborgen bleiben, daß eine dieser Waffen von einem Missetäter herstammte, den er auf frischer Tat ertappt hatte.

»Wem hast du denn das abgeknöpft?« rief ihm Frau Belle-marche unter der Haustüre zu, die wußte, daß ihr Mann in die Heide von Crévy gegangen war, um ein wenig Jagd zu machen.

»Kommst du nicht einen Augenblick herein?« setzte ihm der alte Merlin zu, dem es auf ein Gläschen Wein nicht angekommen wäre, um hinter die verflixte Geheimniskrämerei dieses Entenjägers zu kommen.

Andere musterten ihn, als er vorbeiging, mit einem gehässigen Blick:

»Natürlich gibt's auf der Brière mehr Gewehre als Patentbriefe!«

Augustin biß die Zähne zusammen. Er beschleunigte seinen Schritt, einmal aus Freude über seinen guten Fang, sodann, weil es ihn drängte, die Formalitäten möglichst rasch zu erledigen, um aus der Nähe all dieser Leute zu kommen und sich wieder in seinem Schilf zu verkriechen.

Aber es tauchten immer mehr Menschen auf. Fast sah es so aus, als ob auf der Insel Jahrmarkt wäre. Auf der Straße vor dem Schulhaus staute sich die Menge. An die hundert halbwüchsige Burschen, samt und sonders Fabrikarbeiter, standen beisammen und gröhlten gegen die Fenster, lachten, johlten und stießen sich gegenseitig an, um besser sehen zu können. Niemand wußte, was los war. Ein paar hingen oben auf dem schmalen Sockel vor den Fenstern, während von unten alles mögliche hinaufgeworfen wurde: Strohwische und Topfscherben, und was sonst noch auf dem Wege aufzulesen war.

»Hei, die hat aber genug Püffe und Fußtritte bekommen!«

Sogar die Ruhigsten stießen höhnische Rufe aus, daß es sich anhörte, wie wenn ein paar Hunde den Mond anheulen.

Das Gewehr tat auch hier seine Wirkung. Alles drehte sich nach ihm um. Einige sprangen von der Mauer herab, und für einen Augenblick war der Lärm verstummt.

»Das ist dem Montauciel sein Gewehr!« schrie der Bub der Lutote.

»Das Gewehr vom Montauciel! Das Gewehr vom Montauciel hat eine Messingschraube oben am Hahn.«

Und der Sprecher fügte hinzu: »Das Gewehr da gehört dem Laus.«

Und alle heulten: »Dem Laus sein Gewehr! Dem Laus sein Gewehr!«

Aber Augustin war schon längst vorbei.

Auf der Bürgermeisterei entlud er die Waffe in Gegenwart des Gemeindeschreibers. Drei talgbeschmierte Rehposten waren darin und anderthalb Ladungen Pulver, genug, um einen Keiler zur Strecke zu bringen.

»Diese Pflaumenkerne da stammen nicht aus Mutters Einmachgläsern. Er wußte, daß ich ein zähes Leben habe.«

Um so genauer faßte er seinen Bericht ab, um so sorgfältiger setzte er seine Unterschrift darunter.

 

Auf dem Rückweg mußte er wieder durchs Dorf. Darum hatte er es auch gar nicht eilig.

Der Tumult vor dem Schulhaus hatte jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Eine neue Gruppe war beisammen: der Schmied, der Steuereinnehmer, der Schuhmacher, ein paar Wirte, die an der gegenüberliegenden Mauer standen und dem Treiben zusahen.

»Ja, die Florenze hat sich auch einmal wieder hier blicken lassen«, sagte gerade ein kleines Männlein, als Augustin vorbeiging, »und wie die Burschen sie gesehen haben, haben sie die Alte in ihre Mitte genommen. Sie wollte davonlaufen, da haben sie sie gepackt … Eine merkwürdige Sache, sich darüber lustig zu machen … Das sind Rüpel!«

»Sie ist besoffen!« schrie man ihm zu.

»Mag sie vielleicht auch betrunken sein«, fuhr der Alte in seiner ruhigen Art wieder fort, »so viel steht jedenfalls fest, daß die Burschen sie durchs Fenster geworfen haben. Wie eine Rasende hat sie sich gewehrt. Ein Stück von ihrem Rock haben sie ihr heruntergerissen. Wahrscheinlich hat sie sich auch weh getan bei dem Sturz da drinnen. Das Fenster ist außerdem sehr hoch.« Dann fügte er hinzu: »Die Türen sind auch überall zugeschlossen. Der Lehrer ist nicht da; kein Mensch ist da.«

Das Mitleid war nun ausgerechnet nicht Augustins starke Seite. Außerdem hatte er nur den einen Gedanken im Kopf, möglichst rasch wieder draußen bei seinem Felsenbuckel zu sein. Doch dieses blödsinnige Geschrei rief so etwas wie Unwillen in ihm wach. Dazu gesellte sich die Abneigung gegen alles, was Menschenantlitz bedeutete, und verband ihn innerlich mit dieser Geschichte, so daß er auf seine Weise daran Anteil nahm.

Er brummte, spuckte aus, ging wieder zurück und erschien kurz darauf mit einem Schlüsselbund in der Hand.

»Macht, daß ihr fortkommt, ihr Lausbuben!«

Kräftig schob er ein paar zur Seite, die sich ein wenig überrascht auch anfangs wegschieben ließen. Nachher aber, als sie den Schlüsselbund bemerkten und sich die Türe öffnete, schrien sie wie ohrenbetäubend gegen den, der es wagte, als erster in das offene Schulhaus einzudringen.

Augustin hatte zwar keine Polizeifunktion in diesem Dorf auszuüben, aber sein persönliches Ansehen ersetzte jede Amtsgewalt.

»Ich werde sie herauslassen«, sagte er, »aber es soll sich einer unterstehen, sie nochmals anzurühren!«

Und mit einem Ruck seiner Hand schloß er den Schulsaal hinter sich wieder ab.

Florenze war da mitten in all ihrem Plunder und kauerte wie ein Häuflein Unglück in der Ecke einer Bank.

»Na, Alte, du bist wieder einmal unvorsichtig gewesen!«

Die Gepeinigte hob mühsam ihren Kopf. Die Haare waren ihr ausgerissen worden bei dem Trubel. Ganze Büschel hingen an ihr herum. Ein frischer Schnitt ging ihr über die Wange.

»Los! … Du kannst nicht gut hierbleiben … Ich will dich 'rauslassen.«

Doch sie hatte eine solche Angst vor diesem Mann – wie oft hatte sie ihm die Zunge herausgestreckt –, daß sie zurückwich und ihre Hände in den Falten ihres Kleides barg.

»Hör mal, Florenze, du darfst hier nicht die Wahnsinnige spielen.« Er merkte sofort, daß sie nicht betrunken war. »Ich bin dabei. Sie werden dich nicht anrühren. Weshalb fürchtest du dich vor mir? … Ich bin hier in meiner Amtsgewalt. Siehst du meinen Schild? … Meinst du, ich könnte meinen Eid mißbrauchen? … Komm, geh mit!«

Erst auf seine eindringlichen Vorstellungen hin hob die Alte den Kopf in die Höhe. Ihr entstelltes Gesicht aber wagte kaum, ihn anzusehen, dessen Rache sie jetzt mehr als je fürchten mußte.

Um rasch damit Schluß zu machen, faßte Augustin sie am Arm.

»Du wirst mich nicht im Stiche lassen!« bettelte sie. »Du mußt neben mir hergehen.«

Mit einem lauten Geschrei wurden sie empfangen. Die Rotte heulte trotz der Gegenvorstellungen einiger älterer Leute, die mit ihrer Stimme nicht durchdrangen. Aber die Alte kehrte sich nicht daran. Sie drückte sich eng an Augustin hin und hielt ihn mit der Hand am Rockzipfel fest, den sie nicht mehr loslassen wollte.

Wenn die Kinder, die sie umringten, zu sehr in ihre Nähe kamen, drehte sie den Kopf zur Seite und schloß die Augen wie eine Ziege, die den Stock niedersausen hört.

»Dem Laus sein Gewehr … Beiß ihn!« rief man ihr nach.

Sie aber murmelte alle zehn Schritte: »Du bist ein guter Mensch … Du bist ein guter Mensch.«

Bald waren nur noch die Tauben oben auf dem First der Strohdächer die einzigen Augenzeugen ihrer Flucht.

Augustin brachte seinen Schützling bis hin zur Inselspitze. Sicher hatte man noch nie ein ähnliches Paar miteinander gehen sehen. Er ließ sie reden, ohne ihr darauf eine Antwort zu geben. Ebenso störte es ihn wenig, daß sie am Ufer bei den Kähnen neuerdings wieder mißtrauisch wurde und sich weigerte, mit ihm zu fahren. Bei einer Rückkehr auf dem Landweg über die Heide kam sie erneut in Gefahr, in die Hände dieses Gesindels zu fallen, das jetzt Geschmack daran gewonnen hatte. Wollte er also ganze Arbeit machen, dann mußte er sie auf diesem Wege nach Hause bringen.

Ohne sich weiter um ihr Gewinsel zu kümmern, nötigte er sie mit sanfter Gewalt in sein Boot, stieg dann selber ein und fuhr ruhig zum Kanal hinaus.

 

Nun war auch das wieder zu Ende. Immer hat ja der Mensch dieses Gefühl, wenn ein Boot vom Land abstößt und aufs Wasser hinausfährt.

Augustin atmete so recht aus Herzenslust auf, als ihn der Friede der weiten, winterlichen Landschaft wieder umgab.

Schweigend fuhr der Kahn dahin, an den Nebelbänken entlang, die um diese Stunde, wenn der Tag abnimmt, von den Ufern aufsteigen.

Die Fahrt ging nicht rasch. Augustin träumte vor sich hin. Ihn beschäftigte jetzt mehr das, was fern hinter den Dämmen vorging, als die mechanische Arbeit mit der Ruderstange.

Florenze, die vorn im Schifflein saß, hatte, nachdem sie aus der ersten Gefahr heraus war, nurmehr Augen für dieses neue Abenteuer, da sie jetzt mitten auf dem Wasser wehrlos ihrem alten Feinde ausgeliefert war; und weil sie gerade durch sein Schweigen immer mehr in Angst geriet, versuchte sie, ihn zum Reden zu bringen.

»Du hast mir geholfen gegen diese Bestie.«

»Was für eine Bestie meinst du?«

»Alle sind Bestien«, gab sie zur Antwort, wobei sie ihn starr ansah.

Dann war wieder alles still.

Kein einziger Kahn ließ sich in diesem winterlichgrauen Wasserarm sehen, auf dem sie fuhren. Ihr Spiegelbild huschte über die schwimmenden Seerosenblätter dahin.

Zusammengekauert auf ihrem Sitz, murmelte Florenze ein Stoßgebet nach dem andern. Sie war sehr unruhig und maß den Abstand vom Lande, stets darauf gefaßt, wenn es sein müßte, sich am Schilf festzuklammern, um sich so ans nächstbeste Ufer zu retten.

»Leg hier an! … Ich will weiter zu Fuß gehen«, schrie sie, als sie in die Gegend des Schädelhügels kamen.

Aber Augustin hatte keine Lust, ihr diesen Gefallen zu tun.

Dieses arme Geschöpf fiel ihm ja gar nicht zur Last. Die da verschonte ihn wenigstens mit Fragen, ja er empfand ihre Gegenwart in seinem Boote fast wie einen Trost, je mehr er sich wieder in seine Einsamkeit zurückversenkte. Seine eigene Trübsal fand ein tröstliches Echo in dem Schmerze dieses Menschenkindes, soweit es überhaupt noch menschlich fühlen konnte. Es war doch noch etwas wie die Wärme eines winzigen Lämpchens, und deshalb hatte er es auch gar nicht eilig, das Weiblein da vor sich ans Land zu bringen. Er fuhr mit ihr weiter hinaus auf die See.

»Da drüben! … Dort ist es! … Du darfst nicht mehr weiter! … Ich will nicht! … Laß mich aussteigen!«

Denn jetzt wurde in der Ferne das Hünengrab sichtbar, das wie ein kleiner Erdhügel sich von dem leuchtenden Abendhimmel abhob.

»Gib doch Ruhe, Alte. Man wird dich wohl noch zu deinem Schlosse heimfahren dürfen.«

Da sank sie wieder ganz in sich zusammen, und furchtsam in ihren wirren Gedankengängen beobachtete sie mit gespanntester Aufmerksamkeit ihren großen Quälgeist Luzifer.

Nun waren sie bei den Tobiasgräben angelangt; auch den Roten Hügel ließen sie bald hinter sich. Endlich waren sie da.

Augustin legte an. Dieses Mal brauchte er wirklich nicht nachzuhelfen. Behende kletterte die Alte ans Ufer.

Als sie aber wohlbehalten in ihrer Wildnis angelangt war und von der Uferböschung aus sah, daß Augustin nicht mitkam, sondern ruhig in seinem Schiff blieb, da dämmerte auch ihr, daß er nur ihr Bestes gewollt hatte. Sie verdrehte ihre Augen, als sie merkte, daß er so ganz einfach wieder heimfahren wollte, fuchtelte mit den Armen und schrie:

»So kommst du mir nicht davon, du Hundesohn! … Du hast mir gegen die Bestie geholfen … Steig 'raus aus deinem Kahn! … Komm her! … Ich will dich belohnen.«

»Mich belohnen? … Was soll ich denn mit deiner Belohnung anfangen, du närrisches Ding?« grinste Augustin, der schon vom Ufer abgestoßen war.

»Steig aus, steig aus, sag ich dir!« schrie sie mit rotem Kopf. Ebenso eifrig, wie sie sich ursprünglich geweigert hatte, mit ihm zu gehen, suchte sie ihn jetzt zum Landen zu bewegen. Sie lief hinzu, beugte sich gefährlich weit über das schlammige Ufer vor, um das Boot zu ergreifen und festzuhalten.

Trocken gab er ihr zur Antwort:

»Du schreist ja wie die Krähe im ›Waldhänschen‹.«

Aber abgekämpft warf er die Ruderstange hin – er hatte ja Zeit und nichts weiter vor –, brachte sein Boot ans Land, stieg aus und ging scherzend hinter ihr her.

»Jetzt ist es noch zu früh für ein Schäferstündchen.«

Aber sie legte ihm die Hand auf den Arm:

»Red keinen Unsinn … sonst bist du ein schlechter Mensch.«

Das Hünengrab stand etwa zwanzig Schritt entfernt auf kargem Wiesenland. Es bestand aus ein paar aufrechtstehenden, alten Granitblöcken, die mit Balken, Blechstücken und Reisighaufen überdeckt waren. Er mußte sich bücken, um ins Innere zu kommen.

In dieser Höhle roch es kräftig nach getrocknetem Farn und alter Wolle. Viel konnte man darin nicht erkennen, nicht nur, weil fast kein Licht von draußen hereinkam, sondern auch wegen des Rauches, der von dem aus Lehm geformten Herd aufstieg. Der Raum wurde fast ganz von der Bettstatt versperrt – es war eigentlich nur ein Strohlager, das mit ein paar Brettern zusammengehalten war, eine richtige Stallknechtspritsche – sowie den zahlreichen Kisten und Kasten, die bis in den letzten Winkel neben- und aufeinander getürmt waren, und aus denen da und dort Fäden und tausenderlei andere seltsame Dinge herausschauten.

»Setz dich dahin!« sagte die Einsiedlerin, indem sie einen kleinen dreibeinigen Holzschemel, wie man ihn zum Melken braucht, hervorlangte.

Dann ging sie in den hintersten Winkel ihrer Höhle und kramte dort lange herum. Schließlich kam sie wieder zum Vorschein mit einer schlanken, braunen Flasche, die sie fest an sich drückte.

»Da nimm!« sagte sie. »Ein Glas hab' ich nicht … Trink aus der Flasche … soviel du magst … Du hast mich vor der Bestie in Schutz genommen.«

Augustin lächelte still vor sich hin. Er mußte über diese Florenze lachen, die ihn jetzt unterhielt und die so ganz anders war, als wie er sie sonst kannte.

Übrigens, dieser Rum da war nicht zu verachten. Er schnalzte mit der Zunge.

»Wo hast du denn den her?«

»Ich kenne mein Evangelium«, fing sie wieder zu reden an, ohne auf seine Frage zu antworten. Dabei machte sie ihm ein Zeichen, noch weiterzutrinken … »Ich kenne es … Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sagt der Heiland … Wenn du etwas Gutes tust, dann tue es nicht halb, sondern ganz …, dann wirst du auch deinen Lohn dafür erhalten.«

»Einen tüchtigen Schluck Rum?« schmunzelte Augustin.

»Ja, einen tüchtigen Schluck Rum … Alles, was du tust, tue ganz. Wenn die Frau zu dir sagt: Du brauchst mich nicht übers Wasser zu bringen, ich finde meinen Weg schon allein, dann läßt du sie in dein Boot steigen und nimmst sie in deinen Schutz. Wenn die Frau dir unterwegs sagt: Da ist meine Heide und mein Heim, ich bin da, du kannst wieder umkehren, dann gibst du ihr zur Antwort: Nein, du bist noch nicht ganz daheim, ich fahre dich bis vor deine Tür. Da sagt sich die Frau: Manchmal ist er ein böser Mensch. Er ist gar nicht gut zu seinen Leuten. Aber trotzdem ist er ein ganzer Christ … Er ist nicht tot wie die anderen … Schau, was diese Buben mit mir gemacht haben! … Sie haben mich geprügelt; sie haben mir die Kleider vom Leib gerissen … Nicht genug mit dem Unglück, daß ich mein Kind, mein liebes Kind, verloren habe … Hast du übrigens nicht auch eine Tochter, Augustin? … Da sieh her! …«

Sie griff hinter sich, brachte dann ein kleines Kästchen aus Sandelholz hervor, so wie es die Seeleute oft von einer weiten Reise mit nach Hause bringen, und stellte es ihm auf die Knie.

»Hier sind ihre Briefe, Augustin, die Briefe, die sie mir schrieb, als sie dort unten war … Keinem Menschen noch hab' ich sie gezeigt … aber dir …«

Augustin verspürte nicht die geringste Lust, seine Nase in diesen Haufen von Schriftstücken zu stecken. Seine Verschlossenheit allen übrigen Menschen gegenüber hätte ihn ums Haar dazu verleitet, den Kasten in die Ecke zu werfen und die Alte mit ihren Trauerreden allein zu lassen. Aber er wollte sich auch noch nicht von seiner Flasche trennen, dank der Wärme, die sie in seinen Eingeweiden verbreitete. Alles, was er soeben noch in seinem Kahn empfunden hatte, bewog ihn, dazubleiben, ebenso die große Aufgeschlossenheit der Verrückten nach all der früheren Feindschaft. Gar zu gerne wollte er sich noch einen Augenblick Rast gönnen.

»Sieh her«, sagte die Frau, »lies selbst, du kannst ja lesen … Wenn du dir die Briefe heute nicht anschaust, wirst du sie nie wieder zu Gesicht bekommen.«

Es war wirklich hübsches Briefpapier, lila wie Heliotrop und zart, mit Blümchen überstreut wie eine Frühlingswiese.

Augustin nahm einen Brief heraus, dann noch einen, während Florenze vor ihm am Boden kauerte und die Hände offenhielt, um jederzeit das Kästchen aufzufangen, falls es von den ungeschickten Männerknien heruntergleiten würde.

»Das sind wohl die Briefe, die dir deine Tochter geschrieben hat, als sie in Paris war?«

Da er gar nicht neugierig darauf war, sie zu lesen, vertiefte er sich in die Betrachtung der hübschen Mädchenköpfe, die oben die Blätter schmückten, und mit zerstreuten Händen wühlte er da und dort in dem Kästchen herum.

»Aber hier ist ja einer, der sieht ganz anders aus wie alle übrigen.«

Er zog ihn unter dem Stoß heraus, und wie er ihn herumdrehte und die Schrift prüfte, verfärbte sich mit einemmal sein Gesicht; er wurde leichenblaß. Man sah ihm deutlich sein Erschrecken an, wie wenn er im Spiegel einer Moorlache das Geheimnis der Mitternachtssonne entdeckt hätte.

»Großer, gütiger Gott! … Großer, gütiger Gott!«

Das war alles, was er herausstammeln konnte. Aber die dicken Aale mußten ihn gehört haben draußen am Bombardantufer.

»Großer, gütiger Gott!«

Er versuchte zu lesen, aber seine Augen verschleierten sich. Er bekam fast keine Luft mehr.

Unsere Teueren … und Vielgeliebten … Auf Beschluß Unseres Rates … Diese hier vorliegenden Akte … Gegeben zu Versailles.

»Großer Gott!« schrie er und richtete sich in ganzer Größe auf. »Da sind sie!«

Zu seinen Füßen lag ein zitterndes Häuflein Lumpen, und zwei himmelblaue Augen sahen liebevoll zu ihm empor. Es war das Gesicht einer greisen Eumenide, die seine große Erregung teilte.

Patentbriefe nach allerhöchstem Beschluß … für die Einwohner der Kirchspiele St. Joachim, St. André, St. Lyphard, Crossac, St. Reine in der Bretagne …

buchstabierte er mit gebrochener Stimme.

Wir, Ludwig, von Gottes Gnaden König von Frankreich und Navarra, an Unsere viellieben und getreuen Räte, Unsere Beamten und Richter, die zuständig sind, Unseren Gruß …

Die Stimme versagte ihm.

»Aber wie … wie kommst du dazu, Alte?«

»Mein Urgroßvater«, stammelte sie, »… Ange Algan aus St. André.«

Sie schnellte empor.

»Augustin!«

Sie stürzte sich auf ihn, als er soeben durch die Tür wollte.

»Um Gottes willen! … Um Gottes willen!«

»Ja was denn um Gottes willen?« stieß er hervor, indem er sich freizumachen suchte.

»Sag niemand etwas davon! … Verrat mich nicht der Bestie! … Sag nicht, daß ich es war! … Sie würden kommen und Feuer anlegen zu ihrem Vergnügen … Mir das Haus anstecken!«

Aber er war schon über alle Berge. Er lief davon, sprang ins Boot, er fühlte sich so leicht wie noch nie. Auch sein Kahn hatte jede Schwere verloren. Augustin waren Flügel gewachsen, und wie ein Vogel schoß er durch die Dämmerung dahin.

 

Ohne sich viel um die Richtung zu kümmern, fuhr er durch die Kanäle. Er wußte kaum, wo er war. Die Zeit, die Entfernungen, die Nacht, der Tag, die Wärme vom Rum, den ihm Florenze kredenzt hatte, das alles waren nur Teile eines Traumes in dem ungeheuren Glücksrausch, der ihn erfaßt hatte, so daß der Himmel voller Baßgeigen hing.

Zweifellos wäre er früher ohne weiteres nach St. Joachim gefahren, um seinen Fund vor den Augen des Bürgermeisters auszubreiten. Jetzt aber, nachdem er zu allem Überdruß noch so viel Bitterkeit hatte schlucken müssen, wollte er auch seine Freude allein genießen, ganz im geheimen, einerlei wo.

Die Ufer zogen vorüber und die ganze Brière, die mit ihren großen, fahlen Augen diesen flüchtigen Schatten vorbeihuschen sah.

So kam er ziemlich weit ab von seinem Wege, ganz in Richtung des großen Wasserarmes in der Gegend der schwarzen Erde hinten bei Noe. Hier rief ihm unvermutet eine bekannte Stimme von einem Boot aus ein lautes »Ahoi« zu.

Sofort hielt Augustin an, präsentierte seine lange Stange, wie es die Matrosen mit ihrem Ruder machen, wenn sie grüßen, und erwiderte: »Stopp! Die gesamte Marine nebst Zubehör grüßt gehorsamst!«

Das kam so laut und freudig heraus, das klang so übermütig, daß Herr Ulrich einen Augenblick glaubte, sich in der Dämmerung getäuscht und einen Ortseingesessenen für Augustin gehalten zu haben.

Der Ort hieß Bilac. Es war eigentlich nicht einmal ein Dorf, sondern lediglich eine Straßenkreuzung, an der einsam unter einer Ulmengruppe ein altes, strohgedecktes Wirtshaus stand.

Augustin hatte scharf gewendet. Die Begegnung kam ihm dieses Mal nicht ungelegen. Er war sofort dabei, denn er brauchte jemand, den er an seinem Glück teilnehmen lassen konnte. Mit der allergrößten Liebenswürdigkeit lud er den andern ein, mitzukommen und ihm in der kleinen Wirtschaft – Friedensarche sagte er dazu – Gesellschaft zu leisten.

Herr Ulrich hatte ihn noch nie so gesehen und schloß daraus, daß er mit seiner herkömmlichen Nüchternheit gründlich gebrochen haben mußte.

»Also los! Gehen wir, mein Lieber!«

Jetzt sagte er gar noch »mein Lieber« zu ihm.

Herr Ulrich nahm lachend die Einladung an, und so traten die beiden in die niedrige Gaststube ein und setzten sich ganz hinten unter die schwelende Lampe. Dann bestellte Augustin mit schallender Stimme eine große Flasche Wein. Dabei rieb er sich vergnügt die Hände, weil keine anderen Gäste da waren.

Diese schlecht erleuchtete Wirtsstube diente nämlich als geheimer Treffpunkt, wo sich meist zur Dämmerstunde so ein paar unsaubere Kaufleute wie zum Beispiel der dicke Quihen aus Herbignac mit jenen Inselbewohnern trafen, die gerne gegen klingende Münze ein paar bestimmte Sorten Federvieh eintauschten, das mehr oder weniger zu Unrecht erlegt worden war.

Natürlich wußte Augustin genau Bescheid, was in dieser Herberge vor sich ging. Aber aus Mangel an Vorurteil gegen diese Art von Vergehen vermied er es im allgemeinen, diese Leute dort in Verlegenheit zu bringen. Heute abend aber war er gar nicht wählerisch in bezug auf das Lokal. Seine Gedanken tanzten; er redete unaufhörlich, und sein großer Schatten bewegte sich dabei fortwährend an der Wand hin und her. Herr Ulrich hörte ihm zu und lachte beständig. Dabei stützte er gemütlich die Arme auf einen großen Feldhasen, den er auf seiner mit Federvieh gefüllten Jagdtasche festgebunden hatte.

Diese ungewöhnliche Heiterkeit machte ihn aber doch stutzig, und natürlich drängte sich ihm eine Frage auf die Lippen.

»Sie scheinen ja heute abend sehr gut gelaunt zu sein, Augustin?« sagte er; denn er vermutete, daß sich hinter diesem Rauschzustand etwas anderes als Weinseligkeit verberge.

Der Gedanke an die Briefe schoß ihm durch den Kopf; aber überzeugt davon, daß der andere ihm schon längst von einem solch wichtigen Ereignis Mitteilung gemacht hätte, legte er sich die größte Zurückhaltung auf bei seiner Frage, zumal er wußte, wie empfindlich der alte Freund der Julie in dieser Hinsicht war.

»Froh!« rief Augustin beim Einschenken der beiden Gläser, indem er übermütig die Flasche schwenkte, »froh, das ist gar kein Ausdruck dafür … Heute ist sogar der schönste Tag meines Lebens.«

»Der schönste Tag? … Das will was heißen. Was ist Ihnen denn zugestoßen?«

Augustin schob den Hut in den Nacken, rekelte sich gemütlich auf der Bank hin, stützte die Arme auf, den Kopf vorgelehnt, und kniff die Augen zu, so daß man meinen konnte, er habe just auf diese Frage gewartet.

»Was mir zugestoßen ist? … Das will ich Ihnen sagen … Ich habe mich heute als guter Christ benommen.«

Und das Kinn auf die gekreuzten Hände gestützt, genoß er mit funkelnden Augen das sprachlose Staunen seines Gegenübers.

»Sind Sie vielleicht beichten gewesen?«

»Ich begehe keine Sünden, die ich beichten müßte … Ich hab' es ja schon gesagt, daß ich eine gute Tat vollbracht habe, und daß es keinen Menschen auf Gottes weiter Welt gibt, der glücklicher sein kann als ich.«

Darauf fuchtelte er mit den Armen wie ein Wilder, gab seinem Fragesteller zu verstehen, daß er seine Neugier sehr wohl zu schätzen wisse, und begann im einzelnen aufzuzählen, was ihm alles bei der Festnahme des Laus passiert war: die Befreiung der Florenze, seine Gefälligkeit, sie nach Hause zu bringen, bis zu dem Augenblick, wo die gute Frau auf den Knien vor ihm, wie er sich ausdrückte, vor Dankbarkeit geradezu übergeflossen sei und unter Berufung auf das Evangelium ihm das Kästchen mit den Briefen ihrer Tochter ausgehändigt habe …

»So etwas, sag' ich dir, das ist gut wie Balsam fürs Herz … Jetzt ist endlich der Tag da, an dem ich mein Gelübde einlösen kann, das ich einmal gemacht habe: einen Tanz aufzuführen in bestimmten kleinen Stiefeln.«

Er schien wirklich nicht ganz zu wissen, was er sagte.

»Was für kleine Stiefel?« fragte Herr Ulrich.

»Ja, ja! … Seit vierzig Jahren warten sie schon darauf, halbverschimmelt, daß ich sie tanzen lasse zu Ehren des schönsten Tages meines Lebens.«

Er machte sich einen Spaß daraus, ihm sein Geheimnis unter die Nase zu halten, ohne es preiszugeben, und er sagte sich dabei: Augustin, heute abend behältst du es noch für dich … Noch zur Stunde wirst du sie beim Kerzenlicht abschreiben, die gewaltigen Dokumente.

Herr Ulrich machte große Augen. Er traute kaum seinen Ohren, als er hörte, wie dieser alte Luzifer sich seiner edlen Taten rühmte. Am liebsten hätte er laut aufgelacht; denn er fragte sich umsonst, ob Augustin ihn nur aufziehen wollte und ob die Bosheit, die aus seinen Augen funkelte, echter war als das große Leuchten in seinem Gesicht, das darin wie Feuergarben glühte, wie wenn die ganze Brière in Flammen stünde.

Gespannt verfolgte er das ungewöhnliche Mienenspiel in seinen Zügen. Nur mit halbem Ohr hörte er jetzt auf die Stimme, die ihm die Geschichte mit den kleinen Stiefeln erzählte: Wie er, Augustin, eines Abends zusammen mit einem Kameraden während des mexikanischen Feldzuges ins Land hineingegangen sei, beide mit ihren Gewehren bewaffnet, und wie sie dann auf einmal auf einem Kreuzweg mit dem Adjutanten des feindlichen Generals zusammengestoßen wären. Sie hätten ihn sogleich mit ihren Bajonetten durchbohrt und ihm mit Fußtritten alsdann den Rest gegeben. Nachher hätten sie ihn durchsucht, ihm zweihundertvierzig Francs abgenommen, aber etwa acht Francs in kleinem Geld aus Vorsicht gelassen. Sie hätten sich seines Pferdes bemächtigt und es mit sich ins Lager geführt. Zufällig sei ihnen ihr Hauptmann begegnet: Woher kommt ihr?! – Vom Markt. – Wo wird denn dieser Markt abgehalten? – Nicht weit von hier an einem Kreuzweg. – Na, da kommt mal mit!

Auf das hin, erzählte Augustin weiter, hätten sie ihren Kompaniechef hingeführt. Er leuchtete mit seiner Blendlaterne dem Erschlagenen ins Gesicht und sagte: Na, der ist wohl erledigt … Man muß nachsehen, was er in der Tasche hat … Acht Francs kleines Geld … Acht Francs, nicht mehr? Na, reich ist der nicht. – Scheint so, Herr Hauptmann … Aber auch das ist noch zu viel für ihn … Das Geld würde uns viel besser zustatten kommen. – Zwei Sous wenigstens wollte ihm der Hauptmann lassen. – Ach, Herr Hauptmann, sagte ich zu ihm, was hat er für schöne Stiefel an! Wie herrlich könnte man in diesen Stiefeln tanzen! – So nimm sie dir! – Ich bedankte mich bei ihm und versprach dabei, daß ich am schönsten Tag meines Lebens darin tanzen wollte.

»Allein«, setzte Augustin hinzu, dem es im Kopf so angenehm zu drehen begann, »weil so mancher Kamerad auf die Stiefelchen schielte, vertraute ich sie einer Landsmännin an, die sie mir gut aufhob.«

»Oh! Sie hatten eine Landsmännin dort gefunden?«

»Na und ob! Ich hatte da eine Landsmännin … und was für eine! … Das hab' ich Ihnen wohl noch gar nicht erzählt, daß ich da drüben mit einer Landsmännin bekannt geworden bin!« Ha, ha, fing er hell an zu lachen, während seine Augen in Glück schwammen. »Sie stammte hier aus der Gegend … Sie war den Truppen nachgezogen, um zu sehen, ob sie sich nicht als Marketenderin einiges Geld verdienen könnte … Sie war ganz glücklich darüber gewesen, daß sie mich fand … Ich hatte ihr eine Bude eingerichtet … Das Geschäft ging gut, so gut, daß meine Landsmännin dabei reich wurde … Ach, wissen Sie, heute noch, wenn ich daran denke! … Aber schließlich kam der Tag, da ich sie verlassen mußte … Nun, einige Jahre später, als ich in den Hafenanlagen von Marseille hinschlenderte …«

»Na, und da, Augustin?«

»Ja, was meinen Sie wohl, wer mir da begegnet ist? … Das macht mir heute noch immer zu schaffen … Wie ich also da am Quai hingehe, ruft plötzlich jemand meinen Namen: Augustin! Augustin! Ich drehe mich um, und wen sehe ich da vor mir, genau so wie jetzt Euch? Eine Dame mit einem Federhut, in einem Staat wie eine Prinzessin. Die sah mich an und lächelte mir zu: Wie, du kennst mich nicht? Du weißt nicht mehr, wer ich bin? – Ei, Donnerwetter, sage ich, so fein bist du damals nicht herausgeputzt gewesen!

Sie hatte sich in Marseille verheiratet und eine Matrosenkneipe gekauft. Aber ihr Mann war krank. Er war ein Säufer und auch ein Todeskandidat. – Wenn du zuwarten willst, Augustin, dann können wir eines Tages doch noch heiraten.

Und sehen Sie nun, wie das so geht. Ich hätte sie sehr gerne gehabt diese Frau. Ja, das ist wahr … ich hätte sie gerne gemocht. Aber so lange konnte ich es in der Stadt nicht aushalten. Als sie das merkte und sah, daß ich nicht festzuhalten war, sagte sie zu mir: Ich möchte aber doch, daß du ein Andenken von mir hast. Sie gab mir ein Goldstück zum Geschenk, ein Zwanzig-Francs-Stück. – Das ist jetzt lange her … Ach, schon so furchtbar lange …, daß es nur so nebelhaft verschwommen in meiner Erinnerung steht.«

Er zog seinen alten, abgewetzten Geldbeutel heraus.

»Sehen Sie, Herr Ohnesorg, das Geldstück ist noch immer da … Hier, langen Sie her! Ich habe es eingenäht in das Seitentäschchen … Das ist wie eine Reliquie für mich.«

»Und die Landsmännin?«

»Sie sind ja schön neugierig! Habe ich Sie schon jemals gefragt, ob es Ihnen gelungen ist, den guten Geruch aus dem Torf herauszubringen? … Die Landsmännin? … Die ist jetzt ganz auf den Hund gekommen … Sie kennen sie gut. Sie sehen sie alle Tage.

Na, was denn«, wunderte er sich, als Herr Ulrich erstaunt aufsprang.

»Nun ja … es ist Julie.«

Aber im gleichen Augenblick fuhr er sich mit der Hand über die Stirne; seine Zufriedenheit schien ihm vergangen zu sein. Er hatte zuviel ausgeplaudert. Das war ihm noch nie passiert in seinem Leben.

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ausgerechnet der dicke Quihen aus Herbignac kam herein, pflanzte sich geräuschvoll mitten in der Stube auf, rief mit weinfröhlicher Stimme nach der Wirtin und stellte sie zur Rede, warum sie ihm, ihrem besten Gast aus der ganzen Umgebung, nicht beim Aussteigen aus dem Wagen behilflich gewesen sei.

Der schlaue Fuchs hatte Augustin sofort erkannt. Um aber jeder indiskreten Frage auszuweichen, stellte er sich gleich so besoffen wie einer, der für seine Worte nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann.

»Du weißt doch, daß ich mir die Hand erfroren habe … Wart ein wenig, du kannst sie dir ansehen«, sagte er zur Wirtin, indem er einen langen Strumpf wegnahm, den er über den Arm gezogen hatte.

Aber als die Frau voller Ekel den Kopf abwandte, ließ er sich mit entrüsteter Miene so heftig auf den Stuhl fallen, daß er in allen Fugen krachte. Dann schob er sein breites, vom Wind gerötetes Gesicht von der einen Schulter auf die andere.

»Alle Leute hier in der Gegend sind Spitzbuben!« plärrte er. »Ich nehme es mit jedem auf; nicht umsonst bin ich der Stärkste hier im ganzen Land.«

Er schwenkte sein Glas hin und her, verschüttete den Wein auf seiner Bluse, goß den Rest in einem Zug hinunter, wobei er sich weit zurücklehnte.

»Jawohl«, sagte er mit einem verstohlenen Seitenblick auf Ulrichs Jagdbeute, »ich habe in meinem Leben viel Blut geschwitzt … Jawohl, ich habe viele Haare lassen müssen für alle anderen, und nun will mich keiner mehr kennen.«

»Oh, dich kenne ich ganz genau!« lachte Augustin grimmig.

»Ich glaube, ich kenne Euch auch«, gab der Mann zurück. »Ihr seid wohl der alte Levaillant aus Cabeno.«

»Halt, einen Augenblick!« verbesserte er sich, als Augustin die Achseln zuckte. »Ihr seid … ja, Ihr seid … der Augustin, der Aufseher von Fédrun. Dieses Mal hab' ich's erraten. Der seid Ihr; oder Ihr seid der, ganz wie man will. Ja, ja, Ihr seid es, der alle Häuser in der Gegend auf den Kopf stellt, um die alten, ruhmreichen Briefe der Brière wieder in die Hand zu bekommen … Meiner Meinung nach laßt Ihr sie besser dort, wo sie sind … Was tot ist, ist tot … Die Toten haben den Lebendigen keine Vorschriften mehr zu machen.«

»Ich weiß nicht, ob du besoffen bist oder ob du dich nur so stellst«, gab Augustin schlagfertig zurück, »aber wenn du schon von den Toten redest, dann möchte ich dich daran erinnern, daß das Gesetz gegen die Trunkenheit aus dem Jahre 1829 noch immer gültig ist, und daß du, wenn du weiter dagegen verstößt, immer noch von Karl X. eingelocht werden kannst.«

Kaum hatte er das gesagt, da ging die Tür nochmals auf, was ja nach Ankunft dieses Oberschleichhändlers nur zu verständlich war, aber diesmal sehr vorsichtig. Der neue Gast war kaum in die Stube getreten, da prallte er auch schon zurück, denn beim ersten Schritt funkelten ihm zwei Augen entgegen, die ihm Furcht einjagten.

Es war Jeanin, Jeanin Bukett in eigener Person.

»Donner und Doria!« schrie der dicke Quihen und drehte sich um. »Ihr scheint nicht zu wissen, daß ich mir die eine Hand erfroren habe, sonst würdet Ihr Eure Türe zumachen.«

Linkisch setzte sich Jeanin an das nächste Tischeck beim Ausgang in einer Haltung, der man seine große Verlegenheit ansah. Er wußte nicht, was er mit dem dicken Paket, das er versteckt unter der Bluse trug, anfangen sollte. Er drehte den Kopf nach der Seite und betrachtete aufmerksam die Wände zum größten Vergnügen Augustins, der seine diebische Freude daran hatte, wie er sich wandte und drehte. Er verstand sich sogar zu einem Schmunzeln, wobei seine spitzen Zähne zum Vorschein kamen, ähnlich wie beim Wolf in der Fabel.

»Selbstverständlich«, ließ der dicke Quihen sich vernehmen, der noch keinen Augenblick seinen Wortschwall unterbrochen hatte, »setze ich meinen ganzen Stolz darein, mich von niemand bedauern zu lassen.«

Der Korbmacher stürzte, ohne ein Wort dabei zu reden, in aller Hast sein Glas Weißwein hinunter und verschwand dann wieder, so schnell er konnte, aus dem Wirtshaus, wo er nichts mehr zu suchen hatte.

Er ging nicht weit. Mit ein paar Sprüngen war er über der Straße drüben, lief noch ein Stückchen und kauerte sich dann unter einer Baumgruppe nieder, die etwa dreißig Meter hinter einer lebenden Hecke stand und ganz im Dunkel lag.

Dort wartete er geduckt, schäumend vor Wut über das mißglückte Manöver und ärgerlich über diese neuerliche Demütigung, die sich seinen alten Wunden zugesellte.

Den Kaufmann Quihen sah er als ersten herauskommen. Er rührte sich aber nicht eher von der Stelle, bis der Dicke in seinem Wagen saß, was nicht so einfach ging. Aber bei der ersten Raddrehung schnellte er aus seinem Busch hervor.

»Pst! … Noch ein wenig weiter!«

Er gehorchte; dann preßte er sich an den Wagen, spähte vorsichtig herum und zog hastig unter seiner Bluse ein verschnürtes Paket hervor: zwei Enten und eine junge Gans.

Mit kundiger Hand ließ der dicke Quihen das Federvieh unter einer eigens für diesen Zweck vorgesehenen Wagendecke verschwinden und gleichzeitig eine Anzahl Münzen, die einen Augenblick lustig im Mondschein glitzerten, in die aufgehaltene Hand gleiten; denn es war nicht Sitte, bei dieser Art Geschäft zu feilschen.

»Was für ein verdammter Hund hat den gebissen, daß er ausgerechnet heute abend hier auftauchen mußte?«

»Ein ganz toller Hund, sicher!« gab der Bursche zurück, und ohne sich noch länger aufzuhalten, lief er barfuß, in jeder Hand einen Holzschuh tragend, auf dem gefrorenen Boden hin.

Wenn einer fünfundzwanzig Jahre alt ist und Haß und Liebe im Herzen trägt, dann spürt er seinen Körper nicht. Hinter dem Wirtshaus sprang er die Böschung hinunter, und wenige Augenblicke später fuhr er mit seinem Kahn in die Brière hinein, die an diesem Abend hell wie Silber strahlte, so daß man in der Ferne die kleinen Dörfer im leichten Nebel sah.

 

Seit dem Schimpf mit den blauen Vögeln hatte Jeanin keinen Schritt mehr nach Fédrun getan. Aber heute abend hatte er es ohnedies vorgehabt, einen Besuch zu wagen, und seine Arme regten sich um so herzhafter, weil er den alten Augustin noch dort im Wirtshaus wußte.

In weniger als einer Stunde legte er unterhalb des Hauses an und gab das verabredete Zeichen. Ein paar Augenblicke später kletterte er durchs Fenster hinein und schloß Theotist in seine Arme.

Beide schwiegen; denn zu groß war die Freude, sich wieder in den Armen zu halten, Augenblicke höchster Wonne im Leben der Liebenden, wenn sich die Lippen finden in leidenschaftlicher Erfüllung ihrer sehnsüchtigen Träume.

Die unverhoffte Freude hatte Theotist so gepackt und überwältigt, daß ihr unwillkürlich die Tränen kamen, was ihr aber dann im gleichen Moment wieder leid tat.

»Ich mache dir keinen Vorwurf … Ich zweifelte nicht an dir.«

»Es wird schon noch alles gut werden, Theotist, weine nicht! …«, und er drückte sie an seine Brust. Zugleich aber fiel sein Blick auf ein paar alte Kleider Augustins, die noch an der Wand hingen und mit ihrer ausgeprägten Schulterform jedesmal in ihm die Vorstellung an das hämische Gesicht weckten, das er soeben noch in der Wirtschaft gesehen hatte.

Er erzählte die Geschichte noch ganz außer Atem und das, was vorgefallen war.

»Es fehlte nicht viel, und er hätte mich gefaßt wie damals bei Langate! … Aber dieses Mal hätte er mir nicht das Fell über die Ohren gezogen … Oh, du kannst dir denken, was für einen grimmigen Haß ich auf diesen fürchterlichen Menschen habe.«

Sie schmiegte sich bebend an ihn, nicht mehr so lebensfroh wie einst; ihre Bewegungen waren müder geworden, ihre Liebkosungen inniger.

Für all ihre Liebe hatte er eine Gabe bereit, die er aus seiner Rocktasche hervorzog. –

»Er ist verwundet«, sagte er. »Er wird wohl eingehen … aber du kannst die Flügel aufheben.«

Es war ein Eisvogel, dieses prächtige Tier, das den Blitz abwendet, den Frieden in ein Haus bringt und die Liebe erhält mit all ihrer Schönheit.

Theotist faltete die Hände um das zarte, türkisblaue Gefieder des Schilfvogels, und in ihrem Blick, den sie zu Jeanin erhob, glimmte ein schüchterner Strahl von Hoffnung auf. Doch mußte sie ihn mahnen, nicht so laut zu sprechen; denn immer wieder stieg der Groll in ihm auf, kam der Haß zum Durchbruch.

»Meinst du, du könntest ihm eine Falle stellen? … Und wenn du dabei gefaßt wirst, ist's um dich geschehen.«

Zur größeren Sicherheit führte sie ihn in die Stube, da sie hier weniger in Gefahr kamen, gehört zu werden; denn ihre Mutter schlief nicht mehr dort seit Augustins Weggang.

Aber gleich fühlte sich Jeanin viel befangener im großen Familienzimmer, wo in der Stille das Ticken der Uhr so laut vernehmbar war, als wäre es der rauhe Widerhall von Augustins Stimme.

»Da ist das Geld«, sagte er ganz leise.

Es war schon das drittemal, daß er Theotist den Erlös aus seinem Geschäft mit dem Händler von Herbignac brachte; einmal um den Frauen beim Rückkauf ihrer Leintücher behilflich zu sein, sodann, um bei der Mutter einen Stein im Brett zu haben.

Theotist hatte sich auf die Kaminbank gesetzt und hielt den Eisvogel fest in den Händen. Mit ihren blauumränderten, weit geöffneten, goldenen Augen starrte sie vor sich hin ins Leere, als ob sie dort eine Vision sehen würde. Jeanin saß auf den Steinplatten zu ihren Füßen.

Auch sie hatte ja den Vater vor ein paar Wochen gesehen. Ihr unermeßlicher Kummer hatte ihr den Mut eingegeben, ihn in seinem Hause aufzusuchen.

»Ja, wirklich, Jeanin, ich habe ihm dabei die ganze Wahrheit gesagt … alles, was zwischen uns ist.«

»Warum hast du das getan?«

»Eine große Verzweiflung hat mich getrieben … Aber er hat mich hinausgeworfen … und jetzt habe ich so viel Angst … Oh, wenn du wüßtest, wie ich Angst habe!«

»Angst? Aber wovor denn jetzt?«

Denn ihm kam im Gegenteil dieses Band, das zwischen ihnen wuchs, sehr gelegen, weil er sich davon einen Erfolg für das Zustandekommen der Heirat versprach.

»Bedenk doch, daß uns nichts mehr trennen kann!«

»Ich werde dich verfolgen, hat er zu mir gesagt, bis in den letzten Schlupfwinkel … wenn das passiert«, setzte sie noch mit der gleichen angstvollen Stimme hinzu.

»Ihn sollte man verfluchen … Weißt du, Theotist, woran ich schon gedacht habe? … Kennst du die alte Quatrofunre in Mayun? … Hast du noch nichts von ihr gehört? … Die kann mancherlei … Sie kann auch in den Sternen lesen … Ein paar Worte genügen ihr schon, um alles, was eine Seele im Leib hat, zugrunde zu richten … Man müßte bloß mit ihr reden, Theotist«, fuhr er fort und rückte näher zu dem Mädchen hin, das mit geschlossenen Augen zuhörte. »Sie müßte dann einmal in einer dunklen Nacht an dem Weg vorbeigehen, wo er wohnt. Dort müßte sie sich vor die Tür stellen und einen Zauber sprechen … Und vielleicht hören wir dann eines Tages davon, daß wir endlich frei sind … Soll ich es versuchen? … Soll ich demnächst einmal zu ihr gehen? …«

»Oh, Jeanin … nein!«

»Laß mich machen … Du brauchst ja gar nichts davon zu wissen … nein, gar nichts … Ich sag' dir, so lange der lebt, betteln wir umsonst … Du wirst dein Brot in Tränen essen. Das ist alles, was du davon hast … bis er sich endlich zur Ruhe gelegt hat.«

»Nicht nur der Frau meines Bruders ist es schlecht gegangen«, sagte sie ängstlich, »auch ihr Kind hat der Fluch getroffen. Es wird zeitlebens ein Krüppel bleiben.«

»Wenn sein Fluch in Erfüllung gegangen ist, dann kann er auch von anderer Seite her in Erfüllung gehen.«

Aber sie schüttelte den Kopf, sie wollte nichts davon wissen. Er gab sich alle Mühe, sie umzustimmen. Als er jetzt aufstand, klammerte sie sich an ihm fest. Sie war wie von Sinnen bei dem Gedanken, daß er sie wieder allein lassen würde. Sie umarmte ihn. Jetzt schlug es Mitternacht; da endlich löste sie ihre Arme von ihm los.

Sie ließ ihn nicht durchs Fenster hinaussteigen, weil es knarrte, wenn man es öffnete, sondern schloß ihm die Türe nach dem Gäßchen auf.

Die Nacht zwischen den Häusern da draußen war eisig kalt. Der Mond schaute gerade zur Hälfte über das Strohdach am Nachbarhaus.

»Es wird hell sein auf dem Wasser … Du mußt Obacht geben, wenn er heute abend in Bilac war … Am besten, du fährst nicht durch den Eckgraben.«

Ein letzter Kuß noch, dann stürzte Jeanin fort, einem großen Nachtvogel ähnlich, der plötzlich aus einem Mauerwerk auffliegt.

Kaum hatte jedoch Theotist die Türe hinter sich geschlossen, da hörte sie auch schon einen Lärm von draußen herein, dumpf und unheimlich, wie wenn sich der Sturmwind im Trichter des Rauchfanges verfängt.

Sie stürzte an die Tür, und wirklich, auf dem Weg da draußen wälzte sich etwas von einer Mauer zur andern, wie wenn ein fürchterliches Tier losgelassen wäre. Es drehte sich in der Dunkelheit hin und her und wühlte den Boden auf. Keinen Laut gab dieses Ungeheuer von sich; man hörte nur ein wütendes Schnauben wie von einem Stier, der plötzlich wild geworden ist.

Sie zündete eine Laterne an und lief hinaus, um nachzusehen.

Das Tier, das aus einem wilden Durcheinander von Männerkörpern bestand, keuchte wild. Arme, die wie Keulen aussahen, fuhren in die Luft und schlugen unaufhörlich auf einen festen Mittelpunkt ein, aus dem Jeanins zerzauster Kopf für Augenblicke auftauchte.

Sie bebte vor Aufregung und wollte sofort in den Streit eingreifen. Dann aber überlegte sie, daß sie ihrem Geliebten am besten dadurch zu Hilfe kommen könnte, wenn sie den Strahl ihrer Laterne voll auf das Gesicht seiner Feinde richtete. Und wirklich erwies sich ihr Licht als die beste Waffe. Wie toll bewegte sich der Haufen in hastigen Stößen von einer Mauerseite zur andern wieder auf das Augustinsche Haus zu; und zu ihrer großen Freude sah sie eine mächtige Faust auf ein paar Gesichter einhauen, die ihr bekannt waren, das vom Bellemarche, vom Palü, der den Spitznamen »Handel« hatte, vom Katzen Jörg, vom Orangenfritz und vom Nasenhans.

Die Rotte dampfte wie ein frischer Misthaufen. Theotist achtete nicht darauf. Sie biß die Zähne zusammen und beugte sich über die Streitenden nieder.

Ihre Laterne erhielt einen Stoß und ging in Scherben. Sie holte eine andere, und als sie dann wieder mit hochgerecktem Arm auf ihrem Posten stand, merkte sie nicht, wie ihre Mutter, die durch den Lärm aufgewacht und in Strümpfen heruntergekommen war, sie aus ihrem Versteck hinter der Tür am Schal zog.

Obwohl Jeanin stark genug war, um eine Kuh niederzuzwingen, hatte er doch gegen seine fünf Widersacher einen allzu schweren Stand. Zwei hatte er zwar schon außer Gefecht gesetzt, aber den Hieben der drei anderen war er schließlich doch nicht gewachsen, und Theotist sah, wie er zusammenbrach und seine Angreifer das Weite suchten.

Sie stürzte zu ihm hin:

»Jeanin!«

Taumelnd richtete er sich auf.

Sie versuchte ihn zu stützen, doch er schob sie weg, machte ein paar unsichere Schritte und verschwand um die Ecke.

Sie lauschte, aber sie hörte ihn nicht mehr.

Da ging sie ins Haus.

Jetzt vermißte sie ihren Eisvogel; und ohne sich um das empörte Gesicht ihrer Mutter zu kümmern, leuchtete sie mit ihrer Laterne alle Winkel ab, bis sie ihn endlich unter einer Treppenstufe entdeckte. Hastig packte sie zu und lief dann verstört in ihr Zimmer. Den Vogel nahm sie mit.

 

Augustin, der ganz in der Nähe war, ging auf seinem Uferweg heim. Er hatte sich also nicht getäuscht, als er sich in Bilac sagte, daß der Korbflicker den Abend wohl dazu benützen würde, um sich nach Fedrun zu schleichen. Und so war er einen Augenblick am Kreuzweg stehen geblieben, um sich zu vergewissern, ob die Burschen ihren Auftrag auch ordentlich ausführen würden. Dort hatte er dann auch den Lärm dieser von ihm so geschickt eingefädelten Rauferei mit angehört.

Aber etwas ganz anderes ließ heute abend sein Herz höher schlagen, etwas, was nicht so erbärmlich war als die paar Prügel auf dem Rücken eines Mayuner Burschen … Wovon er sich noch am Abend einen Heidenspaß versprochen hatte, das kam ihm nun vor wie ein alberner Faschingsscherz. So ließ er der Sache, bei der er ohnedies seine Interessen in so guten Händen wußte, ihren Lauf. Er kehrte der Geschichte den Rücken wie ein Raubtier, das seine Beute, zur Hälfte verzehrt, liegen läßt. Er hatte es eilig, sich mit seinem kostbaren Schatz einzuschließen, und so ging er heimwärts am Rande des Wassers entlang, wo alles vom silbernen Mondlicht fast so hell dalag wie am Tage.

Der Rum, den er im Hünengrab getrunken, der Wein, den er in der Herberge zu sich genommen hatte, alle diese ziemlich mit Alkohol geschwängerten Weiheopfer, mit denen er sein Abenteuer begossen hatte, machten ihn ein wenig benebelt. Wohl sah er noch klar, und auch sein Gang war aufrecht und sicher.

Wie herrlich diese Nacht! Die ganze Erde schien in weißes Licht getaucht …

Voller Bewunderung blieb er stehen. Dabei wiegte er unwillkürlich den Kopf, so daß die silberhelle Reiherfeder lustig hin und her schwankte, und lächelte zu den Sternen hinauf, die aus dem unermeßlichen Himmelsraum so hell und rein auf ihn niederstrahlten.

Und erst der Mond … der Brièrestern, wie er ihn immer nannte.

Voller Seligkeit schaute er heute abend zu ihm auf. Dann ließ er seinen Blick an sich selber heruntergleiten und konnte sich nicht genug wundern über soviel Licht, das von der großen Leuchte da droben über seine Ärmel rieselte.

So froh war heute alles gestimmt. Es war, als ob hoch da droben im eisigen Weltenraum Glocken läuten würden, ganz wie an Weihnachten, wo die Geburt des Jesuskindes ja auch aus Himmelshöhen zu uns kommt.

Das Gras blendete schier … Die Blätter leuchteten … Die Schilfhalme glänzten … und über ihre weißbereiften, silbernen Ähren erhoben sich zarte, dunstige Gestalten, die sich umschlungen hielten und über das Wasser hinschwebten; das waren die Inselnixen, diese Holden mit ihren wallenden Schleiergewändern, die beim Glanze der schönen Nacht über die Weiher tanzen und ihre Reigen ausführen, als jagten sie verliebt hinter unsichtbaren Schmetterlingen her.

Sie winkten ihm, sie riefen ihm zu, er hörte ihre Stimmen: »Sei treu deinem Schwur! Komm, tanze mit uns, du guter Alter von der Brière!«

Dort vorne wallten und wogten sie in märchenhafter Deutlichkeit. Aber er hätte ihnen nicht folgen können, er spürte seine Beine nicht mehr. Ein eiskalter Schauer ging ihm über den Rücken.

Auch seine Hütte war ganz in Licht gebadet. Wie sie so dalag, wirkte sie auf ihn wie ein diamantenes Schlößchen; und als er sich nun dort eingeschlossen hatte und aus seiner Brusttasche dieses zerfranzte und arg mitgenommene Papier – geradezu das Skapulier der Brière – herausgezogen hatte, um es zu betrachten, da war es ihm, als sei der Zauber noch nicht zu Ende, als leuchteten ihm mehr als hundert Kerzen.

Patentbriefe nach allerhöchstem Beschluß … für die Einwohner der Kirchspiele der Brière in der Bretagne. Wir, Ludwig, von Gottes Gnaden König von Frankreich und Navarra …

So hielt er sie nun doch in Händen, die berühmten Dokumente. Jetzt hatte er sie hier in seinem kleinen Häuschen, diese Briefe, die ja nicht nur eine Schenkurkunde waren, sondern sein unaufhörlicher Traum, der ihn um so mehr verfolgte, je unerreichbarer sie für ihn gewesen waren.

Große Schweißtropfen rannen ihm über den ganzen Körper. Aber es war die Folge seiner inneren Erregung, die Genugtuung darüber, daß er sie, wie er es sich geschworen hatte, jetzt zunächst ganz allein in ihrer Echtheit genießen konnte, während ringsum alle hinter ihren Vorhängen schliefen.

Jetzt wollte er den Inhalt festhalten. Jawohl, bevor er sich davon trennen würde, mußte er sich auf einem großen Blatt Papier eine Abschrift davon machen, die er dann in seinem Notizbuch aufheben würde bis an sein Lebensende.

Kaum daß er sich recht Zeit ließ, ein hartes Stück Brotkruste hinunterzuwürgen, machte er sich, auf die beiden Ellenbogen gestützt, sofort an die Arbeit. Er schob das Dokument ganz nahe unter die Lampe und hatte den Kopf so tief auf das Blatt geneigt, daß er mit dem einen Ohr fast das Tintenfaß berührte. Lustig flackerte das Torffeuer, und alles lag in tiefem Schweigen. Es war das Schweigen der ganzen Brière, das Schweigen von mehreren Jahrhunderten, ja fast einer ganzen Ewigkeit. Nur das leise Kratzen seiner Feder war zu hören.

… von Gottes Gnaden König von Frankreich und Navarra entbieten Unseren geliebten und getreuen Räten, den Vorsitzenden Unseres Parlamentshofes der Bretagne und allen Unseren übrigen Beamten und Sachwaltern, welche hier zuständig sind, Unseren Gruß.

Unsere Treuen und Viellieben, die Bewohner der Kirchspiele der Brière in der Bretagne haben Uns untertänigst angelegen, ihnen Patentbriefe zu gewähren, deren Ausfertigung Wir nach Anhörung Unseres Rates beschlossen und anbefohlen haben, gemäß der Sitzungsprotokolle vom 13. Januar laufenden Jahres, in der Absicht, ihnen die Nutznießung und den Inhalt besagten Beschlusses gnädigst zukommen zu lassen.

In diesem Sinne und gemäß dem Dafürhalten Unseres Rates, der besagten Beschluß vom 13. Januar laufenden Jahres, wovon ein Auszug unter dem Gegensiegel Unserer Kanzlei hier beigefügt ist, gebilligt hat, haben Wir aus Unserer besonderen Gnade, Machtbefugnis und königlichen Gewalt verfügt und bestätigt, und mit gegenwärtig gegebener, eigenhändiger Unterschrift verfügen und bestätigen Wir, daß besagte Einwohner und das ganze Volk der Brièrer Kirchspiele in seiner Gesamtheit in gemeinem und öffentlichem Eigentum, Besitz und Nutznießung besagter Brière, sowie auch allen übrigen Geländes, enthaltend Torfgrund und brennbare Scholle, sofern dasselbe zwischen und in besagten Kirchspielen liegt, verbleiben …

Er hielt inne, verschnaufte ein wenig und verglich die Schriften. Mit keinem König hätte er jetzt tauschen mögen, so glücklich war er. Der Federhalter in seiner Hand wog das Lilienzepter des Königs Salomon auf.

… Zwischen und in besagten Kirchspielen liegt, verbleiben. Wir verordnen ferner durch Gegenwärtiges, sie möchten auch fürderhin dort frei sich bewegen, ihr Vieh treiben und weiden lassen, Torf stechen und nehmen für ihre Heizung, Schilf schneiden zum Decken ihrer Häuser und zur Streu für ihr Vieh und alles dessen als unbeschränkte, freie Eigentümer genießen für die Zukunft wie in der Vergangenheit, ohne von irgend jemand in irgendeiner Weise behindert werden zu können. Wir verbieten ferner durch Gegenwärtiges allen Lehensherren und Privatpersonen, sie darin zu stören, aus welchen Gründen und unter welchen Vorwänden auch immer; verbieten gleichermaßen allen Personen, welchen Standes sie auch immer seien, irgendeinen Teil des Torfmoores sich anzueignen, zuzuschreiben, ihrem privaten Vorteile zuzuwenden, zu mindern, zu stören, zu schädigen, abzusperren oder absperren zu lassen, sowie die Zu-, Aus- und Durchgänge daselbst, in welcher Weise es auch sei, zu behindern und zu verengen …

Und diese schreckliche, alte Hexe, die sie allein noch hatte, hätte sie für sich behalten ohne die Geschichte mit dem Laus, der ihn ahnungslos mit diesen Rüpeln zusammengebracht hatte. Merkwürdig! Eine bessere Schicksalsfügung hätte es für ihn überhaupt nicht geben können.

Los, weiter, Augustin!

Verleihen ferner durch Gegenwärtiges den königlichen Richtern von Guérande alle Vollmacht, Gewalt und Auftrag, zu wachen und zu sorgen für Erhaltung und Schutz besagter Brière, desgleichen für den guten Zustand, Freiheit und Pflege der Straßen, welche dorthin führen, sowie für die ordnungsgemäße Ausbeutung und Nutznießung desselbigen Landes; ferner auch in erster Instanz und unbeschadet der Appellation an Unseren Parlamentshof in der Bretagne über die Streitigkeiten zu befinden, welche betreff besagter Brière entstehen könnten. Tragen euch auch auf, gegenwärtige Briefe zu registrieren und besagte Ansucher in vollen und friedlichen Genuß und Gebrauch des Inhaltes zu setzen, sowie jedweder Störung und Hindernis Einhalt zu gebieten und gebieten zu lassen, denn so ist Unser Wunsch. Gegeben zu Versailles am achtundzwanzigsten Tage des Januar im Jahre des Heils eintausendsiebenhundertvierundachtzig und im zehnten Unserer Regierung.

Gezeichnet: Ludwig.

Es war derselbe, den sie später hingerichtet hatten.

Nur dreimal hatte sich Augustin verschrieben. Er las es noch einmal, las es immer wieder. Er konnte sich nicht satt sehen daran. Manche Ausdrücke verwirrten ihn zwar ein wenig, aber die anderen Stellen waren um so herrlicher:

Auszug unter dem Gegensiegel Unserer Kanzlei …

Diese wunderschöne Redensart ließ ihn an einen Hermelinpelz denken mit einer Krone aus Purpur und Gold darüber. Die dreizehn Hektar waren ganz überstrahlt davon.

Laut und amtsmäßig wie ein Notar wiederholte er die Worte: öffentlichem Eigentum … Besitz … Nutznießung.

In seinem Kamin saß er jetzt und träumte vor sich hin. Er träumte von seinem Triumph. Alle würden sie ihm zujubeln. Man würde ihm den Ehrentrunk anbieten, und ein jeder wird von ihm sagen, daß er ein ganzer Kerl wäre.

Unaufhörlich wälzte er seine Gedanken. Es ging ihm wie ein Mühlrad im Kopf herum … Zum Schlafengehen hatte er jetzt keine Lust … Wie könnte man auch eine solche Nacht unter der Bettdecke zubringen!

Aber weil er doch ein wenig getrunken hatte, sank ihm der Kopf immer tiefer auf die Knie nieder. Er richtete sich wieder hoch. Die Augen fielen ihm zu; er riß sie wieder auf. Sie fielen ihm wieder zu; und das Gesicht des Königs von Frankreich fing an, sich sonderbar mit dem des Bürgermeisters von St. Joachim zu vermischen.

… Die Flämmchen seines Torffeuers bewegten sich in seltsam gewundenen Linien … Sie geisterten über die Dinge hin wie Irrlichter, die manchmal am Schnabel der Boote aufflackern … Ihr Tanz wurde immer bewegter und ausgelassener. Jetzt sprangen sie durch die Luft und hüpften oben an der Decke herum … Die Wände der Hütte konnten ihnen keinen Einhalt mehr gebieten. Sie breiteten sich über die ganze Nacht hin aus. Sie machten große Luftsprünge über die weiten Flächen eines dunklen Weihers, sprangen zwischen schwarzen Baumstämmen hin, die im Sumpfwasser herumschwammen … Jetzt hatten sie gar noch feurige Gesichter und feurige Hände … Sie waren ein ganzes Volk winziger Geister, die zu Tausenden herumschwirrten, die die Bäume anpackten und sie in den Schlamm versenkten. Und während sie so ringsherum ihre fleißigen Fingerlein regten, brachten sie in einem Nu die langsame Arbeit von Jahrhunderten zustande.

Er selbst war jetzt nicht mehr in seiner Hütte; er watete ebenfalls in diesem Morast herum, nicht im mindesten erschreckt oder befremdet, mitten zwischen den Kobolden, die ihm gar nichts zuleid taten, ja anscheinend von seiner Anwesenheit keine Notiz nahmen.

Die einen glitten auf der Oberfläche des Wassers dahin und warfen dort tausenderlei Zeug ab: welkes Laub, dürre Äste und Gestrüpp. Und alles zersetzte sich im Augenblick und verweste zusehends, während zu gleicher Zeit diese klebrige Masse immer fester wurde und in Humus überging, der wie Traubenmaische aussah, aus dem dann beim Brausen des Windes Schachtelhalme, Binsenstauden und Farnkräuter hervorschossen.

Wieder andere waren wie Grubenarbeiter oder Taucher in die Tiefen des Wassers hinabgestiegen und werkelten dort nicht weniger emsig. Unablässig rührten sie den schweren Schlamm um, und von diesem fortwährenden Umrühren begünstigt, wuchs eine borstige Fauna empor, ein Gewirr von Wasserpflanzen, Torfmoos, Lieschgras, Binsen, Riedgras, Schachtelhalmen, Knopfgras usw., die aber auch mit wunderbarer Schnelligkeit wieder verwesten. Aber unaufhörlich kletterten andere empor, die aus dem schleimigen Gemisch der abgestorbenen Pflanzenteile ihre Nahrung zogen, dann selber vergingen, aber dadurch den heillosen Wirrwarr noch vermehrten.

Schließlich suchten sich diese wuchernden Triebe durch das Wasser hindurch mit der oberen Pflanzenwelt zu vereinigen. Das Riedgras umschlang mit seinen Spitzen die Wurzeln des Schilfrohrs; tausend Arme tasteten empor, um dieses gegenseitige Ineinanderwuchern vollständig zu machen. Aber auch das ging wieder in Fäulnis über. Ein klebriges, schwammiges Gewebe entstand, das die Feuchtigkeit einsog und seine Poren damit füllte, pechschwarze Verwesung, die dunkle Ursprungsgeschichte der zukünftigen Torfscholle.

Er rang nach Luft. Er war gefangen in diesem heißen Brutofen. Die Schlingpflanzen rankten sich um seinen Körper. Er hatte nicht mehr Kraft genug, diese unterirdischen Wände zu sprengen, die sich immer wieder neu um ihn schlossen; und er flehte die Quellen an, die rings um ihn zornig aufwallten und sich nach oben einen Ausweg suchten, indem sie gleichsam wie mit einer Schulter Rasenkuppen emporhoben, bis die aufgeblähte Kruste schließlich da und dort nachgab. Befreit sprudelten die Quellen empor und liefen zu einer weiten, ruhigen Wasserfläche zusammen; und da draußen, da war dann das Tagesgestirn, die Sonne, die auf die großen Seen mit ihren schwarzen Ufern herabschien.

Ein betäubender Lärm, heisere Schreie, schrille Rufe begrüßten das Erscheinen dieser schimmernden Wasserfläche … Es waren die Wasservögel, ein unabsehbares Gewirr von Flügeln, die alle herbeigekommen waren: Eisvögel und Knäckenten, Wasserhühner und Rohrdrosseln, ein ganzer Vogelschwarm, in dem alle Arten vertreten waren … Die Kiebitze flogen herum in höchstem Taumel, und zu Hunderten kletterten die Taucher auf die Schilfrohre, die unter ihrem Gewicht fast abknickten. Die Sumpfrallen stellten ihre Schwänze und flogen im Zickzack über die schwimmenden Blätter hin, wobei sie ihr »wuitt-kriock, wuitt-kriock« hören ließen. Die Teichrohrsänger musizierten auf ihrer kristallenen Flöte. Die stämmigen Rohrdommeln pickten nach Blutegeln und ließen dabei ihr düsteres »übrumb, übrumb« vernehmen.

Dann war auf einmal eine große Stille, wie wenn das ganze Vogelgelichter auf ein bestimmtes Zeichen hin sich verzogen hätte, und ein großer Reiher stolzierte langsam, als ob er seine Schritte zählen würde – »kraäk, kraäk« –, ins Wasser hinein bis an die Gelenke und fing zu fischen an. Er fischte nach Art aller Reiher, den Hals gebogen, die Schnabelspitze dicht an der Oberfläche des Wassers. Plötzlich ließ er seinen Hals losschnellen, faltete die großen blauen Flügel auseinander und zog aus dem Schlamm statt eines Fisches die fast zur Unkenntlichkeit entstellten Patentbriefe heraus. Er hatte sie aus den Tiefen des Sees aufgefischt, und nun schüttelte er die traurigen Fetzen wie einen lehmbeschmutzten Frosch.

Verstört fuhr Augustin aus seinem Schlaf auf; und während er sich noch wunderte, wie er überhaupt hierher auf seine Bank gekommen sei, huschte schon das erste Frührot über die Scheiben.


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