Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Die Ankunft des Wagens war ein großes Ereignis; denn kaum war er in der Dorfstraße aufgetaucht, da standen auch schon alle Frauen unter der Haustür.

Im Chat-Fourré hielt er an; ein Gesicht, das ganz unter einem Tuch verborgen war, neigte sich aus der Wagenöffnung heraus. Ein Bündel folgte, und die Frauengestalt stieg so rasch vom Trittbrett herunter und verschwand im Haus, daß die Nachbarn nur gerade noch die Tür ins Schloß fallen hörten. Aber schon posaunte die Capable, deren Augen wachsam auf ihrem Posten waren, wie es sich gehörte, die große Neuigkeit aus, daß Theotist zurückgekommen sei, so mager, daß man sie kaum mehr kennen würde, und so häßlich, daß es zum Fürchten wäre.

 

Frau Nathalie saß gerade bei ihrer Arbeit in der großen, dämmerigen Stube. Der Hund lag neben ihr. Schon die ganze letzte Zeit ließ sie sich nirgends mehr blicken. Sie führte nur noch ein Schattendasein. Das Unglück Augustins, zumal der Anblick seines abgezehrten Körpers auf dem Schmerzenslager nach seiner Verwundung, hatte ihr, wie sie zu sagen pflegte, den »kostbaren Schatz der Erinnerung« wiedergeschenkt. Bei seiner Entlassung aus dem Spital hatte sie ihn erwartet in der festen Überzeugung, daß er zu ihr zurückfinden werde, nachdem der Tod so hart an ihm vorbeigegangen war. Zieht es den Menschen schließlich nicht immer wieder dorthin zurück, wo er den größten Teil seines Lebens zugebracht hat? Aber leider hatte er den vorgezeichneten Weg verschmäht. Er war wieder in seine armselige, einsame Behausung zurückgekehrt, und so mußte sie auch diese neue Enttäuschung wieder einmal Gott aufopfern. – Die Verhaftung Theotists hatte ihrer Mutterliebe eine schwere Wunde geschlagen. Vielleicht dachte sie dabei weniger an den Fehltritt, den man Theotist zur Last legte, als an die Tatsache, daß Gott sie offenbar im Stich gelassen und nicht eingegriffen hatte, um sie zu retten. Das Jesuskind, das einst im Schilf mit ihr gespielt hatte, nahm sich jetzt nicht mehr seines Schützlings an und überließ sie den Fesseln des Bösen. Ja, sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß dieser Verlust der göttlichen Huld in jener entsetzlichen Blutnacht seinen Ausgang genommen hatte, damals, als sie am Morgen darauf ganz verstört, mit allen Anzeichen eines Verbrechens heimgekommen war.

Nathalie war sehr unglücklich und betete viel.

Beim Anblick ihrer Tochter, auf deren Rückkehr sie nicht gefaßt war, preßte sie die Hand aufs Herz. Sie brachte kein Wort heraus. Sie zitterte und sah mit großen, erschreckten Augen auf die armselige, heruntergekommene Erscheinung.

Theotist, die regungslos an der Tür lehnte, erging es kaum besser. Sie wußte nicht, ob sie zur Mutter hingehen und sie umarmen sollte. Kein Wort wurde zwischen ihnen gesprochen; nur der Hund erhob sich von seinem Platz am Herd und lief schweifwedelnd zu dem Mädchen hin.

Dann ging Frau Nathalie, ohne daß der schmerzliche Zug um ihre Lippen auch nur für einen Augenblick gewichen wäre, mechanisch wie ein Uhrwerk zum Backtrog, holte einen Laib Brot heraus, stellte eine Flasche und einen Teller mit ein paar kalten Resten auf den Tisch, und mit dem gleichen traurigen Blick sagte sie zu ihr, wobei ihr das Sprechen schwer fiel: »Bitte Gott um Verzeihung!«

»Gott hat mir verziehen«, erwiderte Theotist müde und leise, ohne das aufgetragene Essen anzurühren. »Ich bin nicht so schuldig, wie Ihr glaubt.«

Sie senkte den Kopf, als ob sie gleichsam die Schatten der Erde zum Zeugen für die Wahrheit ihrer Worte anrufen wollte.

»Wie wünschte ich, daß es so wäre, Theotist!« gab Nathalie rührselig zur Antwort mit einem Blick gegen den Himmel.

»Ach!« schrie das Mädchen auf, und ihre Brust wogte vor Erregung. »Ihr habt noch immer Eueren scheußlichen Verdacht? Ihr fragt Euch noch immer, was ich wohl in jener Nacht im Moor trieb, als der Vater angeschossen wurde … Aber ich hab' es Euch ja schon so oft gesagt.«

»Theotist!«

»Wenn ich Euch doch versichert habe und immer wieder versichert habe, Mutter …, daß ich in jener Nacht bei Florenze gewesen bin!«

Bei Florenze? Für diese sonderbare und wirre Geschichte war kein Platz in Nathalies Kopf, und auch jetzt machte sie ein so zwiespältiges, unglückliches Gesicht, daß Theotist sich in stummer Verzweiflung auf den Stuhl sinken ließ.

»Glaube nicht, mein Kind, daß ich dich aus meinem Herzen verstoßen habe … Du bist mein Kind … Gott hat dich mir geschenkt … ja … Als du weg warst«, fuhr sie mit unterdrücktem Schluchzen fort, »habe ich mich nur noch mühsam aufrecht halten können. Ich konnte nichts mehr tun. Ich habe fort und fort an dich denken müssen; immer war ich in Gedanken bei meinem armen, lieben Kind … Jeden Morgen hab' ich dich von allem Verdacht reingewaschen.«

Sie schob das Messer näher hin und den Brotlaib.

»Ist das dein Bündel da? … Ist das das Zeug, das du angehabt hast … dort?«

Theotist nickte zustimmend.

»Gib! … Gib her! … Man muß das alles beiseite schaffen.« Sie ging hinaus und nahm das Paket mit. Gleich darauf roch es in der ganzen Hütte nach verbrannten Lumpen, während Theotist noch immer regungslos mit hängenden Armen und schlaffem Körper auf dem Stuhle saß.

Schweigend verlief der Rest des Abends. Nathalie ging und kam mit ihrem Licht. Theotist wechselte ihre Kleider, um den Gefängnisgeruch, der sie anwiderte, loszuwerden. Auch sie ging herum wie ein Gespenst. Bald war sie auf dem Speicher, bald in ihrem Dachzimmer. Ihre verstörten Augen schienen etwas zu suchen. Als die Nacht hereingebrochen war und ihre Mutter sich ins Bett gelegt hatte, stand sie, da sie sich nicht entschließen konnte, schlafen zu gehen, auf einmal wieder, ohne es zu wollen, vor dem kleinen Fenster nach dem Garten zu, wo sie früher so häufig die Freuden und Qualen der Liebe durchkostet hatte.

Sie öffnete es und atmete die Luft ein, der einzige ungetrübte Genuß, den ihr das Leben noch gönnte, und ihr sehnsuchtsvoller Blick, in dem sich ihr ganzes Herz ausschüttete, haftete an den kleinen Blättern der Pappeln, die sich so friedlich von dem dunklen Nachthimmel abhoben.

»Oh, mein Gott, hab Mitleid mit mir! Es war ja nur die Furcht … die Furcht vor seinem Fluche … die Angst vor dem Tod, die mich dorthin getrieben hat, wo ich jetzt bin.«

Alles lag in Schweigen. Das Laub an den Bäumen begann zu glänzen. Wie gerne hätte sie ihre Seele hineinverloren in die Unendlichkeit dieses nächtlichen Strahlens! Die Nacht mit ihrem Frieden rührte sie an, streichelte ihr die Stirne. Es war wie eine Musik, die nur die Seele hören konnte.

Leidenschaftlich atmete sie diese Liebkosung der Nacht ein … Oh, jetzt würde sie nicht mehr zu Jeanin sagen: »Wir müssen warten, bis er vergessen hat.« – Nach allem, was sie durchmachen mußte, fürchtete sie jetzt nichts mehr von dem, was ihr früher so viel Angst bereitet hatte, nicht einmal den Tod … Aber dennoch, als sie in der Ferne auf der dunklen Heide den großen Nordkanal aufblinken sah, brach sie in Tränen aus. Sie weinte, weinte hemmungslos eine lange Weile in die Nacht hinaus.

 

Das Leben, das jetzt für sie begann, unterschied sich kaum merklich von dem im Gefängnis. Lange Wochen hindurch wagte sie es nicht, auszugehen, ja nicht einmal über die Straße zu laufen. Zum Brunnen ging sie nur, wenn es schon ganz dunkel war. Da sie aber doch ein paar Sous verdienen mußte, ließ sie sich von der Blumenfabrik Heimarbeit geben. Und so saß sie nun den ganzen lieben langen Tag über ihrer Arbeit und machte Orangenblütensträußchen für Bräute. Wenn sie dann am Abend nichts mehr sah, blieb sie auch weiter an ihrem Platze sitzen, ganz zermürbt von dem Bewußtsein ihres leidvollen Daseins.

Mit der Zeit versuchte sie, alte Gewohnheiten wieder aufzunehmen. Einmal wagte sie sich sogar bis in den Krämerladen. Aber sofort sah sie sich von Frauen umringt, so daß ihr ähnlich zumute war wie einem Sperling, dem ein Wollfädchen ans Bein gebunden ist, und der deshalb von seiner Sippe mit Schnabelhieben verfolgt wird.

Ihre Mutter sprach kaum mit ihr. Es war weniger aus Groll als aus Schmerz. Sie beschränkte sich darauf, von Zeit zu Zeit zu seufzen, und das Notwendige, was sie sagen mußte, tat sie mit einem einzigen Dingwort ab.

Sie fand keinen Ausweg, um aus diesem engen Kreis von Mißgunst und Verachtung herauszukommen. Nur die Erinnerung an Jeanin hielt sie aufrecht … Mochte sie auch noch so grausam für ihre Liebe bezahlt haben, mochte auch eine innere Stimme ihr immer wieder vorhalten, wie abwegig es sei, diesem Manne nach seiner bösen Tat die Treue zu halten, sie liebte ihn doch noch immer mit der gleichen Stärke; ja sie war mehr als je entschlossen, ihn zu heiraten, und wenn sie auch alle verfluchten. Er brauchte nur zu kommen und sie zu holen. Sie würde dann eben nach Mayun ziehen und eine richtige Mayunerin werden, würde Leinen weben und Körbe flechten.

Aber ein Abend verstrich nach dem andern. Die Zeit verging, und er kam nicht. Gewiß ahnte er nichts von ihrer Rückkehr. Sie selbst wagte sich nicht nach Mayun. Sie schrieb ihm, aber es kam keine Antwort.

Einmal, als sie auf den Hügel von Brécun hinaufstieg, um dort Mehl beim Müller zu holen, fühlte sie sich ganz besonders unglücklich, weil die Sonne an diesem Tage gar zu herrlich schien. In dieser Stimmung sah sie unten auf einer Wiese die Schafe der Julie Chantal weiden, und sofort kam ihr der Gedanke, daß Maria in der Nähe sein müßte, um sie zu hüten. Sie folgte einer Eingebung ihres Herzens, ging den Wiesenpfad hinunter und fand auch wirklich Maria dort vor einer Hecke im Grase sitzen und stricken. Zögernd blieb sie einen Augenblick stehen, dann machte sie ein paar ängstliche Schritte auf das Mädchen zu.

Maria hob den Kopf und wurde rot, als sie Augustins Tochter erkannte.

»Darf ich zu dir kommen?« schien Theotist zu fragen, während sie so an der Hecke entlang ging, »oder wirst du mich auch zurückstoßen wie die andern?«

Maria winkte ihr. Sie schlug den Rocksaum, der im Grase lag, sorgfältig über die Knie, und schon war Theotist bei ihr.

Eng an das junge Ding geschmiegt, weinte sie jetzt still in sich hinein. Erschüttert bis in ihr innerstes Seelenleben mußte sie all die maßlose Qual und Pein ihres Herzens offen vor diesem Kind ausschütten; sie sagte kein Wort sonst, aber ihre Tränen redeten eine laute Sprache.

Auch Maria blieb eine Weile still. Sie sah sie an mit unendlichem Mitleid, streichelte sie und drückte ihr schließlich etwas in die Hand. »Nimm das!« sagte sie dazu.

»Du kannst es besser brauchen als ich.«

Es war der Glücksring.

Allein Theotist schenkte dem Ringe nur wenig Aufmerksamkeit. Ihr Herz sehnte sich nach einem kostbareren Geschenk.

»Maria«, flüsterte sie, »wenn du willst … wenn du kannst … sei mir gut!''

 

Von nun an kam es öfters vor, daß Theotist eine Weile vor Sonnenuntergang die Schere beiseite legte und den kleinen Pfad nach Brécun zur Wiese einschlug, wo sie ihre kleine Trösterin antraf. Als sie eines Tages wieder so beisammen waren, ging Herr Ulrich unten am anderen Ende des Weideplatzes vorüber … So konnte es nicht ausbleiben, daß am Abend bei Julie Chantal die Rede auf Theotist kam.

»Sie ist ein armes, gefallenes Mädchen … Vielleicht wäre es besser, Maria … Jedenfalls möchte ich nicht annehmen, daß der Umgang mit ihr einen schlechten Einfluß auf dich hat.«

»O nein!« wehrte Maria ab.

In demselben Augenblick verstummten sie, denn Augustin war soeben eingetreten. Es war Zeit zum Abendessen.

»Worüber habt ihr euch denn unterhalten?« fragte er.

Dieser Teufel von einem Mann!


 << zurück weiter >>