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V.

An diesem Morgen hing ein leichter Nebel über den Wiesen. Ein Windhauch regte sich im Silberlaub der Weiden. In den Moorwässern glitzerten kleine Sonnenkringel. Der Kahn flog dahin.

Die Insel mit ihren Baumgruppen, ihren steinigen Uferdämmen, ihrem Weidengestrüpp blieb immer mehr zurück. Heute hatte Augustin ein weites Ziel. Das Boot schoß im Wasser rasch voran zwischen den zwei langen Furchen, die der Kiel dort zog. Mitunter verlangsamte sich die Fahrt im Gewirr der Schilfpflanzen. Eine dicke, vereinzelt stehende Binse, die der Kahn ins Wasser gedrückt hatte, richtete sich hinter ihm wieder langsam auf.

Mit kraftvollen, ausgiebigen Stößen im weichen, schlammigen Grund brachte Augustin sein Boot vorwärts. Die Ruderstange federte leicht in seinen Händen. Es war am Tage nach seinem Umzug, und es war zum erstenmal, daß er von der Inselspitze abfuhr. Er nahm das als ein günstiges Vorzeichen für die Auffindung der Dokumente. Er war guter Dinge. Der Spiegel seiner Seele lag so friedvoll da wie ein Weiher im Sonnenschein, auf dem die schönste Ente sich tummelt.

Heute schlug er eine andere Richtung ein. Die Fahrt ging durch die verträumten Kanäle mit ihren reglos stehenden Schlingpflanzen, entlang der tiefgelegenen, aufgefurchten Heide, deren schwarze Wunden immer größer wurden. Grüne Dolden umsäumten seinen Weg. Manchmal reckte am Ufer ein großer, schwarzgebrannter Stamm seine mächtigen Arme in die Luft. Das war wieder so ein Mortas, den man sorgsam aus dem Torf herausgeholt hatte – eine Eiche oder Buche, die vielleicht an die zweitausend Jahre alt war, versteinertes Holz, dessen Kern schwärzer und härter ist als Ebenholz, überall wogt das Schilf, in dem zahllose Vögel hausen. Dann und wann blitzt ein Weiher bleich aus dem Röhricht auf. Andere kleine Inseln werden sichtbar, neue Schilfflächen treten in Erscheinung und immer wieder neue Gewässer. Die Brière scheint überhaupt kein Ende zu nehmen. Es geht so weiter bis zu den letzten Nebelwänden da draußen unter der gewaltigen Himmelskuppel.

Er war absichtlich an den westlichen Ufern entlanggefahren, weil er ohnedies einmal einen Blick hierher tun wollte; jetzt steuerte er an der Spitze von Bréca vorbei, an der Hexenhütte der alten Florenze vorüber, die neulich vor der Kirche mit ihrem Gaul so großes Aufsehen erregt hatte. Sie stand gerade im Freien und machte sich an einem Sieb zu schaffen.

»Na, steht dein alter Bau noch, Florenze?« rief er ihr im Vorbeifahren zu. »In den nächsten Tagen komme ich einmal auf dein Schloß, um auch bei dir zu suchen.«

Die Arme lebte zwar nur von Fischen, die sie aus dem Kanal so behende wie eine Fischotter herausholte. Aber sie war tatsächlich eine geborene Audran, ein Sprößling dieser angesehenen Familie, und wohnte ehedem als ehrsame Witwe in der Gemeinde St. André. Durch einen Unglücksfall war sie um ihren Verstand gekommen. Ihre Tochter Angeline, ein hübsches, schlankes, junges Ding mit kohlschwarzen Augen, wie sie auf der Brière nicht selten sind, hatte sich in Paris vergiftet aus Verzweiflung darüber, weil der Mann, der sie verführt und dorthin mitgenommen hatte, eine andere heiratete. Aus Gram darüber war Florenze Audran in Trübsinn verfallen, zumal jetzt auch die zärtlichen Briefe ausblieben, die sie seither über ihre Schande hinweggetröstet hatten. Sie irrte draußen auf den Wegen und im Moor umher; sie wurde bald hier, bald dort aufgelesen, bis sie sich eines Tages wie eine fromme Büßerin in dem Hünengrab von Kervily verkroch, wo sie sich mit ein paar alten Stangen und Brettern einen notdürftigen Unterschlupf geschaffen hatte. Die Habseligkeiten Angelinens hatte man ihr geschickt, eine große Kiste voll, die sie eifersüchtig vor fremden Augen hütete. Manchmal hielt sie sich in ihrer Geistesgestörtheit für ihre Tochter. Dann zog sie einen ihrer gestickten Unterröcke oder auch ein Paar ihrer durchbrochenen Strümpfe an. So wurde sie zum Gespött der Kinder, die ihren Schabernack mit ihr trieben. Auch die Hausierer hielten sie zum besten, wenn sie auf ihrem Wege zur oberen Bretagne in der Umgebung ihre Ware an den Mann gebracht hatten. Sie rächte sich durch Kratzen und Beißen.

Den Inselwächter haßte sie. Seinen Gruß zahlte sie ihm mit Grimassen heim.

»Na, Alte, laß dein Gesichterschneiden, sonst geht deine Schönheit flöten.«

Gutgelaunt fuhr Augustin weiter. Nie hatte er sich so frisch und munter gefühlt in allen Gliedern; nie hatte sein Auge so klar in die Welt geblickt. Der ewige Lenker hatte seinen Fluch erhört. Jetzt hatte er seine volle Freiheit wieder; er brauchte Haus und Herd mit niemand mehr zu teilen. Schon wenn er sich in Gedanken sein neues Heim vorstellte, das auf ihn wartete – denn sein Häuschen beschäftigte ihn genau so wie die Dokumente, nach denen er fahndete –, atmete er mit vollen Lungen die rauhe Brise ein, die von würzigem Kräuterduft erfüllt war. Und genau so geschmeidig wie die große Binse hinter seinem Boot richtete er sich nach jedem Stoß mit der Ruderstange wieder auf.

Hier in der Gegend wollte er ohnedies einmal nach dem Rechten sehen, und so bog er ins Schilf ein. Die Rohrhalme gerieten in diesem Jahr besonders gut. Sie waren fast doppelt so groß wie er selber, und dieses Fahren durchs Schilf machte ihm immer wieder Freude.

Unabsehbar dehnt sich das Röhricht. Es folgt den Wasserläufen, umsäumt die Weiher; mitunter versperrt es vollkommen den Weg. Dann gibt es wieder eine Durchfahrt frei, durch die der Eisvogel sicher seinen Weg findet. Grün oder golden, je nach der Jahreszeit, haben die Halme tief unterm Wasser, in dem sich die Wolken spiegeln, ihre Wurzeln. Viele Rohre stehen geneigt und scheinen zu schlafen. Wie leblose Schatten wiegen sie sich zwischen Himmel und Wasser. Aber beim kleinsten Windhauch hebt ein Raunen an und ein Flüstern, das durch ihre Reihen geht, immer leiser und leiser wird und schließlich verstummt. Weiße Seerosen stehen dort Stern an Stern, und zwischen dem dichten Blätterteppich schießen die Fische hindurch, daß es aufblitzt wie ein Silberstrahl. Es ist der reinste Blumengarten, durch den der Nachen hindurchgleitet. Er bahnt sich einen Weg durch die üppige Pflanzenwelt, und sein Kiel hinterläßt eine tiefschwarze Spur. Schweigend fährt der Mann in seinem Boot auf den kühlen Wassern dahin. Aber sein Kopf ist voll dunkler Träume, die wie rätselhafte Spiegelungen aus dem Schlamm der mütterlichen Erde aufsteigen, Blüten, die aus seinem Blute aufgeschossen sind und die in seiner Seele wurzeln, so fest wie die Seerosen in der Tiefe. Das leichte Boot trägt seine schwere Gedankenlast, und es dreht und wendet sich im Spiele seines Träumens. Das ist ja immer das gleiche seit unendlichen Zeiten, ob sie nun nordwärts oder südwärts fahren als ewige Pilger dieser Einsamkeiten.

Augustin befand sich jetzt in der Gegend zwischen dem Weiher von Grand-Pas und dem Tropen-Hügel. Von dieser Stelle aus, dem Mittelpunkt seines Amtsbereiches, entging ihm keine Bewegung. Ganze Stunden verweilte er da wie die Spinne in der Mitte ihres Netzes.

Nichts Verdächtiges zeigte sich heute morgen auf dem schmalen Streifen der Heide. Ein Segelboot fuhr über den Weiher von Olive; es brachte Streu nach Fédrun. Und was dort aufragte am Acheronne-Ufer, war nur eine Sense, die einer der Nachbarn aus dem Etage-Viertel draußen gelassen und in den Boden gesteckt hatte.

Nun nahm er seine Fischgabel zur Hand, um einen Augenblick »auf eigene Rechnung zu arbeiten«, wie er sich ausdrückte. Die Gabelzinken waren nicht so ganz in Ordnung, wie es hätte sein müssen; aber das kümmerte ihn nicht weiter. Er suchte sich die günstigsten Stellen aus und ließ seinen furchtbaren Dreizack mit aller Wucht ins Wasser sausen.

Er wollte Aale stechen, aber sie waren so rar wie rote Gänse. Bei diesem heiteren Wetter verkriechen sie sich in ihre Schlupfwinkel im Schlamm, und so brachte er nur Schlingpflanzen herauf.

Aus dem klaren Wasser, wo die Barsche springen, geriet er in ein böses Schlingpflanzengewirr, so daß er mit dem Boot kaum durchkam. Bachstelzen führten hier einen kleinen Tanz auf, und Heuschrecken hüpften mit einem Sprung über ihre schmetterlingsblauen Flügel. Ein schwarzer Mortasstumpf hob wie ein Nilpferd seine dunkle Schnauze aus dem Wasser. Ein ganzer Wald von Rüstern, Königskerzen, Schwertlilien wucherte wild durcheinander, und Augustin war hier Herr und Meister wie ein Hecht im Teich. An einer Stelle sah er kleine Bläschen aus einem Büschel Horngras aufsteigen, ein Zeichen, daß ein Karpfen drunter stand. Er warf sein Korbnetz aus, hütete sich aber wohl, es sofort zurückzuziehen, wie es so viele andere machen und in ihrem blinden Eifer nur eine Ladung Wasser nach oben bringen. Jeder Karpfen mit etwas Lebenserfahrung weiß, daß er nur dann mit heiler Haut davonkommt, wenn er sich tot stellt. Sobald das Netz fällt, läßt er sich sinken und rührt sich nicht mehr. Aber Augustin wußte ein Mittel, um den Schlauberger zu überlisten. Er steckte ein Schilfrohr durch die Maschen und stocherte damit so lange herum, bis er sich wieder bewegte. So erreichte er, was er wollte, und zog aus seinem triefenden Netz einen schönen, goldenen Kerl mit einem langen Bart heraus, der mehr als sechs Pfund wog. Befriedigt tat er ihn zusammen mit einer Handvoll Wasserpflanzen in seinen Fischkasten.

Dann fuhr er wieder los. Er mußte ja in die Dörfer, und so bog er wieder in die Kanäle ein. Jetzt, da sein alter Frohsinn wieder erwacht war, erfüllte ihn ein unersättliches Glücksgefühl darüber, daß er auf der Brière lebte. Immer wieder schweiften seine Augen bei der Fahrt in die Runde, und er wiegte sich nach der Musik, die die beiden Wasserwirbel unaufhörlich um seine Ruderstange rauschten.

Er fuhr am Felsenberg vorüber, dem Mittelpunkt des Moores, der fast immer von weißen Bodennebeln verhängt ist, hier, wo die Seelerchen ihre Eier verstecken, wo schon so manches Schaf von den Adlern geholt wurde und wo Lucas la Palette sich eine Hütte gebaut hatte, um den Anfechtungen des Bösen Trotz zu bieten. Dorthin brachte man auch im Frühjahr das Jungvieh, damit es sich nach der mageren Trift auf den Höhen an den Uferhängen mit seinem üppigen Graswuchs und den jungen, im April besonders zarten Schilftrieben gütlich tun konnte.

Er fuhr über die großen Moorlachen, wo ihm bei der Durchfahrt manches Erlebnis einfiel, das in seinem Gedächtnis haften geblieben war.

Hierher war er oft mit seinem verstorbenen Vater gekommen, der ihm erzählt hatte, daß an Stelle dieser weiten Wasserfläche eine ganze Kette von Hügeln sich hinzog, ganz ansehnliche Trümmer, wo man den besten Torf gewann, und die nun bis auf den Grund abgetragen waren. In jenen Zeiten stachen die Brièronen ihren Torf ohne Unterlaß. Riesige Mengen, ganze Wagenladungen voll hoben sie aus. Sie ließen dem Staub keine Zeit, sich zu setzen. Die aufgehäuften Torfstapel waren mitunter höher als ihre Häuser; denn der Torf muß lagern, wie man es mit dem Wein macht. Bei diesem Raubbau wurde die Brière immer ebener. Die Arme wurde weniger, die Auszehrung fraß sie auf. Sie war auf dem besten Weg, ihre Unabhängigkeit einzubüßen. Schon damals sagte der Vater zu ihm: »Du siehst, mein Sohn, die Kuh wird bald keine Milch mehr geben.«

Er hatte sich nicht getäuscht. Augustin hatte es selbst mit eigenen Augen angesehen, wie der Taurins- und der Angelushügel so nach und nach verschwanden. Überall entstanden große Wassertümpel; ja mitunter war es ihm schon passiert, daß er ein Jahr später mit der Ruderstange nicht mehr auf den Grund kam.

Diese Erinnerung rief noch eine andere in ihm wach: An einem Sonntagmorgen des Jahres achtzehnhundertsoundsoviel hörte man auf allen Marktplätzen der siebzehn Gemeinden die Trommel schlagen. Die Regierung hatte bestimmte Maßnahmen getroffen und ließ deshalb die Bewohner zusammenrufen. Es ging darum, die Leute gegen ihre eigene Kurzsichtigkeit zu schützen und eine feste Regelung für das Torfstechen einzuführen. Danach sollte unter Androhung verschiedener Strafen das Torfstechen immer nur während vierzehn Tagen innerhalb eines Jahres, die jeweils nach den Witterungsverhältnissen festgesetzt werden sollten, gestattet sein. Überdies sollte für jeden ausgehobenen Kubikmeter Torf eine bestimmte Abgabe entrichtet werden.

Diese Einmischung, die einer Verletzung ihrer uralten Gewohnheitsrechte gleichkam, hatte bei seinen Landsleuten einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Sie scherten sich keinen Deut um das Gesetz, und das Torfstechen ging weiter. Da wurde ein Wächter hingeschickt mit dem Auftrag, darüber zu wachen, daß die Bestimmungen eingehalten würden. Mit diesem wurde kurzer Prozeß gemacht; man schlug ihn tot. Natürlich wurde er dann auch nicht von frommen Händen in einen prunkvollen Sarg gelegt; man warf ihn kurzerhand in ein Moorloch. Die Regierung schickte schleunigst einen zweiten Wächter, den die Brière ebenso stillschweigend verschlang. Einem dritten erging es nicht anders. Der vierte, der kam, war er selbst.

Als die Wasser- und Forstverwaltung bei ihm anfragte, ob er zur Übernahme des Amtes bereit wäre, hatte er sofort geantwortet: Wenn es sich darum handle, diese Verordnung aufrechtzuerhalten, dann werde er keinen Finger rühren. Aber seine Kameraden hatten sich alle Mühe gegeben, ihn von seinem Widerstand abzubringen. Wenn man die Wächtertätigkeit weiterhin diesem fremden Gelichter anvertrauen würde, meinten sie, dann würde bald wieder Blut fließen, und es wäre kein Ende abzusehen. Es sei also viel besser, wenigstens dem Scheine nach darauf einzugehen, damit einer von ihnen das Amt übernehme, ein Brièrone, mit dem dann leicht eine Verständigung möglich sei.

Diese Überlegung hatte ihn umgestimmt. War er auch einer der erbittertsten Gegner der Regierung, so sah er doch deutlich, wie die Brière leider wie ein alter Strumpf allmählich mehr Löcher als Maschen aufwies. Weiß Gott, auch so loderte noch ein gutes Stück Haß in ihm gegen die Obrigkeit, die ihnen ihre Gesetze aufzwingen wollte. Aber die Maßnahme als solche hatte zweifellos auch ihr Gutes. Vielleicht war es so möglich, daß sich das Land wieder erholen konnte. Mit der Durchführung dieser Bestimmung wird also nicht dem Staate ein Gefallen erwiesen, sondern vielmehr der Brière, seiner Wohltäterin. Dieser Gedanke zerstreute alle seine Bedenken. Er leistete den Eid. Das war jetzt vierzig Jahre her.

Freilich, nachdem er einmal zum Wächter ernannt war, liefen die Dinge nicht ganz so, wie die anderen es sich vorgestellt hatten. Er nahm es gewissenhaft mit seinem Amt. Außerhalb der festgesetzten Zeit durften sie nicht nach ihrem Belieben mit Hacke und Spaten hantieren. Das löste bei der Einwohnerschaft ein großes Geschrei aus. Schwere Gewitterwolken zogen sich über seinem Hause zusammen. Ganz offen warf man ihm seinen »Verrat« vor; man drohte ihn zu erschießen.

Er war auf seiner Hut, aber er gab nicht nach. Er machte nur dort Zugeständnisse, wo er es selber für berechtigt hielt, so zum Beispiel, daß er zur Zeit des Torfstiches ein Auge zudrückte, wenn von Tausenden von Kubikmetern der Regierung die Steuer vorenthalten wurde.

Aber mehr noch als solche Zugeständnisse trug ein anderer Umstand dazu bei, daß man ihn in Ruhe ließ, das war seine Anstellung durch die Ortsbehörden der Brière. Die Bürgermeister der einzelnen Gemeinden, die in ihrer Abwehrhaltung gegen die Regierung einig waren, brauchten einen Vertrauensmann für ihre Amtsgänge auf der Brière. Sie hatten sich an ihn gewöhnt – es war keine schlechte Politik, den Inselaufseher auch zum Gemeindendiener zu bestellen – und er sagte sofort zu.

Er besorgte die amtlichen Bekanntmachungen, brachte alle Neuigkeiten mit, betätigte sich als Flurschütze, kurz, er war das ausführende Organ der Gemeindenräte. Auf diese Weise kontrollierte er auf der einen Seite die Einwohner zugunsten des Staates, andererseits kontrollierte er auch den Staat zugunsten der Einwohner. Es konnte vorkommen, daß er mit der einen Hand wieder zunichte machte, was er mit der anderen geschaffen hatte.

Er sorgte für den rechtzeitigen Eingang der Abgaben, machte ein Protokoll, wenn er einen beim unberechtigten Torfstechen ertappte, paßte auf, daß niemand auf der Heide ein Feuer ansteckte, überwachte das Schneiden des Schilfes, nahm Gänsediebe fest, beschlagnahmte verbotene Angelgeräte und was sonst noch alles in sein Amtsbereich fiel. Aber wenn er auch den einen oder anderen faßte, so ließ er viele auch wieder laufen, je nach seiner Laune und dem Verhalten der Missetäter.

 

Es schlug zehn Uhr, als er an der Landzunge von Quebitre anlegte. Er barg seinen Kahn im Schilf und ging zu den Dörfern hinauf, die an der Straße nach Chapelle liegen. Am Morgen war er in Camert, wo man Bootsstangen anfertigt; mittags kam er nach Camerun, der Heimat der Bienenkorbflechterei.

Überall wußte man schon vorher von seinem Kommen. Die Nachricht davon verbreitete sich mit Windeseile, und im letztgenannten Dorf erwartete ihn eine Menge Menschen.

»Augustin! … Augustin!« rief man ihm zu, sobald er auftauchte. »Die alte Prudence hat etwas für dich … Sie ist gerade bei ihrem Backofen, sie wird aber geholt.«

Er blieb stehen genau so wie ein Jäger, wenn der Hase die Löffel stellt. Seine Ahnung bei der Abfahrt hatte ihn also nicht getäuscht. Schon bei dem Gedanken, daß das Gesuchte tatsächlich hier stecken könnte in nächster Nachbarschaft vom Bru, dem Gebiet, wo der beste Torf gewonnen wird, begannen seine Augen vor Erregung zu funkeln.

»Hat das, was ihr da sagt, etwas mit den Urkunden zu tun?« fragte er in einer plötzlichen Anwandlung von Angst, die ihm die Freude verdarb.

»Bei Gott, sie behauptet es … Aber sie will es nicht herzeigen.«

Unterdessen kam die Frau, die allgemein Prudence gerufen wurde, schon gelaufen. Ihre Brauen unter dem schwarzen Kopftuch waren von der Ofenhitze versengt.

»So«, sagte sie, »meine Kuchen sind jetzt alle im Ofen. Du kannst kommen, mein Lieber, wenn du willst … Ganz alt sind die Sachen, daß du's nur weißt … ganz alt.«

Männer, Greise, Frauen, alles lief mit. Augustin schwenkte eine dünne Weidengerte, die er sich auf dem Weg geschnitten hatte. Eine kleine Prozession ging hinter ihm drein, und je weiter man kam, um so größer wurde der Zug; denn einer sagte es dem andern: »Mach schnell! … Sie gehen zur Prudence.«

Die Menge staute sich im Zimmer. Viele standen noch draußen vor der Türe. Man drängte sich, man stellte sich auf die Zehenspitzen. Augustin stand, ohne ein Wort zu reden, mitten drin. Er hörte nicht einmal die Schranktüre gehen; er war ganz Auge. Er sah nur das alte, vergilbte Papier, das staubige Bündel, das man ihm jetzt in die Hände legte.

Es heißt, die tatarischen Pferde hätten ihre edle Haltung nur daher, weil die Fenster in ihren Ställen oben im Dach angebracht seien und sie sich dadurch angewöhnen müßten, den Kopf hochzuhalten. Nun, die Gewohnheit des Befehlens und die Ausübung der Amtsgewalt hatten bei ihm das gleiche bewirkt. Keine Neugier, keine Hast, keine Erregung konnten ihn aus seiner gewohnten Haltung bringen. So beugte er sich auch nicht zum Lesen herab, sondern hielt das Pergament vor sich in Augenhöhe über den neugierig fragenden Gesichtern.

Man folgte jeder Bewegung seiner Lippen, beobachtete genau, was in seinen Augen vorging, die alsbald zu funkeln begannen.

»Du lieber Himmel! Sie hat nicht einmal gemerkt, daß ihr Papier von 1830 datiert ist …«, sagte er, »… sie hat die Unterschrift eines gewissen Peter Olivaud für die der Prinzessin Anna gehalten.«

Achselzuckend gab er der enttäuschten Alten ihre Papiere wieder. Die Anwesenden hielten den Atem an. Sie hatten sich so in die Sicherheit hineingesteigert, daß sie förmlich glühten. Und jetzt standen sie da, völlig erstarrt wie leblose Puppen.

»Ist in diesen Papieren von der Brière die Rede?« fragte ein kleiner, alter Mann. »Alsdann könntest du es uns ja einmal vorlesen.«

»Ja, ja«, tönt es von allen Seiten, »lies, lies!«

»Wenn ich euch schon sage, daß sie die Unterschriften verwechselt hat.«

»Ach was … das macht doch nichts! So etwas kann doch vorkommen! … Aber wir erfahren es ja sonst nie! … Sie schließt ihre Schätze doch gleich wieder weg … Und dann … dann sind wir doch alle nicht so beschlagen im Lesen.«

»Ich bin nicht euer Schulmeister.«

Aber die Leute versperrten die Tür. Augustin war sozusagen ihr Gefangener. Er machte gute Miene zum bösen Spiel, und da er mit den Leuten von Camerun nie ein Hühnchen zu rupfen gehabt hatte, ließ er sich schließlich erweichen und nahm die Aktenblätter wieder zur Hand.

Es war nichts weiter als ein handschriftlicher Bericht, den ein gewisser Peter Olivaud in der damaligen Zeit an die Präfekturverwaltung geschrieben hatte. Der Verfasser antwortete auf verschiedene Fragen, die ihm vorgelegt worden waren: Wie groß das Torfmoor wäre, welche Gemeinden das Ausbeutungsrecht daran besäßen, was über die Sitten und Gebräuche der Einwohner zu sagen sei.

Augustin las vor:

»Der erste Bewohner der Brière kam in einem Entennest zur Welt.«

»Das stimmt! Das ist wahr!«

»Eine andere Überlieferung nennt als Ahnen dieser Bevölkerung drei Banditen, die vor Zeiten auf der Brière Zuflucht suchten. Der Charakter der Einwohner scheint die Richtigkeit zu bestätigen; denn es sind wilde, unzugängliche Leute, die imstande sind, einen Prozeß anzufangen, schon wenn jemand an ihrer Tür vorbeigeht, und die ein Leben lang nachtragen.«

»Hört ihr?« rief er ihnen zu, »hört ihr?« Und indem er tat, als lese er weiter, fügte er innerlich schmunzelnd von sich aus hinzu: »Trunkenbolde! … Bootsbummler! … Pferdeschinder!«

Er warf einen flüchtigen Blick auf sie; aber die guten Leute hörten mit Andacht zu.

Dann fuhr er fort: »Was ist von den angeblichen Eigentumsrechten der Einwohner der Brière zu halten?«

Er las:

»Die Nutznießung und der gemeinsame Besitz der Brière ist den Einwohnern durch Freibriefe Franz' II. von Bretagne im Jahre 1461 zuerkannt worden, sodann erneut durch eine Verordnung Franz' I. im September 1538, weiter durch die Patentbriefe Karls IX. im Februar 1566, wiederum durch ein Reskript Ludwigs XIII. im Januar 1629. All das hat Ludwig XVI. in den Registern des Staatsrates vom 13. Januar 1784 bestätigt und festgelegt.«

»Donnerwetter!''

Darauf war er wirklich nicht gefaßt. Diese Freibriefe, Edikte, Erlasse … von all dem hatte er noch nie gehört … Er wußte nur von der Schenkung der guten Herzogin, wie man sie immer nannte … Die Rechte der Brière überstiegen ja jedes Vorstellungsvermögen.

»Donnerwetter!«

Ob das die Gemeindenvorsteher wußten?

Außer sich vor Freude, schwenkte er das Papier über den Köpfen.

»Ich hab's ja gesagt, das Ding da ist unbezahlbar! … Meine Liebe, dein Aktenbündel ist fast so kostbar wie ein hübsches Mädchen … Es kann ungeheuer wichtig für uns werden.«

Er ließ es in seiner Tasche verschwinden.

»Das muß ich mitnehmen.«

Jetzt kam Leben in die Alte. Sie glühte vor freudiger Erregung.

»Mußt mir aber eine Empfangsbestätigung geben! … Ich will eine Empfangsbestätigung! … Habt ihr gesehen, wie er uns das vorgelesen hat und noch dazu ohne Brille!«

Das war für alle, die dabei waren, ein großer Augenblick.

Einige Männer holten ein paar Flaschen Wein herbei, und es wurde lange und ausgiebig gezecht.

Der Tag war schon weit vorgerückt, als er Camerun verließ.

Er machte sich auf den Heimweg. Wieder fuhr er in seinem kleinen Boot durch die Kanäle hin in dem stolzen Gefühl seines Fundes. Ja, er handhabte seine Ruderstange mit Ehrerbietung vor den Wassern, die einen so bedeutenden Platz in der Geschichte eingenommen hatten. Er selber fühlte sich um etliche Ellen gewachsen. Gab er nicht sozusagen allen diesen großen Königen, einem Franz I., Karl IX., gleichsam die Hand? War er nicht der Testamentsvollstrecker ihres Herrscherwillens? Und das alles schon am ersten Tag seines Junggesellendaseins! … Er war ja schon mit dem Vorgefühl losgefahren, daß der Tag ihm eine Überraschung bringen würde.

Er hatte es durchaus nicht eilig. Ganz gemütlich fuhr er dahin, um besser träumen zu können. Auf goldglitzernden Wellen ließ er sich in den Feuerzauber des Abends hineintragen. Jetzt sah er Fédrun in der Ferne auftauchen, ein kleines Häufchen aus Torf, Lehm, Gestrüpp. In diesem weiten Raum glich es einem verborgenen, winzigen Entennest. Die Sonne sank tiefer. Schon berührte sie den Himmelsrand mit ihrer Strahlenkrone, die sich mit einem riesigen Feuerfisch auf dem Wasser zu verschmelzen schien.


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