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II.

Am nächsten Tag beim ersten Morgengrauen öffnete sich die kleine Tür am Häuschen Augustins, die auf das Gäßchen führte, so geräuschlos und langsam, daß es den Anschein hatte, als würde sie von einem Lufthauch aufgestoßen, und Theotist schlüpfte heraus. Sie war barfuß, hatte nur rasch einen Rock übergeworfen; in ihrem Gesicht stand deutlich die Erregung. Mit fiebrigen Augen spähte sie umher. Dann raffte sie mit einer hastigen Bewegung ihren Schal unterm Kinn zusammen und verschwand eilig mit ihren aufgelösten Haaren auf dem Fußpfad hinter dem Strohhaufen.

Nichts regte sich auf dem Wege. Der Mond stand noch immer am grünlich getönten Himmel.

Nach einer Weile kam das Mädchen außer Atem zurück und schlüpfte genau so leise durch die Tür ins Haus, wie sie es verlassen hatte.

Das Inselviertel versank wieder in Schweigen.

Es war das Chat-Fourré, das zwischen dem Rochette- und Martinsviertel lag. Dahinter war in geringer Entfernung die Pendille-Insel sichtbar und die hohe Turmspitze von St. Joachim. Weiter nach Süden tauchte die Insel Brais mit dem gedrungenen Kirchturm von Saint-Malo auf, dann Errand und Menac, deren weiße Mauern mit den Strohdächern sich scharf von den Bäumen abhoben; dahinter Clairvaux, Millaud, Menée-André, die man gerade noch im Nebel erkennen konnte.

Mitten in der eintönigen, weiten Landschaft, durch die sich die Wasserarme träg hindurchschlängeln, bilden sie eine Gruppe, diese Inseln der Fischer, der Kräutersucher, Blutegelsammler, dieser Wilderer der schwarzen Erde und des Moorwassers, wie kleine Antillen zu fünfen geordnet und alle fünf in ihrem Aussehen zum Verwechseln ähnlich. Eine kristallhelle Wasserstraße schließt sie ringsum ein, in der sich der klare Himmel zwischen dem Widerschein der dunklen Torfufer spiegelt. Sie sind von alten, knorrigen Bäumen gekrönt, die Schatten spenden und sie zieren, zugleich auch Schutz gegen die Stürme bieten. Ulmen und Weiden gemischt, knorrig, bemoost, vom Seewind zerzaust; dann ein grüner Streifen von Dämmen und Gärten, schließlich die Reihe alter Hütten, die unter ihrer wolfsgrauen Patina allesamt krumm und schief dastehen und sich zu beiden Seiten des schmalen Weges aneinander anlehnen, als ob sie gegenseitig Halt suchten.

Fédrun, die schwärzeste und wildeste der Inseln, taucht allmählich aus dem Nebel auf. In der Bootsstraße reicht die Spiegelung ihrer dunklen Ufer noch mehr in die Tiefe. Unter dem Silberlaub der Weiden rund um die Strohhütten werden jetzt auf den mit Gänseblumen übersäten Wiesen mit den vielen Rattenlöchern Hunderte von Enten lebendig. Erst machen sie ein paar Schritte, dann schlagen sie mit den Flügeln, watscheln zum Wasser und schon schnattern sie im Schlamm. Aus den einzelnen Hütten steigen Rauchwölkchen auf und legen sich als blaue Schleier über die Insel.

In dieser Jahreszeit sind die schweren, hochaufgeschichteten Strohdächer wieder grün geworden. Lange Grashalme sind aus der fast drei Daumen dicken Moosschicht aufgeschossen, so daß der First einem kleinen, mit Ähren bewachsenen Hügel gleicht.

Die ersten Ernten sind bereits eingebracht, überall auf den Höfen liegen Schilfgarben aufgeschichtet neben riesigen Haufen von Sumpfgras. Bis zum Dachrand türmen sich schon die Torfschollen, die entweder sorgsam zu Blöcken oder Türmchen aufgeschichtet oder aber aufs Geratewohl hingeworfen sind, zusammen mit dem Holz von Baumstämmen, die beim Torfstechen ausgegraben wurden.

Jetzt ging die Tür am Hause Augustins zum zweiten Male auf. Diesmal kam er selbst heraus. Auch er vermied jedes Geräusch. Den kleinen Hut ins Gesicht gedrückt, sah er sich nach allen Seiten um mit einer Miene, die nicht gerade den Anschein erweckte, als bete er den Englischen Gruß. Dann verschwand er hinter den Strohhaufen genau wie seine Tochter ein paar Minuten zuvor. Er ging auf ein uraltes, arg heruntergekommenes Häuschen zu, das etwa fünfzig Meter entfernt ganz im Grünen lag, stieß die Tür auf, trat ein und fand den Nachbar Richard trotz der frühen Morgenstunde schon am Kamine sitzen. Der Feuerschein vom Herd fiel grell auf sein Gesicht; und da er ziemlich gebrechlich war, stützte er sich auch im Sitzen auf seinen Stock.

»Servus, grüß dich Gott, alter Sünder! Ich hab' ein Hühnchen mit dir zu rupfen. Nimm mir's nicht übel! Ich mein's nicht bös. Ich möchte nämlich gern von dir wissen, wann du gestern abend heim bist und auf welchem Weg.«

Sogleich und ohne Zögern gab ihm der Nachbar Richard die gewünschte Auskunft:

»Das kann ich dir ganz genau verraten, wenn du es wissen willst, daß ich gestern auf die Nacht noch an meinem Strohhaufen war, um ihn mit Steinen zu beschweren … Es mag etwa Viertel nach zehn gewesen sein, daß ich auf dem Heimweg bei dir vorbeigekommen bin … So wahr ich leb', ganz sicher.«

»So wahr ich leb', ganz sicher?« ahmte Augustin spöttisch seine Worte nach. »Fragt sich nur, woher du diese Wahrheit hast. Nur komisch, warum du das so betonst, noch ehe man daran zweifelt!«

»Betonen? … Wer betont denn?« stotterte der Nachbar etwas verwirrt.

»Jawohl, einen schönen Kuppelpelz hast du dir da verdient. Aber ich danke schön … du bist nicht viel besser wie der andere. Jawohl, du kannst großartig nachplappern, was man dir eingeblasen hat. Aber das sag' ich dir, du tust, was du kannst, ›so wahr ich leb', ganz sicher‹, weil du nichts weiter bist als ein Strohmann, gerade recht, um als Vogelscheuche in den Birnbaum gehängt zu werden.«

Damit drehte er sich auf dem Absatz herum und ließ den Nachbar Richard sitzen, der unausgesetzt mit seinem Stock herumfuchtelte und unverständlich vor sich hinredete. Wütend wie ein Hund, der die Zähne fletscht und das Fell sträubt, ging er fort.

Sein Heimweg war nicht weit. Aber seine Frauen waren nicht mehr da; sie hatten sich aus dem Staub gemacht. Er stampfte mit dem Fuß auf, blieb geraume Zeit auf der Schwelle stehen und wartete auf sie. Da er aber einzusehen begann, daß sie sich wohl kaum so bald wieder blicken lassen würden, entschloß er sich, zumal sie ihm nicht auskommen konnten, zum Gemeindevorsteher zu gehen, dem er pflichtgemäß von seiner Rückkehr Meldung machen mußte, anstatt hier seinen Vormittag zu vertrödeln.

Die Inselbewohner begannen ihr Tagewerk. Ein paar Frauen arbeiteten in ihren Gärtchen. Aber wie merkwürdig, sie alle hinter ihren Zäunen und sogar aus den Häusern sahen ihm nach mit einer ungewöhnlichen Aufmerksamkeit. Er fühlte, daß irgend etwas in der Luft lag. Öfters hörte er seinen Namen nennen, und er fragte sich, was sie nur haben. Aber in seinen Gedanken war er noch immer mit seinen Frauensleuten und dem Nachbar Richard beschäftigt, und sein Groll war so heftig, daß man ihm bei seiner Ankunft im Pouet-Viertel noch deutlich die innere Verbissenheit anmerken konnte.

Ein paar Männer fuchtelten mit den Armen herum, als sie ihn von weitem kommen sahen, und schienen ihn zu rufen.

»Was ist denn los?« fragte er sich.

Und dann kam ihm der Bürgermeister schon auf der Türschwelle mit erregten Gebärden entgegen.

Augustin verstand sich sehr gut mit Herrn Moyon, der als alter, erfahrener Kapitän eine besondere Stellung auf der Insel einnahm: Er bezog nämlich eine Pension. Auf ihn hielten die Inselleute große Stücke, denn sie rühmten ihm nach, daß er wie kein Zweiter politisch erfahren sei und ein untrügliches Gefühl für Gerechtigkeit hätte. Er lebte hier schon lange als Witwer, ganz zurückgezogen in seinem Häuschen, das genau so verräuchert wie alle übrigen war. Sein immer rosiges Gesicht, ebenso wie die Kaninchenfellmütze und der dicke schwarze Stock aus hartem Moorholz, den er wegen des Zipperleins stets bei sich trug, waren nicht von ihm wegzudenken.

»Na, alter Freund«, rief er ihm schon von der Schwelle aus zu, sobald Augustin nähergekommen war, »ich sehe dir ja schon von außen an, daß du heute morgen keinen Anlaß zum Frohsein hast! Weißt du schon von der Sache? Hast du schon jemand gesprochen?«

»Nun, wie man's nimmt«, gab Augustin etwas verwirrt zur Antwort.

»Er weiß noch nichts … Er weiß noch nichts!« rief der Bürgermeister und ging vor ihm hinkend ins Haus, wo er sich auf der Ofenbank niederließ.

»Ach«, meinte er schweratmend, »mein braver Luzifer, das wird ein schweres Umgehungsmanöver werden.«

Luzifer war der Spitzname Augustins.

»Setz dich zu mir her!«

Augustin nahm auf der anderen Bank im Kamin Platz.

»Ja, ja, mein Lieber«, sagte der Bürgermeister, indem er ihn aufgeregt ansah, »augenblicklich und ohne allen Verzug mußt du dein Boot nehmen und in alle Windrichtungen fahren.

Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn.

»Wie ein Blitz hat das bei uns eingeschlagen.« Das Reden fiel ihm offensichtlich schwer.

Bestürzt über diese Einleitung saß Augustin erwartungsvoll da, während er besorgt das ernste, ganz veränderte Gesicht des Alten beobachtete.

»Wie der Blitz, mein Lieber, wie der Blitz! Man will uns die Brière nehmen.«

Augustin sprang auf.

»Wie soll ich das verstehen?« rief er.

»Ich hab's zuerst auch nicht verstanden«, erwiderte der Bürgermeister mit einem Ausdruck tiefen Kummers. »Aber ich sage dir noch einmal, ich wiederhole dir: Man will uns die Brière nehmen.«

Augustin verschränkte die Arme und sah Herrn Moyon bestürzt an. Seine Frau und Theotist, ebenso der Nachbar Richard waren in diesem Augenblick vergessen.

»Oh, sehr einfach«, fuhr der Bürgermeister fort, »und überdies scheint man es sehr eilig zu haben. Ich will dir alles erzählen. Zwei Tage, nachdem du fort warst, hat sich die Sache abgespielt … Der kleine Kaufmann aus Caiffa, der alle drei Monate hierherkommt, hat mir als erster Andeutungen davon gemacht … Er kam hier vorbei … ›Herr Moyon‹, sagte er zu mir. – ›Na, was denn, mein Junge?‹ – ›Sie wissen wohl noch nicht, was man sich erzählt? Es soll da ein paar hochgestellte Leute geben, die, unterstützt von der Regierung, sich die Brière aneignen wollen, um sie für ihre Zwecke auszubeuten. Das pfeifen in Montoir und in Donges bereits die Spatzen von den Dächern.‹«

»Aber«, warf Augustin ein, »das müssen ja wohl Analphabeten sein, solche, die nicht im Gesetzbuch lesen können.«

»Doch, doch … sie haben's sehr wohl gelesen. Ich habe die Sache anfangs auch lächerlich gefunden. Bei Gott, ein schöner Happen, die Brière. Allein am folgenden Tag kam das gleiche Gerücht, dieses Mal vom Schirmflicker Prosper; und als der Schreiner Henion von Penhouet heimkam, erzählte er mir dasselbe. Viele reden davon … und immer wieder andere. Das stieg wie eine Flut, das griff um sich wie ein Lauffeuer; du kannst dir keinen Begriff machen, wie sehr sich die Köpfe erhitzten. Schließlich wurde die Sache doch zu bunt, und so entschloß man sich am folgenden Sonntag im Gemeindenrat, an die Präfektur zu schreiben. Man bekam zur Antwort, die Gemeinden hätten keinen Grund, sich aufzuregen. Es hätten zwar einige Vorbesprechungen mit einer Gesellschaft stattgefunden – mit welcher, wurde nicht gesagt – hinsichtlich einer möglichen Abtretung der Brière, doch wäre man zu keinerlei Ergebnissen gekommen, so daß von einer Veränderung in der gegenwärtigen Rechtslage der Moore nicht die Rede sein könne. Diese Erklärung, die sich um unsere verbrieften Rechte um keinen Deut schert, schien uns wenig verheißungsvoll, und so wurde ich vom Gemeindenrat zusammen mit dem Bürgermeister von Saint-Malo beauftragt, mich auf die Bahn zu setzen und bei den amtlichen Stellen da draußen einmal herumzuhorchen … Man schickte uns zu irgendeinem, der uns eröffnete, daß in der Tat eine einflußreiche Gesellschaft einen Augenblick daran gedacht habe, zwecks Erwerbung der Moore von Brière in Unterhandlung zu treten, um ihre Auswertung im großen zu betreiben. Aber bis dahin könne noch viel Wasser ins Meer fließen. Ich antwortete: ›Das ist alles ganz gut und schön, aber wenn wir unsere Aale en gros oder en detail verkaufen, so haben wir allein die Berechtigung, unsere Ware feilzubieten … Was hat also die Wasser- und Forstverwaltung damit zu tun, der bestenfalls nur ein Überwachungs- und Kontrollrecht über unsere Moore zusteht?‹ – ›Aber, Herr Bürgermeister‹, sagte er zu mir, ›gehört denn die Brière nicht zufällig auch zu Frankreich?‹ – ›Nein‹, gebe ich ihm zurück, ›keineswegs, wenigstens nicht so, wie Sie es meinen. Die dreizehntausend Hektar Brière sind Eigentum der siebzehn Ufergemeinden. Sie sind es auf Grund von Privilegien – und das wissen Sie sicher ebensogut wie ich –, die ihr vom Herzogtum Bretagne im Jahre 1462 verliehen worden sind. Diese Urkunden wurden alsdann von König Ludwig XVI. in allen Einzelheiten bestätigt. Das ist so eindeutig, daß Ihnen als Fremder nicht einmal das Recht zusteht, auch nur einen Fuß auf unsere Moorheiden zu setzen. Und diese Urkunden, diese Freibriefe haben wir nicht nur in der Tasche; die fünfhundert Jahre Nutznießung haben sie in den Schädel eines jeden Inselbewohners eingeschrieben. Er kennt nur dies als sein Recht an, für sich Torf zu stechen, sein Schilf zu schneiden, seine Fische zu fangen und auf seinen Moorgründen zu hausen, ohne von jemand dabei gestört zu werden.‹«

»Respekt!« rief Augustin. »Dem haben Sie aber gehörig Bescheid gesagt.«

»Ich dachte auch gar nicht daran, mir ein Blatt vor den Mund zu nehmen.«

Der alte Bürgermeister hatte sich so lebhaft in die Erinnerung an diese Unterredung zurückversetzt, daß man meinen konnte, der Beamte von damals würde ihm im Kamin gegenübersitzen.

»›Und das ist auch der Grund‹, sag' ich, ›weshalb wir uns wundern, daß wir in der besagten Angelegenheit überhaupt nicht gefragt werden.‹ – ›Man hätte Sie schon noch gefragt.‹ – ›Na, und warum hat man diese Pläne nicht weiter verfolgt?‹ – ›Da fragen Sie mich zuviel. Der Staat wird wohl seine Gründe dafür haben (jetzt kam er uns auch noch mit dem Staat). Es besteht keinerlei Veranlassung, uns in seine Pläne einzuweihen. Unsere Präfektur ist nicht das Innenministerium. Und dann dürfen Sie auch nicht vergessen, Herr Bürgermeister, daß Sie Schulden haben.‹ – ›Oha‹, sagte ich zu mir, ›Jetzt weiß ich, woher der Wind weht.‹ – ›Ja, die Gemeinden haben die fünfhunderttausend Francs Schadenersatz, zu denen sie in dem Prozeß wegen Zerstörung der Anlagen am Brivet verurteilt worden sind, nie bezahlt. Das sind große Lasten für sie, gewiß!‹ – ›Na also, dann sollen sie eben ihren Anteil an der Brière verkaufen … Auf diese Weise brächten sie ihre Schulden los.‹ – Ha, unsere Schulden! … Verstehst du, Augustin, begreifst du, mein Lieber«, sagte der Bürgermeister, indem er dem Aufseher aufs Knie klopfte. »Hinter diesem Gerede verbirgt sich ja nur die Profitgier all dieser Spekulanten. Oh, ich merkte genau, daß es diesem Roßhändler nur ums Geschäftemachen ging. Ich ließ ihn reden. ›Rechte der Einwohner von Brière, mag sein, aber die Zeiten haben sich geändert. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn sich heute oder morgen ein paar unternehmungslustige Köpfe finden würden, die, auf ein großes Kapital gestützt, daran dächten, ein Land nutzbar zu machen, das unter den bestehenden Verhältnissen im Grunde genommen für die Allgemeinheit doch mehr oder weniger verloren ist.‹ – ›Verloren? Für die Allgemeinheit? Aber gehören wir denn nicht auch dazu mit unseren fünfzehntausend Seelen?‹ Jetzt konnte ich mich nicht mehr beherrschen. ›Nun aber Schluß damit!‹ sagte ich. ›Aus Ihren Worten ersehe ich, daß die Sache durchaus nicht so endgültig begraben ist, wie Sie behaupten.‹ – ›Aber bitte, bitte!‹ – ›Schon gut … Aber vielleicht wird bald die Zeit kommen, wo mehr als eine Schreiberseele sich daran die Zähne ausbeißen wird in diesem Land.‹

Dann sind wir hin zu unserm Rechtsbeistand. Wie er uns sagte, steht die Angelegenheit sehr ernst. Er nannte uns Namen … ›Das mißlichste an der ganzen Sache‹, erklärte er uns, ›ist der einklagbare und vollstreckbare Charakter der Staatsforderung an die Gemeinden.‹ Das waren seine Worte. ›Der Staat macht die Gesetze, wie es ihm gefällt. Er könnte vielleicht sogar ein Interesse daran haben, die Zahlungsunfähigkeit der Gemeinden zum Vorwand zu nehmen … Das vordringlichste wäre, daß diese möglichst bald ihre Schulden loswürden, um dann wieder Ellenbogenfreiheit zu haben und sich zur Wehr setzen zu können.‹ ›Selbstverständlich‹, sag' ich, ›die Sache hat aber noch einen anderen Haken, daß nämlich die alten Urkunden mit unseren verbrieften Rechten beim großen Archivbrand vernichtet wurden, was ich denen da drüben freilich nicht gesagt habe.‹ – ›Aber Sie haben doch zweifellos beglaubigte Abschriften davon?‹ – ›Sicher, da doch jede Gemeinde um 1820 herum jeweils ein Exemplar davon bekommen hat.‹ – ›Schön, eine dieser Kopien möchte ich den Akten beifügen, und ich glaube, daß das genügt, um die Verteidigung mit guten Aussichten führen zu können.‹

Danach machten wir uns wieder auf den Heimweg. Hier waren sie alle ganz aus dem Häuschen. Beinahe hätten sie einen Burschen gelyncht, so einen großen, rothaarigen Kerl, der sich ohne ersichtlichen Grund in der Heide herumtrieb … Ich habe sie ein wenig beruhigt mit dem Hinweis, daß doch auf Grund der Dokumente nichts gegen sie unternommen werden könnte. Leider«, fuhr er mit etwas gedämpfter Stimme fort, während Augustin beim Zuhören finster in die rußigen Herdsteine starrte, »leider steht es womöglich noch schlimmer, als ich dir soeben andeutete … Wir haben unsere Archive durchwühlt, in allen Akten gesucht. Von den Patentbriefen keine Spur, so wenig wie in meiner Mütze da … Lediglich ein Schriftstück kam dabei zum Vorschein, aus dem hervorgeht, daß die Dokumente nicht, wie man annahm, den Bürgermeistereien, sondern in jeder Gemeinde einem angesehenen Ortsbürger zur Aufbewahrung anvertraut worden waren … Aber auch in dieser Richtung war alles Suchen vergeblich. Ich habe hier nachforschen lassen; man hat alle Einwohner darüber befragt … Nichts! … Keine Spur davon … Nicht der geringste Fingerzeig … All das ist in der langen Zeit bei Vermögensverteilungen auseinandergegangen, ist durch Erbschaften in alle Winde zerstreut … vielleicht auch von Motten gefressen … Jedenfalls, hier auf den Inseln sind sie verschwunden.«

Augustin war ganz benommen.

 

»Eine Hoffnung besteht noch, nämlich, daß sich etwas in den anderen Gemeinden finden läßt. Irgendwo, das ist ganz sicher, müssen die Briefe stecken. Zum Teufel auch! Eines der Dokumente muß wenigstens noch übriggeblieben sein, oder doch ein Stück davon! … Das sagen alle in der Gemeindentagung. Es ist unmöglich, daß ein Schriftstück, von dem das Leben aller hier abhängt, sich wie Rauch im Kamin verflüchtigt hat. Da könnte man sich ja gleich drüben auf der anderen Seite der Loire begraben lassen … Es bleibt also nichts anderes übrig, als zu suchen, die Moore zu durchstreifen und in allen Dörfern Nachschau zu halten … Hörst du, Augustin? … Dich hat man nun dafür bestimmt als den geeignetsten für diese Aufgabe.«

Augustin horchte gespannt auf.

»Du wirst also losziehen und überall nachforschen … Am besten, du fängst mit den Mooren von Montoir und Trignac an, ganz im Süden, und dann wieder zurück über Pintre, Saint-Malo, jede einzelne Ortschaft. Trau den Beteuerungen der Leute nicht. Die Hälfte ist so blöd wie eine Mücke, die über ein Buch spaziert; sogar die, die lesen können, halten ihre Zeitung verkehrt … Dreh alle ihre Kästen um, miste ihre Schränke aus! Ich habe dir da einen Ausweis geschrieben, den du, wenn nötig, jedem unter die Nase halten kannst, der sich dafür interessiert.«

»Da ist er.«

Die H. H. Gemeindevorsteher der Brière, die sich versammelt haben, um zur Wahrung ihrer Gemeinderechte die notwendigen Mittel zu erwägen, haben den Aufseher Augustin aus Fédrun zum bevollmächtigten Vollstrecker ihrer Beschlüsse ernannt. In Anbetracht dessen ist jeder Einwohner, der im Gebiete besagter Gemeinden ansässig ist, bei Strafe öffentlichen Verweises gehalten, sich in keiner Weise den Nachforschungen und Untersuchungen zu widersetzen, zwecks derer besagter Augustin sich einstellen wird mit dem Auftrag, die Patentbriefe zu beschaffen, die zur Verteidigung der Freiheiten des Landes notwendig sind.

»Da nimm!«

Herr Moyon wischte sich mit dem Ärmel über die Stirne.

Mit finsterem Blick nahm Augustin das Schriftstück in Empfang.

Langsam faltete er das Blatt zweimal zusammen. Die Muskeln um seine Mundwinkel zuckten erregt.

Auch ihn traf das wie ein Blitz. Seine geliebte Brière mit all ihren Einzelheiten stand vor seiner Seele: das Wild im Schilf, die Fische in den Tiefen, die schweren Aale in den Flüssen, überall Binsen für Heu, Rohr für die Dächer, Seegras für Matratzen, Weiden zum Flechten der Stühle. Unerschöpflich sind ihre Gaben, die man nur einzusammeln braucht wie Manna, das vom Himmel gefallen ist, angefangen vom Entenmist, mit dem man die Gärten düngt, bis zu dem harten Moorholz, diesen uralten, vorsintflutlichen Bäumen, vor denen du staunend stehst, und aus denen die Balken der Häuser gezimmert werden.

»Ach!« kam es gequält aus seiner Brust, indem er seine große Hand, die wie eine eiserne Spinne anmutete, Herrn Moyon entgegenstreckte. »Hätte man doch eine gemeinsame Kasse eingerichtet, statt das Geld immer wieder auszugeben, wie es gerade einem im Gemeindenrat einfiel.«

»Das kann lange dauern, bis die Schulden bezahlt sind«, stimmte Herr Moyon zu. »Das hab' ich ja immer gesagt … aber da fehlte es stets an der nötigen Ordnung. Ja, wäre man planmäßiger bei der Ausbeutung der Brière verfahren! Aber so ist sie wie ein Schiff, das ein Leck hat … Könntest du dir übrigens im Ernste vorstellen, daß es hier auch nur drei oder vier Menschen gibt, die sich von einer Enteignung der Brière goldene Berge versprechen? … Ach, siehst du, das Leben ist ein ewiger Kampf.«

Nun versanken sie in Schweigen.

Ein heller Lichtschein fiel durch die offene Tür in das dunkle Zimmer und beleuchtete die Backsteinfliesen des Bodens, auf dem sich ein paar Hühner gackernd herumtrieben. Draußen quakten die Enten im Wasser, schnatterten die Gänse, und es klang, als ob es aus den Tiefen des Weihers käme – alles Töne, die beiden so vertraut waren, als seien sie ein Stück ihres eigenen Wesens.

»Also, mach dich auf die Socken! … Es ist keine Zeit zu verlieren.«

Augustin schüttelte sich, wie wenn er aus einem bösen Traum erwacht wäre, stand auf und sagte laut und zuversichtlich:

»Ich werde sie beischaffen.«

»Recht so, du bist ein Kerl«, sagte Herr Moyon zu ihm. »Du läßt den Kopf nicht hängen wie die anderen.«

»Wenn die Seele in einen Sturm gerät, muß man sie eben um so höher fliegen lassen«, antwortete er, während der Bürgermeister ihn hinkend zur Türe begleitete, die Hand auf seine Schulter gelegt.

 

Draußen auf den Wegen und Dämmen wurden Stimmen laut. Sobald es sich herumgesprochen hatte, daß Augustin zu einer Besprechung beim Bürgermeister sei, munkelte man, daß dieser dem Aufseher einen für das Schicksal der Insel hochwichtigen Auftrag geben werde. Wie ein Lauffeuer war es durch das Dorf gegangen, von einer Hütte zur andern übergesprungen, und schon sahen alle die Rauchwolken der Fabrikschlöte über ihre Moore hinziehen fast zum Greifen nahe. Einige Frauen standen auf der Wiese beisammen, noch mehr auf den Dämmen; eine jede plapperte in atemloser Hast ihre Ansicht heraus über Recht und Eigentum, während die Männer sich in ihre Boote stellten und erwartungsvoll und mit Besorgnis durch die Zweige spähten.

Als Augustin herauskam, wurde er mit Fragen bestürmt. Achselzuckend meinte er:

»Laßt doch den Karpfen ruhig den Fluß hinaufschwimmen.«

Und zu den Frauen sagte er:

»Geht heim an euere Arbeit, ihr Klatschbasen!«

Zu Hause warteten seine Frau und seine Tochter ängstlich auf die Rückkehr des Vaters. Sie hatten sich in die hintere Kammer geflüchtet und bereiteten sich auf den unvermeidlichen Auftritt vor; denn Nachbar Richard hatte ihnen getreulich über den Besuch berichtet. Alle Augenblicke hielten sie Ausschau, ob er käme.

Als aber Augustin ins Haus trat, würdigte er sie keines Blickes. Er schnitt sich ein Stück Brot ab und eine Scheibe Speck. Sobald er mit dem Essen fertig war, bei dem er ihnen den Rücken zugewandt hatte, so daß sie nur die Bewegung seiner Ohren beim Kauen sahen, ging er wieder.

Die Nachbarn vom Chat-Fourré sahen ihm neugierig nach, als er zum Ufer ging, die Kette seines Bootes losmachte und dann mit der Stange abstieß. Er fuhr nicht aufs Meer hinaus, sondern südwärts, ohne sich um jemand zu kümmern. Am Arm trug er sein kupfernes Amtsabzeichen.

 

Die Insel ist in einen blauen Dunstschleier eingehüllt. Flachshaarige Kinder lehnen vergnügt an den moosbewachsenen, alten Mauern. Golden wiegt sich das Schilf im Moor. Der Tag ist wie jeder andere: Wie immer steigt eine warme Luftschicht draußen aus den schwarzen Torfstapeln zitternd auf. Eine Schar Gänse schlägt mit den Flügeln; oben zieht ein Falke seine Kreise.

Trotzdem das Leben seinen gewöhnlichen Gang nimmt, ist die Stimmung über Fédrun düster und gespannt. In Pendille rumort es hinter verschlossenen Türen. Das gälische Mazin mit seinen stillen Auen hat noch nie so tief geträumt.

Jedesmal, wenn eine Frau aus ihrem Haus kommt, um Holz oder Wasser zu holen, schaut sie unsicher in die Weite. Man merkt ihnen allen an, daß sie in ihrer Angst am liebsten zum Horn greifen möchten, mit dem sie ihre Männer, die draußen beim Schilfschneiden sind, heimrufen.

Zwar geht der Brièrone auch heute seiner gewohnten Arbeit nach; er kratzt ein wenig Humus aus verrottetem Schilf zusammen, schneidet Seegras, legt seine Aalreußen aus, kommt daher in seinem geflickten Rock und torfverschmierten Gesicht, den Blick am Boden; und wenn man anderen Menschen nachrühmt, sie seien aus Granit gemacht, dann kann man von den Inselbewohnern sagen, sie seien aus Torf erschaffen; denn sogar wenn sie weinen, quillt es wie Torf aus ihren Augen. Wer heute im Boot fährt, steuert ganz vorsichtig, als fürchte er, unversehens in dem großen Netze hängen zu bleiben, das ihn sozusagen von allen Seiten bedroht.

Man wußte jetzt genau darüber Bescheid, was zwischen dem Bürgermeister und Augustin verhandelt wurde, und daß dieser heute unterwegs war, um nach den so wichtigen Dokumenten zu fahnden. Die Hoffnung, daß er sie auffinden würde, hatte die Gemüter ein wenig beruhigt.

Augustin war zwar nicht sehr beliebt; er war eher gefürchtet. Freunde hatte er keine. Man sah ihm lieber auf den Rücken als ins Gesicht, aber man setzte großes Vertrauen auf alles, was er in die Hand nahm. Für diese heikle Angelegenheit war er jedenfalls der geeignete Mann, einer, der nicht mit sich spaßen läßt, der alles schlau einzufädeln versteht und schnell zupackt. Dieser Gewaltmensch mit dem durchdringenden Blick sprach nur, um etwas vorauszusagen. Aber seine Prophezeiungen trafen immer ein. Er suchte hinter alles zu kommen, ließ sich von keiner Fährte abbringen, mit einer Willensstärke, die alles an sich riß wie ein Raubfisch, der sich seine Beute aus dem großen Schwarm herausholt.

Im ganzen Chat-Fourré gab es nur zwei Frauen, die von dem Tagesereignis nicht berührt wurden, die müßig in ihrem Häuschen saßen und sich zu keiner Arbeit aufraffen konnten.

»Ach«, flüsterte Frau Augustin, »mir zittern noch alle Glieder«, während sie ihr Kopftuch zurechtrückte.

»Mir auch«, sagte Theotist, die wie gelähmt dastand, die Augen starr in die Ferne gerichtet. »Er weiß alles, er errät alles … Ich habe so Angst vor ihm.«

Diese Angst war nicht neu; sie wußte es gar nicht anders. Schon als ganz kleines Kind wurde sie unruhig in ihrer Wiege, wenn sie den Schritt ihres Vaters auf dem Wege draußen hörte. Mehr als einmal jagten ihr selbst seine Kleider, die hinter der Tür hingen, einen Schrecken ein. Und wenn er ins Zimmer kam, versteckte sie sich vor ihm.

Jetzt freilich waren es andere Gründe, sich vor diesen ungewöhnlichen, alles wissenden Augen zu fürchten. Und trotzdem konnte sie nicht anders, wenn es auch noch so töricht war, sie mußte das in Kauf nehmen. Leidenschaftlich von Natur aus, war sie keineswegs gewillt, aus Furcht vor diesem Blick, der bis in ihre Seele drang, das Opfer zu bringen, das man von ihr forderte, nämlich auf ihr Liebesglück zu verzichten. Diese Auflehnung erregte Aufsehen; denn seit Jahrhunderten hatte es das nicht gegeben, und alle wußten davon. Anfänglich hatte sie selbst ein solches Wagnis für verrückt gehalten. Wie alle anderen bildete sie sich in ihren Jungmädchenjahren nicht wenig darauf ein, als Theotist Augustin in Chat-Fourré geboren zu sein und nicht in irgendeinem beliebigen Ort der Erde. Alles, was nicht aus dem alten Geblüt der Brière stammte und auf den Inseln geboren war, alles, was nach Uferbauer aussah und nicht auf dem Boote beheimatet war wie die Eidergans auf dem schwimmenden Nest – all das schied schon von vornherein aus, wenn von einer möglichen Verbindung gesprochen wurde. Nie hätte sich zum Beispiel ein Mädchen aus Fédrun mit einem Burschen aus Mayun einlassen können, einem Dorf an der nördlichen Grenze des Moores, ohne sich dem schlimmsten Spott auszusetzen. Diese armen Kerle standen schon von jeher in schlechtem Ruf. Mit einem »Scher dich zum Teufel« wurden sie abgetan. Es geht die Sage, daß sie nicht fähig waren, eine Volkszählung abzuhalten, und daß der große Rastelbinder kommen und sie Mann für Mann mit mächtigen Peitschenhieben von einer Straßenseite auf die andere treiben mußte. Es fehlte ihnen etwas im Oberstübchen. Es gibt ja auch Kühe, die nur ein Horn haben … Kurz, man verachtete sie. Und nicht nur in den Köpfen fand dieser Gegensatz seinen unbarmherzigen Ausdruck; er wurde sogar in den Dingen deutlich: im Aussehen der Häuser, in der Farbe des Bodens, in der Form der Bäume. Die Unstimmigkeit war vollkommen und unbedingt, und zwar in jeder Weise und auf jedem Gebiet. Und ausgerechnet einem jungen Mann aus diesem Dorfe hatte Theotist ihre Liebe geschenkt.

Ein merkwürdiges Geschick hatte die Lebensfäden der beiden, einen weißen und einen schwarzen, miteinander verknüpft, und zwar so fest, daß der Knoten nicht mehr zu lösen war.

Das hatte sich vor einem Jahr bei der Flurkapelle zugetragen an jenem Sonntag, da man das Fest des heiligen Cornel, des Viehpatrons, beging. Sie und ihre Mutter nahmen an der Feier teil, um die junge Kuh hinzuführen, die sich draußen auf der Weide im Frühling ein Geschwür zugezogen hatte. Die ganze Umgebung ist an diesem Tag auf den Beinen, um der feierlichen Prozession nach der Vesper beizuwohnen, bei der das Standbild des Heiligen auf einem Wagen mitgeführt wird, vor den zwölf Ochsen mit vergoldeten Hörnern und Behängen aus scharlachrotem Samt gespannt sind.

Während die Mutter beim Gottesdienst weilte, war Theotist draußen auf dem Platze bei dem Tier geblieben. Man hätte das Ganze für einen Viehmarkt halten können, wäre der Boden nicht mit Fenchel und Buchs bestreut gewesen. Der Fenchel duftete würzig an diesem prächtigen Sommertag. Aber die Kuh war sehr unruhig. Als nun plötzlich die Kirchentüren aufgingen, scheute sie vor den brennenden Kerzen und dem lauten Gesang und brach aus. Theotist wollte sie halten. Zu allem Unglück hatte sie sich die Leine fest um das Handgelenk geschlungen … Sie wird mitgerissen … geschleift … Eine Staubwolke wirbelt auf … Das Mädchen prallt gegen eine Böschung … Ein Hund kommt kläffend gerannt … Die rasende Kuh zerrt sie in eine Wiese, auf der große Kirschbäume stehen … Jeden Augenblick kann sie gegen einen Baum geschleudert werden … Das wäre ihr sicherer Tod … Da springt ein großgewachsener Mann herbei, packt die Kuh bei den Hörnern, ringt sie zu Boden, indem er ihr den Kopf zurückbiegt, und drückt sie mit dem Knie auf den Rasen nieder.

Atemlos und zerschunden, wie sie war, dankte Theotist diesem Mann aus ganzem Herzen.

Er hob sie auf; dabei sah er sie etwas scheu mit seinen großen braunen Augen an.

Jetzt waren auch andere Leute herbeigeeilt und standen um sie herum.

»Solche Hilfe vergißt man nie«, sagte sie ihm noch.

Weder er noch sie haben es je vergessen. Sie sahen sich wieder. Der Bursche hatte es fertig gebracht, heimlich nach Fédrun zu kommen. Schließlich war es ihm zur lieben Gewohnheit geworden, und Theotist bestärkte ihn dabei. Durch keine Macht der Welt hätte er sich auch davon abbringen lassen. Die ruhigen, sanften Augen dieses großen Burschen aus Mayun hatten sie belehrt, daß es nicht nur Inselbewohner gibt, sondern daß auch da draußen prächtige Menschen wohnen; und je mehr sie die Rauheit der Männer hier zu verabscheuen begann, um so härter verwünschte sie deren stolze Überheblichkeit. Und diese außergewöhnliche Liebe erfüllte sie nun auch mit einer Zärtlichkeit, deren sie sich nie für fähig gehalten hätte. In dieser tiefen Leidenschaft loderte die ganze Glut, die durch den Hochmut früherer Generationen unterdrückt worden war. Er hatte um ihre Hand angehalten. Der Vater, hartherzig, wie er war, spuckte Gift und Galle: »Lächerlich, wenn ein Truthahn einer Ente nachläuft!« Ganz Fédrun hatte sich über die beiden lustig gemacht, und bei den Inselleuten kam eine neue Redensart auf: »Laßt doch den Esel von Mayun nach seinem Liebchen schreien!«

Theotist erwiderte diese Anzüglichkeit mit stolzem Schweigen. Nachts aber vergoß sie zornige Tränen und raufte sich die Haare.

Ihre Mutter verhielt sich keineswegs ablehnend. Wohl hatte auch sie ihre Bedenken gegen diese Verbindung, aber sie wollte dem Glück ihrer Tochter nicht im Wege stehen. Ihrem Kinde begegnete sie mit einer Art Ehrfurcht; sie kam sich unbedeutend neben ihr vor. Theotist war am Fronleichnamstag zur Welt gekommen, und dieses Zusammentreffen hatte ihr den Glauben an eine höhere Fügung eingegeben. Diese Zuversicht wurde noch durch ein anderes Ereignis bestärkt: Theotist war kaum vier Jahre alt, als sie eines Abends spurlos aus dem Hause verschwunden war. Weder am Ufer noch im Dorf konnte man sie finden. Nach zwei Tagen vergeblichen Suchens hatte sich Nathalie zu einer Wallfahrt auf den Kalvarienberg von Pont-Château aufgemacht und bat den Priester, der soeben an den Altar treten wollte, die heilige Messe für ihr verlorenes Kind aufzuopfern. Genau zur gleichen Zeit, wie man später erfuhr, hörte ein Mann, der durch das Moor von Camérun ging, im Schilfdickicht einen Schrei. Er sprang in den Graben und fing ein kleines Mädchen in den Armen auf. Es war Theotist. Sie schien nicht im geringsten verängstigt; ihre Kleider waren vollkommen trocken. Als man sie fragte, wer sie denn so weit fortgeführt hätte, antwortete sie: »Ein kleiner Knabe.« »Und hattest du keinen Hunger?« – »Der Kleine hat mir ein Stück Weißbrot gegeben.«

»Durch ein Wunder ist sie damals nicht verhungert, durch ein Wunder hat sie auch den Burschen kennengelernt«, erklärte Frau Nathalie in Erinnerung an dieses Erlebnis ihrem Manne.

Aber sowohl Mutter wie Tochter fanden bei ihrem Herrn und Gebieter für diese neue Seligpreisung kein Verständnis.

 

»Ach Gott, ach Gott«, seufzte die Alte, »warum mußte der Bursche auch gerade gestern abend hierher kommen!«

»Er hat es Euch doch gesagt, Mutter, daß er gleich nach seiner Rückkehr von Nantes über den Besuch bei dem Bruder berichten wollte; und überdies ist ja auch dessen Frau so krank.«

»Ja, ja, das weiß ich schon, Theotist … Was war ich doch für ein dummes Ding, daß ich mir so etwas aufgebürdet habe! Lieber Gott im Himmel, warum hast du es nicht so gefügt, daß ich ins Kloster gegangen bin, damals, wo ich gerne Schwester geworden wäre! Aber ach, du hast es anders gewollt. Ich muß mir auf dem Dornenweg der Ehe die Seligkeit verdienen.« Dann wandte sie sich zu ihrer Tochter: »Reiz ihn nicht, er ist fürchterlich! Wie oft hat er mich schon geschlagen! Er ist nicht davor zurückgeschreckt, seinen Sohn zu verfluchen. Er hat kein Herz in seiner Brust, sondern ein Stück schwarzes Moorholz statt dessen … Reiz ihn nicht!«

Sie trippelte hinaus, wobei ihre Röcke hin und her wippten. Die tiefen Falten in ihrem Gesicht spiegelten die Erregung wider, die in ihrer Seele vorging.

Ihre Eltern, ein gewisser Buffetrille Barbenavant und Tristine Mahé, waren nicht gerade begütert. Ihre Mutter hatte übrigens bei einem Streit mit der Nachbarin der Schlag getroffen. Eine kleine, sumpfige Wiese und die Hütte ihrer Eltern, die sie an einen Bootsbauer vermietet hatte, waren ihre ganze Mitgift, und sie hütete diesen Besitz wie ihren Augapfel. Fünfunddreißig Jahre war sie jetzt schon mit Augustin verheiratet; seit fünfunddreißig Jahren war sie ihm gram um all der Sünden willen, die sie in ihrer Ehe begehen mußte. Vielleicht hatte er es auch wirklich nicht verstanden, ihr angeborenes Mitteilungsbedürfnis zu befriedigen, da er nie den Mund auftat, wenn er von seinen Fahrten heimkam, und nie erzählte, was er gesehen und gehört hatte …

Aber dieses Mal hatte sie fast Angst davor, er könnte mehr reden, als es sonst seine Gewohnheit war. Sein Schweigen am Morgen besagte noch nichts; sie wußte ja ohnedies, daß seine Laune am Abend stets schlechter war.

Den ganzen Tag über aß sie nur ein wenig Aal vom Tag zuvor. Aber es schmeckte ihr nicht. Die Arbeit ging ihr nicht von der Hand; etwas fahrig machte sie sich bald hier, bald dort zu schaffen. In ihrer Zerstreutheit griff sie nach der Kaffeemühle statt dem Milchtopf, flehte Gott um eine Erleuchtung an und stöhnte zum Steinerweichen.

Theotist konnte sich nicht einmal dazu aufraffen, ihre Haare zu kämmen. Gegen Abend zog sie sich in die kleine Kammer zurück, deren Fenster auf den Obstgarten hinausging. Es war ein Aufbewahrungsraum, in dem Angelgeräte, Werkzeuge zum Torfstechen und alte Kleider an den Wänden herumhingen. In einem Schrank hob Frau Nathalie all ihre Sachen auf, die sie nur selten brauchte, etwa ihre Hauben oder auch Wäsche, die nie benutzt wurde.

Seit einem Jahr stand sie dort Abend für Abend.

Hinter dem kleinen Gärtchen hatte man zwischen den Ulmen einen Ausblick auf das Moor, ebenso auf einen Teil des großen Wasserarmes, der von dem nördlichen Torfgrund herführt.

Es begann bereits zu dämmern. Wie die leuchtenden Stufen einer Treppe lagen die kleinen Schilfinseln auf den dunklen Moorwassern. Ganz im Hintergrund hob sich die tiefschwarze Linie der Bäume von der Insel Camert am flammenden Himmel ab.

Müßig ließ sie ihre Blicke schweifen.

Es schlug acht Uhr, dann neun. Nun wurde es Nacht. Die Pappeln regten sich leise. Bald verkroch sich der bleiche Mond hinter dem ewig zitternden Laub, dann kam er wieder voll zum Vorschein. Sie schaute unverwandt auf die vom Mond versilberte, glitzernde Wasserfläche, dorthin, wo sie ganz weit draußen an all den Abenden, da er kam, das heißersehnte Boot zuerst erspähte als kleines Pünktchen, nicht größer als eine Wildente.

»Mutter! … Mutter, hört Ihr was? Kommt er?«

Frau Nathalie gab ihr ein Zeichen, still zu sein. Ganz leise schlich sie zur Haustüre. Regungslos lauschte sie mit gesenktem Kopf am Schlüsselloch.

Aber niemand näherte sich; niemand kam. An diesem Abend blieb auch Augustin aus.


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