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VI.

Der Tag war schon angebrochen, als im Chat-Fourré und Etageviertel ein Gerücht umging. Niemand wußte zwar etwas Bestimmtes, was sich zugetragen hatte; aber alle Köpfe kamen zum Vorschein. Die Fragen schwirrten von Haus zu Haus. Es war zwar nichts zu hören und zu sehen; doch ein jeder fragte, was eigentlich los sei.

Einige Frauen wollten schon zu den Signalhörnern greifen. Neugierig liefen die Kinder in Scharen herum; da tauchte im Nebel an der Biegung des Uferweges eine dunkle Gruppe auf, die sich langsam und schrittweise vorwärts bewegte.

»Was tragen sie denn da?« fragte man verwundert … »Wie komisch sie gehen!«

»Das sieht ja fast wie eine Bahre aus.«

»Sie bringen jemand!« schrie eine Frau, die von der Dachluke ihres Speichers Ausschau gehalten hatte.

Neue Gesichter gesellten sich hinzu. Einige Frauen rangen die Hände und zogen es vor, lieber ins Haus zu gehen.

»Wen denn? … Wer ist es?«

Der Zug kam näher und brachte die Lösung: Es war eine Tragbahre auf den Schultern einiger Männer aus den umliegenden Ortschaften. Unter einer Decke, die steif gefroren und mit Reif bedeckt war, konnte man einen Körper erkennen. Die vier Männer machten ein ernstes Gesicht. Der Bequemlichkeit halber trugen sie ihre Mütze in der Hand und gaben sich große Mühe, beim Tragen. jede Erschütterung zu vermeiden. Die schweren, genagelten Schuhe hämmerten im Gleichschritt auf den Boden wie bei einem Trauermarsch. Nebenher liefen und trippelten viele kleine Beine, und die Kinder flüsterten einander zu: »Er ist tot! … Er ist tot!« Und überall verbreitete sich nunmehr die Neuigkeit: »Es ist Augustin! Er ist ermordet worden heute nacht.«

Vor dem Hause Augustins zögerten die Träger einen Augenblick. Sie wußten nicht, ob sie ihn dorthin bringen sollten. Als sie stehenblieben, hörte man drinnen im Hause einen lauten Schrei, und alle, die jetzt der Bahre folgten, erkannten, daß es nicht Nathalies Stimme war. Dann befahl irgend jemand: »Zu ihm heim!« und so gingen die Träger weiter.

Endlich tauchte am Ende der Sackgasse friedlich im dunstigen Morgenlicht das kleine Häuschen mit seinem weißbereiften Strohdach auf. Die gut verschlossene Tür aus altem, rissigem Eichenholz erweckte den Eindruck, als ob alles dahinter wohlgeborgen im Schlafe liege. Das kleine Haus schien noch keine Ahnung zu haben von dem Unglück, das es getroffen hatte. Ein paar Enten watschelten um die Haustür herum und warteten, bis ihnen aufgemacht würde.

»Der Schlüssel? …« fragte einer der Männer und rüttelte an der Tür, während die andern unter der Decke in seinen Taschen suchten.

Dann brachten sie Augustin in sein Bett.

Das Zimmer füllte sich mit Menschen. Eine Frau nach der andern trat stillschweigend hinzu, ganz nahe unter die dichten Vorhänge, ging dann wieder und machte der folgenden Platz, nachdem sie das Gesicht, die geschlossenen Augen und die eingefallenen, aschgrauen Wangen gesehen hatte, die mit Blut verschmiert waren … Noch kam ein leises Röcheln aus seiner Brust.

Rauchwölkchen wirbelten durch den Raum. Sie stammten von der Torfglut, die Julie in aller Eile auf einer vollgehäuften Kohlenschaufel herbeigebracht hatte. Im Nu flackerte das Feuer im Kamin, dessen Betreuung Maria übernahm, die unablässig schluchzte, während ihr die Haare ins Gesicht hingen.

Frau Nathalie war herbeigeeilt und hatte sich am Fußende des Bettes auf die Knie geworfen. Sie betete mit gesenktem Haupt das Vaterunser, das Ave Maria, das Glaubensbekenntnis, das Confiteor. Mit Schrecken wanderte ihr Blick durchs Zimmer, wo alles den Stempel der vertrauten Gewohnheiten ihres Mannes trug. Zuweilen konnte sie sich nicht enthalten, mitten im Beten einen Seitenblick auf Julie zu werfen, die Wasser warm machte und ab und zu zum Sterbenden hinging. Aber ihre Angst ließ keinen eifersüchtigen Gedanken aufkommen.

»Sein Blut ist ganz gefroren! … Steh auf, Nathalie, schnell! … Wir wollen ihn frottieren!«

»Reib du die Beine! … Reib, so fest du kannst!« kommandierte sie noch einmal, während sie selber mit einem großen Bausch aus einem grünen Wolllappen ihm die Brust rieb.

Beide mühten sich mit vereinten Kräften. Das Bett knackte unter ihrer Anstrengung; aber je mehr sie frottierten, um so schwächer wurde das Röcheln in der Brust des Verletzten.

»Es geht mit ihm zu Ende; man hört ihn nicht mehr schnaufen.«

Frauen kamen und gingen. Die Chédotale brachte einen Stoß Decken. Bei einer Gruppe tuschelte die Capable der Cadi-Nachbarin zu, daß die Tochter gar nicht da sei, was sie mit ihrem Schlangeninstinkt sofort gemerkt hatte. Sie hatte recht. Als Theotist die Tragbahre auf das Haus zuschwanken sah – sie war selber gerade erst von ihrer fürchterlichen Wanderung heimgekommen –, fiel sie in Ohnmacht. Die Mutter hatte sie aufs Bett gelegt, und erst jetzt kam sie langsam wieder zu sich.

»Reib weiter!« wiederholte Julie. »Laß nicht nach!«

Der Arzt traf im Laufe des Nachmittags ein, etwas früher, als man erwartet hatte. Herr Moyon war mit ihm gekommen. Mit traurigem Gesicht berichtete er, wie der Verwundete am Abend zuvor als Überbringer einer von den Gemeindenvorstehern ihm anvertrauten Mission nach der Stadt aufgebrochen und dann in der folgenden Nacht auf dem Rückweg angeschossen worden sei. Bei Tagesgrauen hätten ihn Fischer in der Nähe des Entwässerungskanals aufgefunden.

»Er war ein außergewöhnlich vertrauenswürdiger Mann.«

Das unterstrich er besonders, und immer wieder kam er darauf zurück.

»Was wollen denn alle diese Leute hier?« sagte der Arzt, ein robuster, kleiner Mann mit einer schwarzen Haarmähne, klugen Augen und hastigen Bewegungen, der sein Handwerk, das ihn nährte, ausgezeichnet verstand. Mit Ausnahme von Julie, deren ruhiges, aufopferungsfähiges Wesen er auf den ersten Blick erkannt hatte, schickte er sie alle hinaus, auch Nathalie, die erst ihre Rechte als Gattin geltend machen mußte, um bleiben zu dürfen.

»Ach so! Gut, wenn Sie seine Frau sind, ist das etwas anderes … Aber immer die gleiche Geschichte, in all ihren Häusern sieht man so wenig wie in einer Höhle. Stecken Sie doch die Lampe an! … Hierher bitte! … Habt Ihr nichts Besseres als diese Funsel?«

Er zog dem Patienten die Lider nach oben und horchte das Herz ab.

»Lungenentzündung«, sagte er. »Aber das macht sich wieder … Sie haben ihn frottiert? Schön! … Das war in Ordnung.«

»Aber, Herr Doktor«, warf Julie schüchtern ein, dabei hielt sie die Hand wie einen Schirm vor das Licht, um die Augen des Verwundeten zu schonen, »je mehr wir rieben, um so weniger hörte man ihn atmen.«

»Das war es ja gerade, daß er dadurch besser atmete, gute Frau … Na also, das ist sehr einleuchtend, Sie haben ihm das Leben gerettet … Bringen Sie mir jetzt rasch ein paar Senfkörner und einige Blutegel! Daran ist ja hier kein Mangel … Und Sie«, sagte er zu Nathalie, »machen Sie mir so schnell wie möglich heißes Wasser!«

Daran hatte Julie schon gedacht.

»Donnerwetter!«

Das war keine Hand mehr, sondern ein formloser Klumpen geronnenen Blutes. Drei tiefe, klaffende Risse, drei große, dunkelrote Durchschüsse waren in der Hand, die Fleischteile gedunsen und angeschwollen, alle Knochen und Nerven zerfetzt. Ein ausgeblutetes Stück Haut hing herunter, das der Arzt aufmerksam betrachtete.

»Was ist denn das für ein blauer Streifen? … Kann das vom Pulver sein?«

»Das ist vielleicht sein Anker«, schluchzte Nathalie.

»Was für ein Anker?«

»Er war tätowiert«, erklärte Herr Moyon.

Der Arzt wusch die verstümmelte Hand, ebenso das Gesicht, machte Senfumschläge um Füße und Beine und setzte Blutegel an die Ohren.

»Eine Ladung Rehposten … Vielleicht ein Jagdunglück? Aber das wundert mich«, sagte er zum Bürgermeister vom Kamin her, wo er sich erst den einen, dann den anderen Fuß wärmte, während er die Wirkung seiner Behandlung abwartete, »hier in der Gegend versteht man doch von Kindsbeinen an, mit dem Gewehr umzugehen … Haben Sie Anhaltspunkte?«

»Nicht im geringsten«, erklärte der alte Mann mit bestürzter Miene. »Ich habe erst einmal vorsichtig alles auskundschaften lassen; unmöglich, etwas herauszubekommen. Denken Sie sich, Doktor, ich weiß noch nicht einmal die Namen der Leute, die ihn gebracht haben. Das ist alles verschwunden. Niemand will etwas gesehen haben. Was wollen Sie machen? Das ist nun einmal so. Der Notar, wenn er ins Dorf kommt, um Sprechstunden abzuhalten, muß sich das verborgenste Häuschen aussuchen, das möglichst viele Ausgänge hat, sonst kommt niemand zu ihm aus Angst, gesehen zu werden … Nie werden sie vor Anbruch der Dunkelheit in die Apotheke gehen … und wenn ein Unglück passiert, so wie heute, dann kann man lange nach Zeugen suchen.«

»Oh, ich kenne sie! … Aber was ist denn in diesem Käfig da? Ein Bussard? … Er sieht verhungert aus, der Vogel.« Er schnitt von der Decke ein Stück geräucherte Schwarte ab und warf sie durch die Stäbe.

»Ich kenne sie … Übrigens hängt der Charakter sehr von der jeweiligen Gegend ab … sie sind keineswegs überall gleich. Die Leute in der mittleren Brière, die auf den Inseln hier, wo wir sind, müssen meiner Ansicht nach von jenen angelsächsischen Plünderern abstammen, die auf der Brière Fuß faßten und die eingesessenen Volksstämme, die mehr oder weniger Abkömmlinge von Überresten der Armee Cäsars waren, ans Ufer des Festlandes zurückgedrängt haben. Achten Sie doch, Herr Bürgermeister, einmal auf das kantige Gesicht, die starken Kiefer mit ihren ausgeprägten Backenknochen und die kleinen, scharfen Augen der Leute hier, wie z. B. bei dem Manne, der da liegt, und betrachten Sie anderswo die großen, breiten Augen, die gelbliche Haut, das rein italische Oval der Leute von Mayun, um nur diese zu nennen … Denken Sie weiter an die Töpfer aus Osca, die, ohne es zu wissen, ihnen heute noch die schönste römische Lampe machen!«

Während der Arzt so Herrn Moyon, der ihm beifällig zuhörte, seine Ansichten auseinandersetzte, fingen die Mittel zu wirken an. Nach und nach wurde es hinter den Vorhängen unruhig. In seinem Gehirn begann es verschwommen zu dämmern, und sein Gedächtnis mühte sich, die flüchtig auftauchenden Bilder zusammenzureimen. Augustin kam langsam wieder zum Bewußtsein. Aber immer noch war er da draußen unter dem weiten, eiskalten Nachthimmel und lag gewaltsam niedergestreckt im Schilf … Er spürte das Ungeziefer des Schlammes an all seinen Gliedern herumkrabbeln … Seine Frau Nathalie war auch da … Sie schaute ihn an … Sie kam ihm nicht zu Hilfe … So eine Gemeinheit! … Aber er wußte, weshalb … Er hatte ja eine Decke auf sich liegen, die vierzigmal um ihn herumgewickelt war, damit seine Seele nicht fortfliegen konnte … Neben seinem Kamin sprachen auch Männer … Mit welchem Recht standen die da? … Wollten sie vielleicht seine Torfgrube sehen, sie messen und auskundschaften? … Die hatten doch bestimmt etwas vor … die wollten ihn wohl anzeigen … Und war das nicht ein Moorholzstamm, der gerade dort aus dem Erdloch zur Hälfte herausragte? … Ein Mortas, den er noch nicht ausgraben konnte, weil er keine Zeit gehabt hatte … Er machte übermenschliche Anstrengungen, um die Kerle dort wegzutreiben. Aber je mehr er sich mühte, um so weniger gelang es ihm. Du kannst sie ja nicht rufen … sie haben ja keine Namen … Geht ihr her zu mir! Hierher! … Sie wollen nicht … Aber sie dürfen es nicht sehen … Sie dürfen das Grubenloch nicht entdecken! … Auch nicht das Moorholz, sag' ich dir … Da muß man doch etwas machen können. – So phantasierte er, ganz in Schweiß gebadet. Alles Wasser aus dem Weihwasserbecken lief ihm über die Stirn … Endlich! … Nun erschien ihm die Wahrheit in Gestalt einer heiligen Jungfrau, ganz weiß gekleidet, ein lichtes Wesen, dessen Strahlenglanz bis in seine Seele drang … Er fühlte sich so glücklich; seine Seele flog, sie schwebte, sie war wie ein leichtes Wölkchen … Endlich kamen sie.

»Jedenfalls ist es ein zäher Bursche«, erklärte der Arzt und ging sofort ans Bett, als er dort ein Stöhnen hörte.

»Nun, geht es uns jetzt besser? … Wollen mal sehen …«, und er hielt das Licht näher hin.

Etwas starr, mit dem Blick eines Vogels, sahen ihn die Augen aus dem Alkoven an. Der Mund bewegte sich ein wenig.

»Durst? … Sie haben Durst? … Später, jetzt noch nicht.«

Aber fortgesetzt bewegte sich der Mund und kaute ein paar unverständliche Worte heraus.

»Was will er haben? … Blust? …

»Blust aus der Erde, soll heißen Wasser«, erklärte der Bürgermeister.

»Gleich bekommen Sie zu trinken, bevor es fortgeht … Man wird Sie ins Krankenhaus bringen … Der Wagen muß bald kommen, um Sie abzuholen. Haben Sie noch ein wenig Geduld, bleiben Sie ruhig, Sie haben Fieber.«

Augustin bewegte unruhig den Kopf auf dem Kissen und begann wieder langsam zu stöhnen.

Julie am Fußende des Bettes hielt die Lampe. Man sah ihr deutlich die Traurigkeit an, jetzt, wo sie nichts mehr für ihn tun konnte. Nathalie wagte sich nicht näher hin. Sie hielt sich im Schatten, dort, wo Augustin sie nicht sehen konnte.

»Armer Augustin«, sagte der Bürgermeister und beugte sich dabei über den Verwundeten. »Wie bist du nur zu der Schußverletzung gekommen?«

Auf diese Frage hin richtete Augustin seinen Blick nach oben in die Vorhänge. Ein grausam bitteres Lächeln spielte dabei um seine Lippen.

Julie war dieser merkwürdige Zug nicht entgangen und unwillkürlich hielt sie die Lampe so, daß das Licht jetzt voll auf den Kranken fiel.

Aber der Gesichtsausdruck hatte sich schon wieder geändert. Die stark gerunzelten Augenbrauen schoben sich über der Stirne zusammen; der Blick schien wie von einer angenehmen Erinnerung erhellt. Man sah ihm deutlich an, daß er etwas sagen wollte.

»Die Briefe! …« konnte er endlich stammeln.

»Die Briefe? … Die hast du doch fortgebracht, aber das ist jetzt Nebensache … Wie bist du verwundet worden? Das möchten wir gerne von dir wissen.«

Augustin runzelte die Stirne noch mehr. Er wurde wütend.

»Die Briefe«, sagte er noch einmal. »Ich habe sie …«

»Was?« fuhr der Bürgermeister auf, der sich noch immer über das Bett gebeugt hatte. »Hast du sie nicht dorthin gebracht?«

»Herr Philippe … hat sie gesehen … Er hat gesagt … der Notar hat sie auch gesehen … Ich wollte … sie behalten … Ich habe gedacht … es wäre besser … Schreibt sie euch ab … Als die Schreiber fertig waren … hab' ich die Papiere genommen … Ich habe sie … unter meinem Hemd.«

Als er aber sah, wie der Bürgermeister vergeblich auf seiner Brust herumtastete, fand er noch die Kraft, den Kopf zu schütteln.

»Unter meinem Rücken …«

Der Arzt kam Herrn Moyon zu Hilfe. Die beiden Männer richteten den Verwundeten auf, der mühsam atmete. Beim Schein der hochgehobenen Lampe hielt ihn der eine unter den Achseln, während der andere herumsuchte und schließlich mit einiger Mühe die Briefe aus ihrem schwer zugänglichen Versteck herausholte.

»Er hat sie nicht dort lassen wollen; das hat er gut gemacht.«

Wieder aufs Kissen gebettet, holte Augustin tief Atem. Sein Gesicht bekam jetzt einen seltsam zärtlichen Ausdruck, als er das Dokument in den Händen des Gemeindevorstehers sicher geborgen wußte.

Aber der Bürgermeister fühlte sich moralisch verpflichtet, er war es seinem Amt schuldig, womöglich etwas Licht in diese geheimnisvolle Sache zu bringen.

»Sieh mal, Augustin«, fing er wieder an …, »du hast einen Flintenschuß bekommen … War das nur ein Unfall? … Wie ist denn das zugegangen?«

Aber mochte er auch seine Frage noch so oft wiederholen, Augustin gab ihm darauf keine Antwort. Keine Muskel verzog er in seinem Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen und öffnete sie erst wieder, als die Männer, die ihn abholen wollten, ihn auf seiner Matratze zum Wagen hinaustrugen.

Auf dem Wege dorthin gab er zu verstehen, daß man seine Türe gut verschließen solle. Der Bürgermeister tat ihm diesen Dienst und schob ihm dann den Schlüssel unter die Decke.

Vor den Häusern, an allen Straßenecken, bei den Strohhaufen standen die Menschen schweigend in Gruppen beisammen. Überall auf dem Uferweg wartete man auf sein Kommen.

Augustin wurde jetzt sorgsam von Julie mit Hilfe Nathalies gebettet und unter die Wagenplane geschoben. Der alte Herr Moyon sagte ihm Lebewohl, und der Wagen fuhr im Schritt und ganz vorsichtig, um jede Erschütterung zu vermeiden, am Ufer zwischen den Ulmen dahin.

Er fuhr durch das Mortères, Chat-Fourré und Pintré-Viertel, und manch eine Gruppe stand am Ausgang der Insel und verfolgte mit den Augen seinen Weg über die Heide.

Dann lag Fédrun wieder in Schweigen.

 

Verflucht für immer sollen die Menschen sein, die auf dem Grab ihrer Feinde herumtrampeln, wie es ein Brauch in Réduire-le-Fort am Allerheiligentag sein soll. Gewiß, Augustin war, wenn man so sagen will, aus lauter Hochmut zusammengesetzt, ein Mann, der allem Anschein nach einem jeden, den er in seine Gewalt bekam, den Fuß auf den Nacken setzte … Einerlei: diese Todesansage hatte ihn gerade auf dem Höhepunkt seines Lebens getroffen, an dem Tage, da man ihm den öffentlichen Dank ausgesprochen und ihn mit Ehren überhäuft hatte. Nicht die Beschaffung der Briefe war das Wesentliche dabei; viel größer war sein Verdienst, daß sein Scharfsinn sie an diesem geheimnisvollen Ort entdecken konnte, der nicht einmal einen Namen hatte.

Sicher hatte er einen ausgezeichneten, praktischen Menschenverstand und war einer der gescheitesten Köpfe der Brière … Wenn ihn jetzt der Tod hinwegraffen sollte, es wäre gleichbedeutend, wie wenn das Land vier seiner besten Männer einbüßen würde.

Nicht nur in Fédrun wurde für ihn gebetet, sondern auch in Pendille, Mazin und auf allen Inseln. Überall herrschte die gleiche Bestürzung, um so mehr, da man ihn an diesen Orten schon so gut wie verloren gab … Auch in den weitentfernten Ortschaften, den Bauerndörfern, beklagte man das Unglück. Freilich war man mitunter auch so boshaft, hinzuzufügen, daß von den Leuten dort nichts Besseres zu erwarten sei … da sogar ihre Bäume an den Ufern immer böse Streiche auszuhecken schienen.

Aber hier wie dort schwieg man sich gründlich aus über die tieferen Ursachen des Vorfalls. Man hielt mit Vermutungen zurück; jeder dachte sich insgeheim seinen Teil. Das war ein Gebot der Klugheit. Immer, wenn die Polizei irgendwo auftaucht, weiß niemand etwas, hatte niemand etwas gesagt, und der Gendarm kann unverrichteterdinge wieder abziehen, mag er auch seine Augen noch so sehr rollen.

Will die Untersuchungskommission irgendwohin gebracht werden, dann ist niemand dazu in der Lage, niemand hat Zeit, niemand ist da. Aber wenn sich unglücklicherweise doch einmal jemand durch die Amtsgewalt dazu verleiten läßt, dann kann er sicher sein, daß am nächsten Morgen sein Kahn in Trümmern liegt, und der Mut vergeht ihm dann für ein andermal.

Das ganze Land hüllt sich in absolutes Schweigen. Überall herrscht eine grenzenlose Unwissenheit und die größte Zurückhaltung, so daß es schon an Stumpfsinn grenzt.

Nur in Mayun nehmen die Dinge zum Unterschied davon ihren eigenen Lauf.

Einen Tag und eine Nacht nach diesem Ereignis kamen am frühen Morgen ein Dutzend Korbmacher – die kräftigsten waren dazu ausersehen – auf dem Platze bei der Tränke zusammen und hielten eine lange Beratung ab. Aus ihrem Kreise ging dann einer der jungen Burschen auf das Haus zu, in dem Jeanin wohnte.

Jeanin war soeben aufgestanden, und der junge Mann erzählte ihm, weshalb er gekommen sei.

Der alte Prosper, ein Spediteur, der weite Fuhren zu besorgen pflegte und immer, wenn er durch Mayun kam, dort Station machte, war so unvorsichtig gewesen, seinen Wagen im Freien stehenzulassen. Nun hatten sich ein paar Spaßvögel den bösen Scherz erlaubt und diesen in die »Bütte« geschoben – so nannte man einen kleinen, tiefen Teich nahe beim Dorfeingang.

Um ihn wieder aus dem Loch zu ziehen, mußten viele helfen, und er, der Goldmartin, sei gekommen, ihn zu bitten, daß er den anderen, die schon draußen zusammengekommen wären, dabei behilflich sei.

Rasch band sich Jeanin sein Kamisol um, schlüpfte in seinen Rock und folgte seinem Kameraden.

»Da ist ein Knoten, den wir nicht brauchen können«, erklärte gerade bei der Ankunft der beiden Burschen der Busch-Hervé, ein langer Kerl, indem er den Strick, den er in seiner Hand hielt, betrachtete.

»Gib mir mal dein Messer her, Goldmartin!«

Aber Goldmartin grifft vergeblich seine Taschen ab. »Ich hab' keines bei mir«, erklärte er dann.

»Gib mir deines, Jeanin!«

Jeanin hatte sein Messer dabei und reichte es dem langen Hervé hin, der es unbesehen und ohne weiteres verschwinden ließ.

Das war im Handumdrehen geschehen ohne große Erklärung dazu, und Jeanin war darüber einigermaßen verwundert.

»Was soll das? … Was wollt ihr von mir?« fragte er; denn der Kreis hatte sich inzwischen um ihn geschlossen. Er konnte weder vor noch zurück.

Und doch waren es genau die gleichen jungen Leute, die ihn am Tage der Versammlung zu St. Joachim als Schutzwache umgeben hatten.

»Bukett«, verkündete nun der Busch-Hervé gleichsam als Anführer, »du hast Blut an den Händen … Du hast auf den Vater des Mädchens geschossen, das du dir da unten gesucht hast … Sag nichts? … Jedes Verbrechen muß bestraft werden … und wenn wir dich auch nicht verkaufen, so müssen wir doch dafür sorgen, daß für das Blut deines Opfers nicht das unschuldige Dorf büßen muß … Es wird jetzt die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen … durch uns.«

»Das ist nicht wahr! … Ich war es nicht!« brüllte Jeanin.

»Wir haben alle Beweise … Man hat dich heimkommen sehen am Morgen … Dein Gewehr hast du wohlweislich unterm Stroh im Boot versteckt … Du hast den Dorffrieden gestört; wir haben dich jetzt … Du mußt dich beugen.«

Freilich, eines verschwieg der Busch-Hervé, daß es der geheime und glühende Wunsch aller war, ihn für den schmählichen Verrat büßen zu lassen, den er dadurch begangen, daß er um die Gunst eines Mädchens aus dem Lager ihrer schlimmsten Feinde gebuhlt hatte. Das hatte sie alle schon lange angeekelt und geärgert, und dieses Gefühl hatte keinen geringen Anteil an ihrem Vergeltungseifer.

»Es ist nicht wahr!«

»In die Bütte, wenn er leugnet!«

Bukett setzte zum Sprung an, aber ein heftiger Stoß zwang ihn nieder. Er wurde zum Strafvollzug fortgeschleppt.

»In die Bütte! … In die Bütte!«

»Leugnest du noch immer, daß du der Mörder bist?« stellte ihn Hervé am Rand des tiefen Weihers ein letztes Mal zur Rede.

Jeanin leugnete nicht mehr. Er röchelte und rollte die Augen vor Schrecken.

»Führt ihn fort!«

Und so wurde er fortgebracht, nicht viel anders, wie wenn ein paar Männer einen Schubkarren schleppen. Sie schleiften und stießen ihn durch die Dorfstraßen unter den Augen der Leute, die überall unter ihrer Haustüre standen. Die Stelle, zu der sie ihn brachten, war deutlich gekennzeichnet. Ein paar Mädchen warteten nämlich mitten auf der Dorfstraße vor dampfenden Eimern. Die blonde Nanette, Jeanins ehemalige Verlobte, war auch dabei.

Dort befand sich ein Abzugsgewölbe. Das ist ein unterirdischer Kanal für die Abwässer des Dorfes, der sich zwischen dem Weg und den Häusern unter dickem Mauerwerk hinzieht. Die Jauche aus den Ställen und all der andere Unrat, der da abziehen soll oder vielmehr steht, geht dort durch.

Auf ein Zeichen des Busch-Hervé schütteten die Mädchen ihre Eimer mit heißem Wasser in die Kloake, so daß alles Eis an dieser Stelle schmolz, während eine Heugabel dafür sorgte, daß die feste Kruste, die obenauf schwamm, durchstoßen und das Ganze entsprechend aufgerührt wurde.

In den Armen, die ihn festhielten, glich Jeanin einem Pferd, das widerspenstig in seinem Geschirr geht.

»Wehe, wenn du dich wehrst!«

Er wehrte sich nicht. Das Gewicht von zehn Männern lag auf ihm. Er wurde an Händen und Füßen gepackt, der Länge nach hin und her geschwenkt und dann wie eine Kartusche in den Jauchekanal geworfen.

Da seine Füße nicht gleich untertauchen wollten, griff der lange Hervé zu dem dicken Strick und versetzte ihnen ein paar kräftige Hiebe, die nicht wiederholt zu werden brauchten.

Im Abzugsgewölbe vernahm man ein Geplätscher, dann war es still.

Überall wurde die Arbeit unterbrochen. Jeder kam aus seiner Wohnung, die Männer, die Frauen, die alten Leute. Auf der Straße standen so viele Menschen wie bei einem Unglücksfall. Alles sah schweigend und ernst zu ohne jedes Erstaunen; denn schon seit gestern wußte ein jeder von diesem Femegericht. Die Frauen hatten ihre Kinder auf dem Arm; die Männer rauchten ihre Pfeife. Kein Wort der Aufmunterung oder Mißbilligung wurde laut. Man ließ der Strafe ihren Lauf, was ja nicht aus Rache geschah, sondern einem inneren Ordnungsbedürfnis des allgemeinen Volksempfindens entsprang. Was diese Menschen da taten, war eine Forderung der Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit ist so naturbedingt wie der Tag und wie die Nacht. Sie vollzieht sich wie die Jahreszeiten; sie steigt aus Himmelshöhen nieder, um das Gewissen der Menschen zu entlasten. Und durch diese Handlung wurde das Dorfgewissen wieder entsühnt. Man begnügte sich damit, die Hunde fortzujagen.

Auf einmal traten die Leute beiseite, und alles blickte nach dem alten Mann hin, der sich jetzt näherte. Es war der kleine Onkel. Er sah sehr verstört drein. Eben erst hatte er von der Sache erfahren und war sofort hergeeilt.

Lange stand er dort in der vordersten Reihe und schaute hinunter. Dabei zupfte er andauernd an seinem Bart. Es zuckte um seine Lippen; sein gramvoller Blick ging von einem Urteilsvollstrecker zum andern. Aber was hätten seine Worte vermocht? … Wie eine Zentnerlast lag es ihm auf den Schultern. Er senkte den Kopf und ging dann stumm fort wegen dieser großen Schande. Mühsamer als sonst schleppte er sich mit seinem wehen Bein in seine Werkstatt.

Auch die anderen gingen wieder an ihre Arbeit und überließen den Verurteilten der Sorge seiner Hüter, die beschlossen hatten, ihn bis zum Abend dort zu lassen, und die sich immer in Gruppen von sechs Mann ablösten. Die Mädchen kamen in Zwischenpausen, bald vereinzelt, bald in Scharen, und im Beisein ihrer Verehrer streuten sie so manches Körnlein Salz auf die brennende Wunde da unten. Auf einem Fenstersims stand alles bereit, damit ein jeder ein paar Schluck auf das Wohl des Eingekastelten trinken konnte. Kam dann jemand vorbei, der von der Sache noch nichts wußte, und fragte die Burschen, was sie denn da machen würden, dann antworteten sie, falls es ein Einheimischer von der Brière war: »Wir haben den Jeanin Bukett in die Jauchegrube gesteckt, den Mörder des Inselwächters.« Wenn aber Fremde auftauchten, was zwei- oder dreimal vorkam, wie z. B. ein Kirmeswagen gegen Mittag, dann gingen sie beiseite und taten so, als ob sie würfelten. Denn wenn sie auch den Schuldigen schwer büßen ließen, so war doch sein Geheimnis auch das ihre, und kein Untersuchungsrichter konnte aus ihnen etwas herauslocken. Sie würden sich dann alle so unwissend stellen wie ein neugeborenes Lamm.

Es war ein besonders kalter Tag, einer, an dem die Mayuner im allgemeinen kaum vor ihre Haustüre gehen. Sie legen dann doppelt soviel Torf in den Ofen und bleiben emsig bei ihrem bescheidenen Handwerk. Das Ereignis am Morgen hatte sie nicht aus ihrer Gewohnheit herausgerissen, und bis zum Abend blieben auch alle Türen zu. Aber sobald die Sonne hinter den Strohdächern ein wenig rot zu werden begann, öffnete sich eine Türe nach der andern, und alle Korbflechter kamen zum Vorschein: der Vater mit seinen Söhnen und Enkeln, die Ahne am Krückstock, die Witwe mit ihren acht Kindern, der alte Junggeselle und hundert andere dieser Art, die nicht gerade einen Kuchen im Backofen hatten oder bei einem Kranken bleiben mußten.

Pünktlich kamen sie alle, weil man ihnen gesagt hatte, daß man den Gefangenen kurz vor der Zeit der Viehtränke herauslassen würde.

Als das ganze Dorf versammelt war, trat der Busch-Hervé an die Grube heran und rief Jeanin zu, daß seine Strafe jetzt abgebüßt sei, und daß er wieder herauskommen könne, wenn er wolle.

Jeder wartete gespannt auf das Bild, das sich jetzt bieten würde. Mochte es auch ein Akt der Gerechtigkeit sein, der da vollzogen wurde, so brachte dieses Schauspiel immerhin auch einige Abwechslung in das gleichförmige Einerlei ihres Alltags, für die sie sehr empfänglich waren. Nun kam der feierliche Augenblick. Aller Augen lauerten auf das erste Auftauchen des Dachses aus seinem Loch. Einige wurden schon unruhig, weil alles still blieb und sich gar nichts regte in der Grube. Aber gerade das machte anderen erst recht Spaß, weil es so in ihrer Art lag.

Jetzt endlich hörte man es unten plätschern, und sogleich verfolgten alle mit gespannter Aufmerksamkeit die einzelnen Geräusche, die aber immer wieder aussetzten. Soeben regte sich etwas, dann war es wieder still; jetzt begann es von neuem. Dabei wußte ein jeder, daß zwischen dem Körper, der da heraufkriechen mußte, und dem Mauerwerk kaum ein paar Zentimeter Raum waren, so daß bei jeder Bewegung die Stirne entweder am rauhen Zement sich wundreißen mußte oder aber die untere Gesichtshälfte in die Jauche eintauchte.

Endlich kam der Kopf zum Vorschein. Er war ohne jede Bedeckung, schwarz verschmiert und erschien durch die festgeklebten Haare viel kleiner.

Jetzt folgten die Schultern, dann der Körper. Mühsam und langsam richtete sich der arme Kerl auf. Vom Kopf bis zu den Füßen glänzte alles feucht an ihm. Seine Kleider, die über und über mit grünlichen Kotflecken bedeckt waren und von denen die Jauche herabrann, klebten ihm am Leib. Mit irren Blicken musterte er die Menge, die ihn lautlos anstarrte. Man merkte ihm an, daß er sich gerne nach rechts oder links einen Ausweg gesucht hätte. Aber die Menschen versperrten ihm den Weg. Beim Anblick all dieser Gaffer wäre er am liebsten wieder in das Loch zurückgekrochen. Mit einem dumpfen Stöhnen wich er Schritt um Schritt zurück, machte plötzlich eine rasche Wendung um sich selbst und rannte davon.

Er floh aus dem Dorf.

 

Wie wahnsinnig raste er über das Moor an den Strand, sprang in einen Kahn und fuhr, so rasch er nur konnte, immer tiefer in die Brière hinein.

Die Ruderstange flog nur so in seinen Händen. Keuchend hielt er auf die dunkelste Stelle im Dickicht zu, dorthin, wo die Sonne purpurrot am wolkenlosen Himmel in einem Strahlenkranz von Feuer und Blut unterging.

Er fuhr, solange sein Atem reichte, und erst beim Steinhügel legte er endlich an.

Um diese Zeit war es ganz einsam an diesem Hang.

Erschöpft schleppte er sich ans Land, mühsam wie eine verwundete Kröte, die sich in Sicherheit zu bringen sucht. Große Vögel flogen auf und strichen im niedrigen Flug über die dunkle Heide; und wenn sie sich dann in einiger Entfernung wieder niederließen, durchschnitten sie mit ihrem Flügelschlag den bleiernen, langsam verlöschenden Lichtstreifen, der weit über dem Meer da draußen den Horizont säumte.

Er klapperte mit den Zähnen und zitterte an allen Gliedern. Er war einer Ohnmacht nahe.

Das Stück Brot, das man ihm vorhin zugeschoben hatte, war vom Schmutz durchweicht. Er hatte es nicht essen können. Er war vollständig ausgehungert. Er hielt Umschau, ob nicht eine Kuh in der Nähe wäre, die er melken könnte, obwohl er wußte, daß sich seit Wochen schon kein Tier mehr auf der Weide befand. Der Gestank an seinen Kleidern ekelte ihn an. Ein heftiger Schüttelfrost packte ihn, denn er war bis auf die Knochen steif gefroren. »Das überleb' ich nicht … das überleb' ich nicht!« stöhnte er vor sich hin, und zu seiner Angst gesellte sich die Scham über die zugefügte Schmach und der Haß gegen seine Peiniger. Jetzt fiel ihm auch wieder das merkwürdige Traumgesicht ein, das er in jener verhängnisvollen Nacht – die ja der heutigen so ähnlich war – von seiner Liebe gehabt hatte, gerade in dem Augenblick, als er den Schuß abgab. Er sah weiße Federn fliegen, die mit Blut bespritzt waren wie von einem tödlich getroffenen, wilden Schwan.

Schlotternd, vom Seewind fast umgeweht, machte er schließlich ein Obdach für sich ausfindig in der ehemaligen, jetzt ganz zerfallenen Klause des Lucas la Palette, deren Lehmwände ihm wenigstens einigen Schutz gegen den eiskalten Ostwind bieten konnten.

Zwischen den Dornenranken und dem Mauerschutt lagen Reste von Reisigbündeln, Moorholzäste, ja sogar ein altes Faß. Er schichtete Holz auf, und mit seinem Stahlfeuerzeug, das er in einer Blechhülse in seiner Hosentasche verwahrt hatte, machte er sich ein Feuer an.

Er mußte wohl von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, daß er sich ausgerechnet in diesen Mauern einen Unterschlupf suchte; denn jedermann wußte, daß es dort spukte. Nicht einmal Lucas la Palette hatte darin ungestört hausen können; denn jedesmal war es ihm dabei übel ergangen. Er wurde aus dem Bett geschleudert und unter fürchterlichem Getöse und Gepolter aus dem Hause geschleppt. Jeanin aber war so todmüde, daß er nicht nur jedes Gefühl für die Gefahren dieses Ortes verloren hatte, sondern sogar dort einschlief.

Doch mitten in der Nacht wurde er von einem furchtbaren Lichtschein wach. Er fuhr auf, rang nach Luft und sah sich ringsum von Flammen umgeben. Nur mit knapper Not konnte er sich ins Freie retten, wo ihm der Anblick der fast schon ganz vom Feuer verzehrten Hütte einen unheimlichen Schrecken einjagte.

»Feuer! Feuer!« Er rannte im Zickzack bald hierhin, bald dorthin wie ein Kaninchen und hielt Ausschau, ob er nicht irgendeinen Gegenstand entdecken könnte, etwas, womit dem Feuer Einhalt zu gebieten war; aber er fand nichts.

Ganz bestürzt blieb er stehen.

Entsetzlich! Als er sah, was er da angerichtet hatte, vergaß er seine eigenen Sorgen. Er hatte die Brière in die größte Gefahr gebracht, die es für sie geben konnte: den Brand.

Das Feuer konnte auf das ganze Moor übergreifen, konnte sich weiterfressen, kilometerweit alles verschlingen. Es konnte bis zu den Dörfern vordringen. Alles würde dann in Flammen aufgehen.

In ohnmächtigem Grauen sah er dem Schauspiel zu.

Rote Feuerzungen loderten in dem dichten Qualm auf. Die verwitterten Mauern der Hütte krachten in all ihren Fugen. Das Feuer, das an dem alten Teerfaß Nahrung gefunden hatte, griff jetzt das Gebälk an, das aus tausendjährigem Moorholz gezimmert und völlig ausgetrocknet war. Gierig leckten die Flammen empor, und ein riesiger Funkenregen wirbelte hoch, als das brennende Dachgebälk einstürzte.

Er sah glühende Fetzen fliegen, die der Wind auf die umherliegenden Torfheiden trug. Es kam ihm vor, als ob sich schon der Boden unter seinen Füßen erhitzte. Elend und zitternd starrte er auf sein Werk, und je mehr die Gegend sich ringsum erhellte, desto weiter wich er zurück ins schützende Dunkel, wo die Nachtvögel ängstlich aufgescheucht um ihn herumflatterten.

Bald schien die ganze Insel zu brennen. Da, auf einmal fuhr er zusammen. Von Fédrun nach Pendille, von Pendille nach Mazin, von Mazin nach Crossac tönte der Ruf der Alarmhörner.

Dort hatte man das Feuer entdeckt. Von Dorf zu Dorf pflanzte sich der Ruf weiter, überall zuckten Lichter auf. Jetzt machten sie die Boote los an den Ufern. Bald würden sie da sein. Er konnte sogar schon ihre Stimmen hören … Ein Flintenschuß ging los … jetzt ein zweiter, dann ihrer zehn. Das knatterte wie ein Trommelfeuer. Eine Kugel flog pfeifend über ihn hin.

Und jetzt loderten die Flammen so hoch empor, daß die ganze Brière rund herum taghell erleuchtet war und alles sichtbar wurde: er selbst, die Kanäle, die Wassergräben, die Weiher. Ganz deutlich sah er, wie auf der rotschimmernden Wasserfläche die Boote näherkamen.

Da kroch er auf den Knien von einem Erdloch ins andere und erreichte so den Strand. Hurtig sprang er in seinen Kahn, und zusammengeduckt flüchtete er aus der gefahrvollen Helle ins Schilf, durch das er sich mit heftigen Stangenstößen einen Weg bahnte. Er fuhr so weit hinein, als es nur ging; dann saß er da, zusammengekauert und unbeweglich.


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