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IV.

An diesem Sonntagmorgen – es war der zweite, seitdem Augustin die Urkunden in die Hand bekommen hatte – spitzte man auf der Brière den Pferden die Hufeisen zu wegen des Glatteises und richtete die kleinen Wagen her. Es war ein bitterkalter Tag. Der Himmel war klar, und infolge der Kälte konnte man deutlicher als sonst den Lärm der Dörfer weit über die Ufer hin hören.

Dieses geschäftige Treiben dauerte so an bis zum Nachmittag. Dann rollten in langen Reihen die Fuhrwerke über die weite, winterliche Ebene, die alle in der Richtung nach St. Joachim fuhren.

Heute lag, die Brière wie ausgestorben da. Die vielen schwarzen Pünktchen, die man sonst an schönen Sonntagen im Winter allenthalben auftauchen sieht und die sich bald als Inselbewohner entpuppen, die zu ihrem besonderen Vergnügen ihren Gänsen draußen auf der Weide einen Besuch abstatten, sucht man heute vergeblich.

Niemand hatte heute Zeit zu einem Spaziergang, die Bevölkerung von St. Joachim noch weniger als alle anderen. Alle Männer von Pendille und Fédrun standen auf den Deichen in Gruppen beisammen, und überall unter den Ulmen, deren zartes Astwerk ganz dick mit Reif bedeckt war, diskutierten die Inselbewohner mit Eifer.

Am lebhaftesten ging es vor dem Schulhaus zu, wo Mayon mit dem Spitznamen Schwanenhals, Palu, genannt Handel, Klein-Adam, Chédotal und andere unablässig ein und aus gingen.

Drinnen knirschten die Sägen, klopften die Hämmer, während die Glocken zum Ende des Hochamtes zusammenläuteten. Und alle die Kirchenbesucher in ihren schwarzen Kleidern strömten jetzt dorthin. Besonders die Frauen hatten es sehr wichtig, und alle rissen die Augen auf und staunten das große, dreieinhalb Meter lange Brett an, das soeben auf den Schultern Großdäumlings, des bekannten Bootsbauers, im Schulsaal verschwand.

Man traf viele Bekannte, denn alles war auf den Beinen. Sogar der blöde Jakob von Berches fehlte nicht, der tiefsinnig dort drüben stand und unverwandt auf die interessante Türe des Schulhauses stierte. Auch Theotist in ihrem schwarzen Schal und dem weißen Häubchen hatte sich dieser allgemeinen Neugier nicht entziehen können; sie hielt sich zwar etwas abseits. Julie hatte ebenfalls ihren Kochtopf vom Feuer geschoben und war hierher geeilt, damit ihr nichts entging. Es hatte sie große Mühe gekostet, Cendron zurückzuhalten, der mit aller Gewalt dem Augustin die drei Spatzen für seinen Bussard bringen wollte, die er am Morgen im gefrorenen Straßendreck gefangen hatte.

»Und ich sag' dir, du gehst nicht … Der Augustin hat heute anderes zu tun, als sich mit dir abzugeben.«

Nachmittags war der Trubel noch größer. Nie zuvor hatte man in St. Joachim so viele Wagen beisammen gesehen und so viel Pferde. Von den zahllosen Pferderücken stiegen ganze Dampfwolken auf, die man noch in Häuserhöhe wahrnehmen konnte. Und es war ein merkwürdiges Schauspiel, wie allenthalben die Gänse beunruhigt losschnatterten über dieses ungewohnte Naturwunder. Die Masse der kleinen, schwarzen Brièrehütchen drängte sich wie eine wogende Sturzflut von allen Landstraßen herein. Da sah man die Töpfer aus Osca, die Heftmacher aus Camerun, die Bienenkorbflechter von St. Reine, die Bootsbauer von St. Andre, die Stangenhändler aus Crossac, die Korbmacher aus Mayun.

Was nun die letzteren betraf, so gab es mehr als einen in Fédrun oder Pendille, der bei ihrem Anblick das Lachen nicht verbeißen konnte, weil an der Spitze ihres Zuges Jeanin marschierte, der durch sein farbenprächtiges Gesicht auffiel und heute seinen Spitznamen Bukett mit vollem Recht trug. Fürwahr, ein prachtvoller Tambourmajor! Seine Nase war blau angelaufen, das Auge grün verschwollen, ganz abgesehen von all den anderen Farben, angefangen vom Goldgelb des Honigs bis zum dunkelsten Rot eines alten Burgunders. Offensichtlich war er nicht aus Neugier hergekommen, und alle belustigten sich über das prahlerische Gesicht mit den herrlichen Farben, die durch seine herausfordernde Miene noch wirkungsvoller zur Geltung kamen. Da aber eine Garde kräftiger Burschen, die anscheinend seine Leibwache bildete, ihm nicht von der Seite wich, und da das Zusammenhalten der Mayuner überdies sprichwörtlich ist, ließen die jungen Leute ihn ungestört sein buntes Banner tragen.

Die Menschen stauten sich in den verschiedenen Schulsälen. Man hatte die Türen ausgehängt, damit jene, die nichts zu sehen bekamen, wenigstens etwas hören konnten.

Die Gemeindenräte saßen auf einem Podium, das eigens für sie hergerichtet war, in ihrer Mitte als Vorsitzender der Bürgermeister von Fédrun mit seiner Kaninchenfellmütze auf dem Kopf, gutgelaunt, auf seinen Stock aus Moorholz gestützt, der einem schwarzen Marmorstab ähnelte.

Von draußen schauten die Menschen, die in der Schule keinen Platz mehr finden konnten, durch die offenen Fenster herein. Einige waren auf Schemel und Leitern gestiegen. Und dann gab es noch eine letzte Gruppe von Leuten, die nicht einmal einen Fensterplatz für sich hatten, sondern dichtgedrängt auf dem Damm standen und damit vorliebnehmen mußten, alles nur zu erraten, ohne irgend etwas sehen oder hören zu können.

Ohne daß es den Beteiligten zu Bewußtsein kam, war es eine richtige, allgemeine Volksversammlung sämtlicher Kirchspiele geworden, wie sie früher zu Zeiten der Könige stattgefunden hatten, eine letzte im Jahre 1786 über die Ernteverteilung von Futter und Streu.

Als sich der Bürgermeister erhob, um das Wort zu ergreifen, spitzte die ganze Versammlung die Ohren. Er führte aus, daß er es unter einem so außergewöhnlichen Umstand für angemessen erachtet hätte, eine Versammlung sämtlicher Einwohner der Brière zusammenzurufen, und entschuldigte sich sogleich, weil kein größerer Raum zur Verfügung stehe und so viele Leute deshalb im Freien bleiben müßten.

Dann ging er zu seinem Thema über. Er gab einen kurzen Überblick über den Hergang und legte dar, wie die Einwohner der Brière, seit urdenklichen Zeiten im unbestrittenen Besitz ihres Bodens, jetzt durch Enteignung bedroht wären.

»Und nun«, sagte er, auf seinen Stock gestützt, der glänzte, als habe er ihn auf seinem Herweg in alle Wasser der Brière getaucht, »jetzt, nachdem ich euch die Ereignisse, die allen wohlbekannt sein dürften, wieder vergegenwärtigt habe, möchte ich über einen neuen Sachverhalt berichten, der vor kurzem zu meiner Kenntnis kam, und wodurch die Lage unserer alten Eigentumsansprüche noch kritischer geworden ist.

Ich darf damit beginnen, euch daran zu erinnern, daß dieses Besitzrecht, auf das wir den Rechtstiteln gemäß Anspruch erheben, für jede Gemeinde nur im Verhältnis zur Zahl ihrer Einwohner stand … Ihr wißt auch, daß es unter den siebzehn eigentumsberechtigten Gemeinden eine gibt, die noch vor einem Jahrhundert ein ebenso kleines, unbedeutendes Dorf war wie alle übrigen Dörfer auf unseren Inseln, die sich aber jetzt zu einer großen Stadt mit vierzigtausend Einwohnern entwickelt hat … Nun, meine Freunde, möchte sich jetzt diese große Stadt auf diese Klausel stützen, um zu ihrem Vorteil das Recht zu fordern, ganz für sich über die Geschicke der Brière zu verfügen … Ihre Ansprüche würden dann auf nichts Geringeres hinauslaufen als darauf, sie zum Gegenstand eines gewinnbringenden Tauschobjektes zu machen … Die Geldleute, die von weither gekommen sind, um hier nach Schätzen zu schnüffeln und die bald bei diesem, bald bei jenem ihre Fühler ausstrecken zum Zwecke, die Rechte einer regulären Ausbeutung unseres Moores für sich zu erwerben, sie stießen trotz allem auf juristische Schwierigkeiten, die dieser Aneignung im Wege stehen. Die Stadt aber hat ihnen die Hand geboten, um ihnen dabei behilflich zu sein. Der Wolf hat sozusagen seine Wölfin gefunden.

Nun gut, so möchte ich denn in aller Eindeutigkeit erklären und ich wende mich dabei über euere Köpfe hinweg an alle die, die da glauben, mit Leuten wie uns brauche man nicht viel Federlesens zu machen, man könne sich bei uns einnisten wie bei den Negern im Urwald. Unsere Rechte bestehen auch heute noch voll und ganz! … Und in der Tat, wer von euch hätte nicht schon einmal erfahren, sei es durch ein eigenes Erlebnis oder auch durch Hörensagen, daß bei jedem ungeteilten Besitz die Rechte der einzelnen ebenso schwer in die Waagschale fallen wie die Rechte aller übrigen? Und das ist auch hier der Fall, wie ich denke … Denn, wenn wir auch nicht vierzigtausend sind, so sind wir doch fünfzehn- oder sechzehntausend … Man kann uns also nichts anhaben! Machen wir es daher wie unsere Vorfahren zur Zeit der Gaugrafen von Donges und der Barone von Ranrouet: die Fäuste in die Seiten gestemmt und die Helmriemen fester geschnallt! … Aber ein zäher Wille genügt freilich noch nicht … wir brauchen und bräuchten auch gesetzliche Handhaben, den unwiderleglichen und stets greifbaren Beweis unserer Rechte.«

Energisch stieß er seinen Stock auf den Boden, um seine Worte zu bekräftigen.

Die Anwesenden hingen an den Lippen des Redners. Keiner rührte sich. Ein Hund, der geräuschvoll gähnte, wurde durch einen kräftigen Klaps zum Kuschen gebracht. Eine ähnliche Regungslosigkeit bei den Zuhörern hatte es nur noch einmal gegeben, das war während einer Mission bei einer Predigt über den Tod, von der noch acht Tage später den Leuten die Köpfe schwindelten.

»Nun denn, meine Freunde«, fuhr der alte Gemeindevorsteher fort, der seine Ansprache allerdings mit Unterstützung des Herrn Pfarrers von St. Joachim aufgesetzt hatte, »diese kostbaren Beweise besitzen wir heute. Wir sind seit einigen Tagen im Besitze – um mich eines Vergleiches zu bedienen – des berühmten goldenen Ringes der Schloßherrin von Blanche Couronne, der, wie die Sage berichtet, dem Finder als Talisman dient … Dieser Ring gleichsam ist hier.« Dabei schwenkte er vor den gebannten Blicken der Versammlung ein altes, vergilbtes und eingerissenes Pergamentblatt hin und her. »Hier das beglaubigte Zeugnis der unveräußerlichen Rechte, welche der Herzog Franz II. von Bretagne verliehen und König Ludwig XVI. den armen Anwohnern der Brière bestätigt hat … Ich sage den armen Anwohnern und keinen anderen: Vierzehn Monate lang ist unermüdlich nach diesem Dokument gesucht worden, und der Mann, der so eifrig auf die Suche gegangen ist, hat es auch gefunden … Ich lege Wert darauf, seinen Namen hier öffentlich bekanntzugeben: es ist der Inselwächter Augustin aus Fédrun, genannt Luzifer.«

Alle beugten sich vor, um nach Augustin zu sehen.

Er saß vorne, seitlich unten am Podium mit dem Rücken gegen die Wand, so daß man sein Profil sah. Es war etwas Ungewohntes in seinem Äußeren; vielleicht lag das an seinem schwarzen Anzug, den er seit der Erstkommunion seiner Tochter nicht mehr getragen hatte, und den ihm Cendron bei seiner Frau hatte holen müssen. Bei seiner lobenden Erwähnung durch den Bürgermeister machte er ein so ungerührtes und gleichgültiges Gesicht wie ein Kirchenvorsteher beim Gesang der Vesper.

Dann verlas Herr Moyon das Dokument, wobei er die einzelnen Worte laut und deutlich herausbrachte wie beim Credo; und als er damit fertig war, wurde zwar nicht geklatscht, denn solche Manieren kennt nur der Städter; aber jede Brust atmete auf, und dabei wiegten sich die Körper hin und her wie das Schilf im Wasser.

Dann wurde es wieder still.

»Pst! Ruhe!«

In der Reihe der Zuhörer hatte sich soeben Herr Leriché von seinem Sitz erhoben. Er trug den herkömmlichen langen, blauen Kittel mit den metallenen Schließen daran. Es war der Spezereiwarenhändler, ein im ganzen Land bekannter und wohlhabender Mann, berüchtigt wegen seiner Borggeschäfte, so daß viele bei ihm in Schulden standen. Seine Wohlhabenheit verdankte er einem gerissenen Schachzug seines Vaters, der von der Herzogin von Berry eine größere Summe erhalten hatte zur Hebung der Gegend, und der mit diesem Geld den Grundstock für sein Geschäft gelegt hatte.

Bevor er zu reden anfing, ließ er den Blick über seine Nachbarn gleiten, spielte einen Augenblick mit der an seiner Uhrkette hängenden Tigerkralle, dann begann er in äußerst selbstbewußtem Tone:

»Meine Herren Vorsteher, ich bitte um Entschuldigung, wenn ich das Wort ergreife … Ich bin zwar kein ganz reinrassiger Brièrone, insofern mein Vater in der Gegend jenseits der Loire gebürtig war, aber ich selber bin darum doch in St. Joachim geboren … und ich denke auch hier meinen Lebensabend zu verbringen … Ich kann also sagen, wenn Sie es gestatten, daß ich ungefähr die gleichen Interessen vertrete wie Sie selbst … Wenn Sie das in Betracht ziehen, so werden Sie es mir nicht verübeln, wenn ich Ihnen meine Ansicht unterbreite … Ihre Sorge ist die, die Moore der Brière dem Zugriff von Fremden zu entziehen. Das ist in der Tat durchaus verständlich, mehr noch, es ist in jeder Form Rechtens … wenigstens von einem gewissen Standpunkt aus. Aber sind Sie sich auch ganz sicher, meine Herren Vorsteher, daß Sie, wenn Sie sich auf diesen Weg begeben, wirklich für das allgemeine Wohl arbeiten? … Ich frage mich zuweilen, wenn ich darüber nachdenke, ob nicht ein viel sichereres Mittel, Reichtum ins Land zu bringen, gerade darin zu erblicken wäre, wenn man diese Pläne zur Ausbeutung, die ja auch den Erfordernissen der Zeit entsprechen, annehmen würde, um dann so mit ihrer Beihilfe den armen Anwohnern der Brière – um mich der Worte des Herrn Bürgermeisters zu bedienen – einen gesicherten Wohlstand zu verschaffen, von dem sie bisher noch nicht viel verspürt haben.

Meine Herren Vorsteher, die Brière ist recht alt … Man sieht, wie sie jedes Jahr ein wenig mehr zusammenschrumpft … Das Wasser, in das sie versinkt, stellt eine recht dürftige Ernährungsquelle dar … die Pläne der Ausbeutung und der Trockenlegung dagegen, um die es sich hier handelt …«

Doch hier brach Herr Leriché kurzerhand ab. Was er befürchtet hatte, trat ein: Rund um ihn herum erhob sich ein Gemurmel der mehr als Dreihundert, die im Saal anwesend waren. Entsprechend seiner Marschroute, die er sich schon im voraus für den Fall einer ungünstigen Aufnahme festgelegt hatte, setzte er sich wieder hin, legte seine beiden Hände auf den Knopf seines Stockes mit der Miene eines Mannes, der sich ohne die geringste Schwierigkeit der allgemeinen Auffassung unterordnet.

Der Bürgermeister brauchte gar nicht erst selber zu antworten, weil der alte Martin Ruel ihm keine Zeit dazu ließ. Dieser war sofort aufgesprungen, ließ sein eines Auge, aus dem der Schalk heraussah, über die Zuhörerschaft schweifen und legte los:

»Sehr geehrter Herr Vorsteher! Jeder, der gut bei Gehör ist, hat Sie sicher verstanden … und ganz gewiß sagen Ihnen alle von Herzen Dank … Aber ich selbst oder besser meine Neugier ist noch nicht ganz befriedigt … Ich bin recht alt, und eines möchte ich vor meinem Tode noch wissen: Sie haben uns noch nicht darüber berichtet, wo denn die Briefe eigentlich gefunden worden sind.«

Die Frage war zweifellos peinlich; denn der Bürgermeister drehte, bevor er eine Antwort gab, den Kopf zu Augustin hin, der mit verschränkten Armen dasaß und sich anscheinend so wenig darum kümmerte wie um eine Mücke auf der Nase eines der Vorsteher.

»Vater Martin Ruel«, ließ sich da der Bürgermeister vernehmen. »Ich würde Ihnen gerne Auskunft geben, aber was Sie mich da fragen, weiß ich leider selber nicht … Alles, was ich Ihnen sagen kann«, fuhr er fort und wandte sich dabei an die ganze Versammlung, »ist, daß die betreffenden Leute nicht reich sind … Auch haben wir schon daran gedacht – er wandte sich bei diesen Worten zu seinen Beisitzern hin –, eine kleine Sammlung zu deren Gunsten zu veranstalten … Ich habe mich auch mit dem Pfarramt in Verbindung gesetzt: Der Ertrag des Opferstockes in der Kirche wird den ganzen Abend über dieser Spende zugute kommen … Ich möchte euch das gesagt haben …«

Aber da wurde ihm das Wort abgeschnitten durch einen merkwürdigen Laut, der hinten vom Saal herkam. Die Männer standen auf, um besser sehen zu können, was dort los wäre. Ein paar junge Burschen machten ihre heiteren Bemerkungen.

»Es ist Florenze, die weint«, sagte jemand.

Niemand hatte bisher von der Anwesenheit der alten Frau etwas gemerkt. Sie war in der großen Menschenmasse untergegangen und hielt sich dort verborgen wie der Aal unter der Kresse.

»Diejenigen unter euch«, fuhr der Bürgermeister fort, als wieder Ruhe eingetreten war, »die in der Lage sind, ihr Scherflein dazu beizusteuern, brauchen es also nur in den Opferstock für die Armen zu werfen … Und nun, meine Lieben, diese kostbare Urkunde dürfen wir unter keinen Umständen länger hierbehalten … Das Korn darf nicht auf dem Speicher bleiben, es muß in die Mühle … Noch heute abend, und zwar gleich auf der Stelle, muß jemand sie in die Stadt bringen, um sie dem Advokaten, der unsere Sache vertritt, persönlich auszuhändigen.«

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, da war Augustin auch schon auf das Podium getreten.

»Das werde ich besorgen«, sagte er, und dabei stand er so aufrecht da wie ein Rohr, dessen Schaft sich noch nie unter den Kiel einer Schaluppe gebeugt hatte.

Mit den Worten, diese Ehre gebühre ihm in der Tat, ging der Bürgermeister auf ihn zu und überreichte ihm sodann die Dokumente mit einer so feierlichen Handbewegung, wie wenn es sich um die Verleihung eines Ordenskreuzes handeln würde.

Die Anwesenden waren ganz Aug und Ohr. Der Anblick Augustins, wie er mit diesem verantwortungsvollen Auftrag betraut wurde, sein scharfgeschnittenes Gesicht mit dem ihm angeborenen Ausdruck eines, der sich in allem und jedem auskennt, gab ihnen allen das Gefühl der Sicherheit; denn ein jeder, der ihn so aufrecht da vorne stehen sah, fühlte sich von dem unbedingten Glauben an eine gesicherte Zukunft durchdrungen, wenn er an seine schwarze Hütte und seinen Torfacker dachte.

Er verwahrte das zusammengefaltete Papier unter dem Hemd auf der Brust, wo es ja auch eigentlich hingehörte. Dann knöpfte er seine Jacke wieder zu und schwenkte seinen Stock vor der Versammlung. »Nun bin ich soweit, laßt mich durch!«

»Wenn er auch alt ist«, sagte jemand nahe beim Ausgang, »ein Teufelskerl ist er doch.«

Er machte sich unverzüglich auf den Weg zur Stadt, und lärmend gaben ihm alle das Geleite.

Bei diesem Frostwetter war der Weg zu Fuß viel kürzer für ihn. Hinter Fédrun wollte er die Straße nach La Rochette einschlagen, die über die Brücke von Mignan nach Rozé führt. Von hier ginge es dann weiter über die Wiesen am Fischgraben entlang bis Trignac, zuletzt quer durch die Trignacer Moore auf kleinen, ihm bekannten Fußpfaden. Zur Nacht würde er da sein. Den folgenden Tag über hätte er noch bei den Rechtskundigen zu tun; gegen Abend wollte er dann wieder den Rückweg antreten. Jedenfalls gab er den Leuten, die neben ihm herliefen und ihn danach fragten, diesen Bescheid.

An die achthundert Torfstecher liefen so hinter ihm drein; und wenn auch die Musik fehlte, dann mußte, wie der alte Martin Ruel meinte, eben das Getrappel der Holzschuhe, die auf den hartgefrorenen Boden trommelten, diese einigermaßen ersetzen.

Sehr laut ging es zu bei den Männern, die sich noch immer über die Angelegenheit unterhielten. Es folgten ein paar Mädchengruppen mit hellen Hauben und schwarzen Kleidern, die sangen. Auch Burschen waren dabei und schwenkten Schilfrohre in den Händen.

Am lautesten aber tönten die Schreie der Kinder, die wie Schwalbengezwitscher über diesen Tumult hinschwangen. Sie purzelten auf dem Eis herum und patschten natürlich immer in den größten Dreck. Ein paar große, gefleckte Hunde mit glänzenden Augen und weitgeöffneten Lefzen sprangen zwischen den Menschen hin und her.

Die ganze Gesellschaft, Augustin an der Spitze, steuerte auf den krummen, halb zerfallenen Knüppeldamm los, der St. Joachim mit der Insel von Fédrun verbindet. Dann ging es weiter über schmale Torfwände hinweg, die aus den Wasserlachen emporragten. Jetzt zwängte sich der Zug durch die engen Pfade, die zwischen den regellos hingeworfenen Schollen und aufgeschichteten Torfstapeln hinliefen, und staute sich schließlich zum großen Entsetzen der Enten längs der Bootseinfahrt an der Inselspitze, von wo aus der Bote ausziehen sollte.

Augustin war über den Wasserarm gegangen. Er schritt jetzt allein auf der anderen Uferseite hin. Seine große Gestalt hob sich scharf von dem weißen Wolkenhintergrund ab.

Alles schrie aus vollem Halse. Man winkte ihm zu und wünschte ihm eine gute Reise. Einer rief ihm nach, er solle aufpassen, daß er nicht im Graben von Haut-Paimboeuf lande; ein anderer brüllte, er solle alle Gänse einfangen, die ihm begegneten. Er lachte sie aus und spottete zurück:

»Man braucht nur das Schiff ein wenig zu schaukeln, und schon kommen alle Blutegel angeschwommen!«

Und als er noch weiter weg war:

»Da steht ihr alle beisammen und macht schlapp wie die Juden am Jordan!«

Schließlich gab es noch ein großes Gelächter, als ein paar Hunde in ihrem Eifer bis auf die andere Uferseite gerast waren und dann mit eingezogenem Schwanze sich in Sicherheit brachten, als ein Hagel Eisbrocken über sie niederging.

Die Menge verlief sich. Man ging wieder heim. Auf der Inselspitze blieben nur noch ein paar alte Männer stehen, solche, die ihr Leben gleichsam auf den Dämmen unter den Ulmen verbracht haben und Abend für Abend dort ihre Pfeife schmauchten.

Der Tag ging zur Neige. Es war kalt, aber schön. Der weiche Ruf der Brachschnepfen ließ sich vernehmen. Nebelschwaden stiegen an den Kanälen auf, und am verdämmernden Himmel kräuselten sich die kleinen Abendwölkchen.

Versunken standen die Alten dort auf ihren Deichen und genossen den Abendfrieden ihrer Insel, wo nichts sich regte unter dem weiten, rötlichen Himmel, während langsam die Dämmerung einbrach. Wortlos verfolgten sie mit den Blicken den kleinen, schwarzen Punkt, der sich immer weiter nach Süden entfernte und allmählich auf dem Weg nach Rozé hin verschwand.


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