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XXI

Mehr als drei Monate gingen ins Land.

Dann kam der Tag, den Herr von Koren für seine Abreise bestimmt hatte. Vom frühen Morgen an ging ein dichter, kalter Regen nieder, es wehte ein heftiger Nordost, und das Meer brandete in hohen Wellen. Man glaubte nicht, daß der Dampfer bei so einem Wetter auf der Reede Anker werfen würde. Nach dem Fahrplan sollte er um zehn Uhr morgens kommen. Aber auch um Mittag und am Nachmittag sah Herr von Koren vom Ufer aus durch seinen Feldstecher nichts als graue Wellen und Regen, der den Horizont verdeckte.

Gegen Abend hörte der Regen auf, und der Wind legte sich merklich. Herr von Koren hatte sich schon mit dem Gedanken ausgesöhnt, heute nicht abfahren zu können, und spielte eine Partie Schach mit Samoilenko. Aber als es dunkel wurde, meldete der Bursche, auf dem Meere hätte man Lichter und eine Rakete gesehen.

Herr von Koren begann sich eilig fertigzumachen. Er hängte die Reisetasche um die Schultern, umarmte Samoilenko und den Diakon, durchwanderte ohne jeden Zweck sämtliche Zimmer, nahm Abschied vom Burschen und von der Köchin und verließ das Haus mit dem Gefühl, als hätte er bei Samoilenko oder in seiner Wohnung etwas vergessen. Auf der Straße ging er neben Samoilenko, hinter ihnen der Diakon mit dem Mantelsack und ganz zuletzt kam der Bursche mit zwei Handkoffern. Nur Samoilenko und der Bursche konnten die Lichter auf dem Meer unterscheiden, die anderen spähten ins Dunkel hinaus und sahen nichts. Der Dampfer war weit vom Lande vor Anker gegangen.

»Schnell, schnell,« drängte Herr von Koren, »sonst fährt er am Ende ab.«

Als sie an dem drei Fenster breiten Häuschen vorbeikamen, in das Lajewskij bald nach dem Duell umgezogen war, konnte Herr von Koren sich nicht halten und schaute ins Fenster. Lajewskij saß gebeugt, den Rücken zum Fenster, am Tisch und schrieb.

»Ich bin erstaunt,« sagte der Zoolog leise, »wie der sich unter die Fuchtel genommen hat.«

»Ja, es ist staunenswert,« seufzte Samoilenko, »so sitzt er vom Morgen bis zum Abend und arbeitet. Er will seine Schulden bezahlen. Und er lebt schlechter als ein Bettler.«

Eine halbe Minute verging im Schweigen. Der Zoolog, der Doktor und der Diakon standen vor dem Fenster und sahen Lajewskij an.

»So ist er doch nicht fortgekommen von hier, der arme Kerl,« sagte Samoilenko, »weißt du noch, wie eifrig er das damals betrieb?«

»Ja, er hat sich stark unter die Fuchtel genommen,« wiederholte Herr von Koren, »seine Heirat, diese Arbeit um das Stückchen Brot den ganzen Tag über, dieser neue Ausdruck in seinem Gesicht und sogar seine ganze Art, sich zu bewegen, sind so sympathisch, daß ich nicht weiß, wie ich das ausdrücken soll.« Der Zoolog faßte Samoilenko am Aermel und sagte mit bewegter Stimme: »Richt' es ihm und seiner Frau aus, daß ich die größte Hochachtung vor ihnen hätte. Sag' ihnen, ich hätte sie bewundert, als ich abreiste, ich wünschte ihnen alles Gute, und bäte ihn, wenn es ihm möglich ist, meiner nicht im Bösen zu denken. Er kennt mich. Er weiß, daß ich sein bester Freund gewesen wäre, wenn ich das hätte voraussehen können.«

»Geh' hinein zu ihm und verabschiede dich.«

»Nein, das ist so peinlich.«

»Warum denn? Vielleicht siehst du ihn nie im Leben wieder.«

Der Zoolog überlegte und sagte:

»Das ist wahr.«

Samoilenko klopfte leise ans Fenster, Lajewskij fuhr zusammen und sah sich um.

»Wanja, Nikolai Wassiljewitsch will sich von dir verabschieden,« sagte Samoilenko, »er reist jetzt gleich.«

Lajewskij stand auf, ging in den Flur und öffnete die Tür. Samoilenko, Herr von Koren und der Diakon traten ein.

»Nur für einen Augenblick,« sagte Herr von Koren. Er zog die Ueberschuhe im Flur aus, und es tat ihm schon leid, daß er seinem Gefühl nachgegeben und ungebeten diese Schwelle überschritten hatte. ›Ich werde gewissermaßen verlegen,‹; dachte er, ›und das ist dumm.‹;

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe,« sagte er, als er mit Lajewskij ins Zimmer trat, »aber ich fahre gleich ab, und es zog mich, Abschied zu nehmen von Ihnen. Gott weiß, ob wir uns noch einmal im Leben wiedersehen.«

»Sehr angenehm, bitte ergebenst,« sagte Lajewskij und trug ungewandt Stühle für die Gäste herbei, als wollte er ihnen den Weg versperren. Dann blieb er mitten im Zimmer stehen und rieb sich die Hände.

›Hätte ich doch die Zeugen auf der Straße gelassen,‹; dachte Herr von Koren und sagte fest:

»Denken Sie meiner nicht im Bösen, Iwan Andrejitsch. Vergessen kann man natürlich nicht, was gewesen ist. Es war zu traurig. Ich bin auch nicht gekommen, mich zu entschuldigen oder meine Unschuld zu beteuern. Ich habe aufrichtig gehandelt, und meine Ueberzeugungen von damals sind dieselben geblieben. Freilich, in Ihnen hab' ich mich damals geirrt, aber stolpern kann man auch auf geradem Weg, und das ist einmal Menschenlos: wenn man sich in der Hauptsache nicht irrt, so irrt man sich in Nebensachen. Die ganze Wahrheit weiß niemand.«

»Jawohl, niemand weiß die Wahrheit,« sagte Lajewskij.

»Nun, leben Sie wohl. Gebe Gott Ihnen alles Gute.«

Herr von Koren reichte Lajewskij die Hand, dieser drückte sie und verbeugte sich.

»Denken Sie meiner nicht im Bösen,« sagte Herr von Koren, »empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin und sagen Sie ihr, es hätte mir sehr leid getan, ihr nicht persönlich meine Hochachtung ausdrücken zu können.«

»Sie ist zu Hause.«

Lajewskij ging zur Tür und rief ins Nebenzimmer:

»Nadja, Nikolai Wassiljewitsch will sich von dir verabschieden.«

Nadeschda Fjodorowna trat ein. Sie blieb an der Tür stehen und schaute schüchtern auf die Gäste. Ihr Gesicht war schuldbewußt und erschrocken, die Hände hielt sie wie ein gescholtenes Schulmädchen.

»Ich reise fort, Nadeschda Fjodorowna,« sagte Herr von Koren, »und möchte Abschied nehmen von Ihnen.«

Sie streckte ihm zögernd die Hand hin, und Lajewskij verbeugte sich.

›Wie traurig geht es den beiden doch,‹; dachte Herr von Koren: ›leicht wird dies Leben ihnen nicht.‹;

»Ich komme nach Moskau und Petersburg, kann ich dort nicht etwas für Sie besorgen?« fragte er.

»Wie meinst du?« sagte Nadeschda Fjodorowna und wechselte einen erregten Blick mit ihrem Mann, »ich glaube nicht –«

»Nein, danke,« sagte Lajewskij. »Grüßen Sie alle ...«

Herr von Koren wußte nicht, was er noch sagen könnte und sollte. Und vorhin, als er hereinkam, hatte er geglaubt, er würde viel Gutes, Warmes und Bedeutendes sagen. Er drückte Lajewskij und seiner Frau schweigend die Hand und ging von ihnen mit schweren Gedanken.

»Was für Menschen!« sagte halblaut der Diakon, der hinter ihm herging, »Herrgott, was für Menschen! Die Hand des Höchsten hat diesen Weinberg gesegnet sichtbarlich. Herrgott, Herrgott! – Nikolai Wassiljewitsch,« fuhr er feierlich fort, »wissen Sie, daß Sie heute den größten unter den Feinden der Menschheit besiegt haben: den Hochmut?«

»Unsinn, Diakon! Was sind Lajewskij und ich für Sieger? Sieger blicken wie die Adler, und er ist elend, schüchtern, gedrückt und macht Verbeugungen wie eine chinesische Pagode, und ich – ich bin traurig.«

Hinter ihnen klangen Schritte. Das war Lajewskij, der sie einholte, um Herrn von Koren zu begleiten. Am Hafen stand der Bursche mit den zwei Handkoffern und etwas weiter vier Ruderknechte.

»Das bläst aber, brr!« sagte Samoilenko, »auf dem Meer draußen ist wahrscheinlich der tollste Sturm. Du hast dir keinen guten Tag ausgesucht zur Abreise, Kolja.«

»Ich hab' keine Angst vor der Seekrankheit.«

»Das ist's nicht. Wenn dich diese Esel nur nicht umwerfen. Du solltest mit der Schaluppe von der Agentur fahren. Wo ist die Agenturschaluppe?« schrie er den Ruderern zu.

»Abgegangen, Exzellenz.«

»Und das Zollboot?«

»Auch abgegangen.«

»Warum habt ihr das nicht gemeldet, ihr Viehstücker?« schimpfte Samoilenko.

»Es ist egal, reg' dich nicht auf,« sagte Herr von Koren, »nun leb' wohl. Behüt' euch Gott.«

Samoilenko umarmte den Zoologen und schlug dreimal das Kreuz über ihn.

»Vergiß uns nicht, Kolja. Schreib' mal. Nächstes Frühjahr erwarten wir dich.«

»Adieu, Diakon,« sagte Herr von Koren und drückte dem Diakon die Hand. »Und das mit der Expedition überlegen Sie sich.«

»Ja, lieber Gott, meinetwegen bis ans Ende der Welt!« lachte der Diakon, »ich bin doch nicht abgeneigt.«

Herr von Koren erkannte in der Dunkelheit Lajewskij und reichte ihm stumm die Hand. Die Ruderknechte waren schon unten und hielten das Boot fest, das heftig gegen das Bollwerk schlug, obwohl es durch die Mole vor der stärksten Brandung geschützt war. Herr von Koren kletterte die Leiter hinunter, sprang ins Boot und setzte sich ans Steuer.

»Schreib' mal,« schrie ihm Samoilenko nach, »nimm deine Gesundheit in acht.«

›Niemand weiß die ganze Wahrheit,‹; dachte Lajewskij. Er schlug den Mantelkragen auf und zog die Hände in die Aermel zurück.

Das Boot verließ schnell den Hafen und kam in offene See. Es verschwand in den Wellen, aber stieg sogleich wieder aus dem tiefen Tal auf einen hohen Wellenberg, daß man die Leute und sogar die Ruderer unterscheiden konnte. Drei Faden machte das Boot vorwärts, um zwei Faden wurde es zurückgeworfen.

»Schreib' mal!« schrie Samoilenko. »Dich plagt auch der Satan, bei dem Wetter zu reisen.«

›Ja, niemand weiß die ganze Wahrheit,‹; dachte Lajewskij und blickte kummervoll auf das erregte, dunkle Meer.

›Das Boot wird zurückgeworfen,‹; dachte er. ›Zwei Schritte macht es vorwärts und einen rückwärts. Aber die Ruderer sind hartnäckig, unermüdlich legen sie sich in die Riemen und fürchten sich nicht vor den hohen Wellen. Das Boot kommt immer weiter, immer weiter. Man sieht es schon nicht mehr. Noch eine halbe Stunde, und die Ruderer sehen deutlich die Lichter des Schiffes. Und in einer Stunde sind sie an der Schiffsleiter. – So ist das Leben. Auf dem Weg zur Wahrheit macht der Mensch zwei Schritte vorwärts und einen rückwärts. Die Leiden, die Sünden, die Langeweile des Lebens werfen ihn zurück, aber der Durst nach Wahrheit und der feste Wille treiben ihn vorwärts, immer vorwärts. Und wer weiß? Vielleicht erreicht er einmal die ganze Wahrheit.‹;

»Leb' wo-ohl!« schrie Samoilenko.

»Nichts zu sehen und zu hören!« sagte der Diakon. »Glückliche Reise!«

Der Regen prasselte herunter.


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