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XI

»Du siehst aus, als kämst du, mich zu verhaften,« sagte Herr von Koren, als Samoilenko in der Paradeuniform bei ihm eintrat.

»Ja, ich ging gerade vorbei, und da dachte ich: gehn wir 'mal hinauf und erweitern wir unsere Kenntnisse in der Zoologie,« sagte Samoilenko und setzte sich an den großen Tisch, den der Zoolog sich selbst aus einfachen Brettern zurechtgezimmert hatte. »Grüß Gott, heiliger Vater,« nickte er dem Diakon zu, der am Fenster saß und etwas abschrieb, »ich will nur einen Augenblick bleiben, dann lauf' ich nach Hause und sorg' für Mittag. Es wird bald Zeit. Ich störe doch nicht?«

»Absolut nicht,« erwiderte der Zoolog und breitete eng beschriebene Blätter auf den Tisch, »wir beschäftigen uns mit Abschreiben.«

»So. – Ach du lieber Gott,« seufzte Samoilenko. Dann nahm er vorsichtig ein verstaubtes Buch vom Tisch, auf dem ein toter, vertrockneter Skorpion lag, und sagte: »Uebrigens, stell' dir 'mal vor, irgend ein grüner Käfer geht ruhig in seinen Geschäften des Weges, und plötzlich kommt ihm so ein Biest entgegen. Den Schrecken kann ich mir denken.«

»Ja, ich glaub' schon.«

»Hat er das Gift, um sich gegen Feinde zu verteidigen?«

»Ja, zur Verteidigung und zum Angriff.«

»So, so, so. Also ist in der Natur alles zweckmäßig und erklärlich, liebe Freunde,« seufzte Samoilenko, »eins aber kann ich nicht verstehn. Du bist doch so ein kolossal kluger Mensch, erklär' mir das, bitte. Es gibt, weißt du, ein kleines Tierchen, nicht größer als eine Ratte, das sieht sehr hübsch aus, ist aber, sag' ich dir, äußerst bösartig und von sehr schlechtem Charakter. Nehmen wir an, so ein Tierchen geht durch den Wald. Es erblickt einen Vogel, fängt ihn und frißt ihn auf. Es geht weiter und sieht im Gras ein Nest mit Eiern. Fressen mag es nicht mehr, es ist satt, aber dennoch zerbeißt es ein Ei, und die übrigen schmeißt es mit der Pfote aus dem Nest. Darauf begegnet ihm ein Frosch, es fängt an mit ihm zu spielen. Hat es den Frosch totgequält, geht es weiter und leckt sich das Maul. Da kommt ein Käfer, das Tierchen haut mit der Pfote drauf. Und so zerstört und vernichtet es alles auf seinem Wege. Es kriecht in fremde Löcher, zerstört Ameisenhaufen, zerbeißt Schnecken. Eine Ratte kommt ihm entgegen, es muß mit ihr kämpfen. Es erblickt eine Schlange oder eine Maus und tötet sie. So geht's den ganzen Tag. Nun sag' mir 'mal, wozu ist so ein Vieh nötig? Wozu ist es erschaffen?«

»Ich weiß nicht, von was für einem Tierchen du sprichst,« sagte Herr von Koren, »wahrscheinlich von irgendeinem Insektenfresser. Nun, das ist ganz einfach. Der Vogel ließ sich von ihm fangen, weil er unvorsichtig war. Das Nest mit den Eiern hat es zerstört, weil der Vogel ungeschickt war, das Nest schlecht gemacht und nicht verstanden hatte, es zu maskieren. Der Frosch hat wahrscheinlich einen Fehler in der Farbe gehabt, sonst hätte das Tier ihn nicht gesehen usw. Dein Tier vernichtet nur die Schwachen, Ungeschickten, Unvorsichtigen, mit einem Wort die Mangelhaften, deren Fortpflanzung die Natur nicht für nötig hält. Leben bleiben nur die Gewandten, Vorsichtigen, Starken und Entwickelten. Auf diese Weise dient dein Tier, ohne selbst eine Ahnung davon zu haben, den großen Zielen der Vervollkommnung.«

»Ja, ja, ja. Apropos, lieber Freund,« sagte Samoilenko beiläufig, »pump' mir doch 'mal hundert Rubel.«

»Gut. Unter den Insektenfressern kommen sehr interessante Tiere vor. Z. B. der Maulwurf. Er soll nützlich sein, da er die schädlichen Insekten vernichtet. Man erzählt, irgendein Deutscher hätte dem Kaiser Wilhelm I. einen Pelzmantel aus Maulwurfsfellen geschickt, dieser hätte ihm aber eine Rüge erteilen lassen, weil er so viele von den nützlichen Tieren getötet hatte. Und doch steht der Maulwurf an Grausamkeit dem von dir genannten Tierchen nicht nach; außerdem ist er schädlich, weil er die Wiesen aufwühlt.«

Herr von Koren öffnete seine Schatulle und nahm einen Hundertrubelschein heraus.

»Der Maulwurf hat einen so kräftigen Brustkasten wie die Fledermaus,« fuhr er fort, die Schatulle zuschließend, »furchtbar entwickelte Muskeln und Knochen und ein ganz ungewöhnliches Gebiß. Hätte er die Größe eines Elefanten, so wäre er ein allbesiegendes, zermalmendes Tier. Es ist interessant, daß, wenn zwei Maulwürfe sich unter der Erde begegnen, sie wie auf Verabredung eine größere Höhle zu graben beginnen: die brauchen sie, um bequemer kämpfen zu können. Und der Kampf dauert so lange, bis der Schwächere gefallen ist. Nimm die hundert Rubel,« sagte von Koren etwas leiser, »aber nur unter der Bedingung, daß du das Geld nicht für Lajewskij haben willst.«

»Und wenn ich es für Lajewskij wollte,« fuhr der Doktor auf, »was geht das dich an?«

»Für Lajewskij kann ich nichts hergeben. Ich weiß, es ist eine Liebhaberei von dir, anderen Leuten Geld zu pumpen. Du würdest selber dem Räuber Kerim pumpen, wenn er dich bäte. Und verzeih', aber in dieser Richtung kann ich dir nicht behilflich sein.«

»Ja, ich will das Geld für Lajewskij,« sagte Samoilenko, stand auf und gestikulierte heftig mit der Rechten, »jawohl, für Lajewskij! Und kein Satan und kein Teufel hat das Recht, mich zu lehren, was ich mit meinem Geld machen soll. Wollen Sie mir das Geld nicht geben? Nein?«

Der Diakon begann zu lachen.

»Reg' dich nicht auf, sondern denk' einmal nach,« sagte der Zoolog. »Diesem Herrn Lajewskij Wohltaten erweisen ist ebenso klug, wie Unkraut begießen oder Heuschrecken füttern.«

»Meine Meinung ist, daß wir unseren Nächsten helfen müssen,« schrie Samoilenko.

»Wenn du das willst, so hilf dem hungrigen Türken, der da hinter dem Zaun liegt. Er ist ein Arbeiter und nötiger und nützlicher als dein Lajewskij. Gib ihm die hundert Rubel. Oder opfere hundert Rubel für meine Expedition.«

»Willst du mir das Geld geben oder nicht, frag' ich dich?«

»Sag' mir mal offen: wozu braucht er das Geld?«

»Das ist kein Geheimnis. Er muß Sonnabend nach Petersburg reisen.«

»So, so,« sagte Herr von Koren gedehnt, »aha, ich verstehe. Und sie fährt mit? Oder nicht?«

»Sie bleibt fürs erste noch hier. Er ordnet in Petersburg seine Angelegenheiten und schickt ihr Geld. Dann reist sie auch.«

»Schlau!« sagte der Zoolog und lachte kurz und hell, »sehr schlau. Gut ausgedacht.«

Er ging schnell auf Samoilenko zu, stellte sich direkt vor ihn, sah ihm in die Augen und fragte:

»Nun sei einmal aufrichtig: er liebt sie nicht mehr? Nicht? Sag's nur: er liebt sie nicht mehr? Was?«

»Ja,« stieß Samoilenko heraus und begann zu schwitzen.

»Wie widerwärtig das ist,« sagte Herr von Koren, und man sah ihm den Ekel am Gesicht an. »Eins von beiden, Alexander Dawidowitsch: entweder bist du mit ihm im Komplott, oder, entschuldige, du bist ein Einfaltspinsel. Begreifst du denn nicht, daß er dich in der schamlosesten Weise an der Nase führt, wie einen kleinen Jungen? Das ist doch klar wie die Sonne, er will sie los sein und läßt sie hier sitzen. Sie bleibt dir auf dem Halse, und klar wie die Sonne ist es, daß du sie nachher auf deine Rechnung nach Petersburg expedieren kannst. Hat dich dein reizender Freund durch seine vortrefflichen Eigenschaften so blind gemacht, daß du nicht das Einfachste mehr siehst?«

»Das sind nur Annahmen,« sagte Samoilenko und setzte sich.

»Annahmen? Aber warum reist er allein und nicht mit ihr zusammen? Und warum, frage ich, reist sie nicht voraus und er später nach? Diese spitzbübische Bestie!«

Niedergedrückt von dem plötzlichen Zweifel und Verdacht gegen seinen Freund, wurde Samoilenko plötzlich schwach und kleinlaut.

»Aber das ist ja unmöglich,« sagte er und dachte an die Nacht, die Lajewskij bei ihm zugebracht hatte, »er leidet so sehr!«

»Was beweist das? Diebe und Brandstifter leiden auch.«

»Und gesetzt den Fall, du hättest recht,« sagte Samoilenko nachdenklich, »angenommen, aber er ist doch ein junger Mensch in fremdem Lande. Er war Student, wir sind es auch gewesen, und außer uns ist hier niemand, der ihm helfen könnte.«

»Du willst ihm also bei seinen Gemeinheiten deshalb behilflich sein, weil ihr zu verschiedenen Zeiten auf der Universität gewesen seid und beide dort nichts getan habt. Was für ein Blödsinn!«

»Wart' mal. Wollen wir die Sache ganz kühl überdenken. Ich glaube, so wird es gehen,« überlegte Samoilenko, »hör' mal, ich geb' ihm das Geld, nehm' ihm aber das Ehrenwort ab, daß er binnen einer Woche Nadeschda Fjodorowna das Reisegeld schickt.«

»Und er gibt dir sein Ehrenwort, weint sogar und glaubt sich selbst. Aber was hat das für einen Wert? Er hält sein Wort nicht, und wenn du ihm nach ein paar Jahren auf dem Newskij Prospekt begegnest, mit einer neuen Liebsten am Arm, dann entschuldigt er sich damit, daß die Zivilisation ihn ausgemergelt hat und er ein armer Dekadent ist. Laß ihn doch um Gottes willen laufen. Halte dich vom Dreck fern und wühl' nicht mit beiden Händen drin rum.«

Samoilenko dachte einen Augenblick nach und sagte fest:

»Und ich geb' ihm das Geld doch. Wie du meinst – ich kann ihm nicht auf Grund bloßer Annahmen vor den Kopf stoßen.«

»Das ist ja wunderbar. Gib ihm doch einen Kuß.«

»Also gib mir doch die hundert Rubel,« bat Samoilenko schüchtern.

»Nein.«

Einige Minuten vergingen im Schweigen. Samoilenko war ganz schwach geworden. Sein Gesicht bekam einen beschämten und verlegenen Ausdruck, und seltsam genug nahm sich dies traurige, kindlich-verwirrte Gesicht bei dem riesigen Menschen mit seinen Orden und Epaulettes aus.

»Wenn der hiesige Bischof eine Inspektionsreise durch sein Bistum macht, so fährt er nicht in einer Equipage, sondern reitet,« sagte der Diakon, die Feder weglegend. »Es ist ein außerordentlich rührender Anblick, wenn der Kirchenfürst auf seinem kleinen Reitpferd sitzt. Seine Bescheidenheit und Schlichtheit sind von einer biblischen Größe.«

»Ist er ein guter Mensch?« fragte von Koren: er war froh, das Thema des Gespräches ändern zu können.

»Gewiß! Wenn er kein guter Mensch wäre, so hätte man ihn doch nicht zum Bischof geweiht.«

»Unter den Bischöfen kommen wohl sehr gute und talentierte Menschen vor,« sagte von Koren. »Leider bilden sich viele von ihnen ein, Staatsmänner zu sein. Der eine treibt Russifikationspolitik, der andere kritisiert die Wissenschaften. Das ist nicht ihre Sache. Wenn sie nur öfter ins Konsistorium hineinschauen wollten!«

»Ein Laie kann die Bischöfe nicht richten.«

»Warum denn nicht, Diakon? Der Bischof ist ja genau der gleiche Mensch wie ich.«

»Der gleiche, und doch nicht der gleiche,« versetzte der Diakon beleidigt und griff wieder nach der Feder. »Wenn Sie der gleiche Mensch wären, so ruhte auch auf Ihnen die göttliche Gnade und Sie wären selbst Bischof. Und da Sie kein Bischof sind, so sind Sie doch ein anderer Mensch.«

»Schwatze nicht, Diakon!« sagte Samoilenko angeödet. »Hör' mal, was ich mir ausgedacht habe,« wandte er sich an Herrn von Koren, »gib mir diese hundert Rubel nicht. Du wirst bis zum Winter noch drei Monate bei mir essen. Also zahl' mir die drei Monate voraus.«

»Nein.«

Samoilenko zwinkerte mit den Augen und wurde rot. Mechanisch zog er das Buch mit dem Skorpion heran und sah ihn an, dann stand er auf und nahm seine Mütze. Herr von Koren begann weich zu werden.

»Ja, mit solchen Herrschaften soll man leben und etwas Vernünftiges anfangen,« sagte der Zoolog und schleuderte ärgerlich mit dem Fuß ein Stück Papier in die Ecke. »Mensch, kapier' doch, das ist keine Güte, keine Liebe, sondern Kleinmut, Schwachheit, Gift! Was der Verstand aufrichtet, das reißen eure hinfälligen, den Teufel nichts werten Herzen wieder nieder. Als Schüler hatte ich mal den Unterleibstyphus, da hat mich meine Tante aus lauter Mitleid mit marinierten Pilzen gefüttert. Ich wäre fast gestorben. Du und alle alten Tanten, ihr solltet einsehen, daß die Menschenliebe sich nicht im Herzen befinden soll oder in der Herzgrube oder im Buckel, sondern hier!«

Herr von Koren klopfte sich vor die Stirn.

»Nimm!« sagte er und schob ihm den Hundertrubelschein hin.

»Aergere dich nicht unnütz, Kolja,« sagte Samoilenko sanft und faltete den Schein zusammen, »ich verstehe dich ausgezeichnet, aber versetz' dich mal in meine Lage.«

»Du bist eben ein altes Weib. Das ist die Geschichte.« Der Diakon begann zu lachen.

»Hör' mal, Alexander Dawidowitsch, eine letzte Bitte,« sagte Herr von Koren eindringlich, »wenn du diesem Saukerl das Geld gibst, so stell ihm eine Bedingung. Er soll mit seiner Madam zusammenreisen, oder sie voraus. Anders gib es nicht her. Zeremoniell brauchst du ihm gegenüber nicht zu sein. Sag' ihm das, und wenn du's nicht tust, so geh' ich auf Ehrenwort zu ihm aufs Bureau und schmeiße ihn die Treppe hinunter, und dich kenn' ich nicht mehr. Das versichere ich dir.«

»Aber natürlich. Es ist ja bequemer für ihn, mit ihr zusammenzureisen oder sie vorauszuschicken,« sagte Samoilenko, »er wird sogar froh sein. Nun aber, adieu.«

Er nahm herzlich Abschied und ging. Aber bevor er die Tür hinter sich schloß, sah er sich nach Herrn von Koren um, machte ein schreckliches Gesicht und sagte:

»Die Deutschen haben dich verdorben, die Deutschen!«


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