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X

Drei Tage nach dem Picknick kam ganz unerwartet Marja Konstantinowna zu Nadeschda Fjodorowna. Ohne guten Tag zu sagen oder den Hut abzunehmen, faßte sie ihre Hände, drückte sie an ihr Herz und sagte sehr erregt:

»Meine Teure, ich bin aufgeregt, ja erschreckt. Unser lieber, sympathischer Doktor hat gestern meinem Mann mitgeteilt, Ihr Herr Gemahl wäre dahingegangen. Sagen Sie doch, meine Teure, sagen Sie, ist es wahr?«

»Allerdings, er ist gestorben,« entgegnete Nadeschda Fjodorowna.

»Das ist entsetzlich, meine Teure. Aber in jedem Unglück liegt auch etwas Gutes. Ihr Herr Gemahl war wahrscheinlich ein wunderbarer, seltener, heiliger Mensch. Und die hat der liebe Gott lieber im Himmel, als auf der Erde.«

In Marja Konstantinownas Gesicht erzitterten alle Fältchen und Pünktchen, als sprängen unter ihrer Haut tausend Nadelspitzen auf und ab, sie lächelte lindenblütenhaft und sagte feierlich aufseufzend:

»Also sind Sie frei, meine Teure. Jetzt können Sie den Kopf hoch tragen und den Leuten frei in die Augen sehen. Von nun an segnen Gott und die Menschen Ihre Verbindung mit Iwan Adrejitsch. Das ist entzückend. Ich zittere vor Freude und finde keine Worte. Meine Liebe, ich werde Ihre Trauzeugin sein. Mein Nikodim Alexandrowitsch und ich haben Sie immer so lieb gehabt, daß Sie uns schon erlauben werden, Ihre reine, gesetzliche Verbindung zu segnen. Wann gedenken Sie sich denn trauen zu lassen?«

»Daran hab' ich noch gar nicht gedacht,« sagte Nadeschda Fjodorowna und machte ihre Hand frei.

»Unmöglich, meine Liebe. Sie haben daran gedacht. Sicher.«

»Wahrhaftig nicht,« lachte Nadeschda Fjodorowna, »warum sollten wir uns trauen lassen? Ich halte das gar nicht für notwendig. Wir leben so weiter, wie vorher.«

»Sie wissen ja nicht, was Sie da sagen,« sagte Marja Konstantinowna erschrocken, »ach du lieber Gott, wie Sie reden!«

»Durch die Trauung wird es nicht besser, im Gegenteil, eher schlechter. Wir verlieren unsere Freiheit.«

»Meine Liebe, Teure, wie Sie reden!« jammerte Marja Konstantinowna, trat einen Schritt zurück und schlug die Hände zusammen. »Sie sind so extravagant! Besinnen Sie sich doch! Zügeln Sie sich doch!«

»Was heißt, sich zügeln? Ich habe noch nicht gelebt, und Sie sagen, ich soll mich zügeln.«

Nadeschda Fjodorowna dachte daran, daß sie wirklich noch nicht gelebt hatte. Sie hatte die Pension verlassen und einen ungeliebten Mann geheiratet. Dann hatte sie Lajewskij getroffen und lebte nun die ganze Zeit mit ihm an diesem öden, langweiligen Strande und wartete auf was Besseres. Heißt das leben? – Aber sich trauen lassen, das könnte man, dachte sie. Doch sogleich fielen ihr Kirillin und Atschmianow ein. Sie wurde rot und sagte:

»Nein, das ist unmöglich. Und würde sogar Iwan Andrejitsch mich auf den Knien darum bitten, ich müßte nein sagen.«

Marja Konstantinowna saß noch einen Augenblick schweigend auf dem Sofa, traurig und ernst, und starrte vor sich hin, dann erhob sie sich und sagte kühl:

»Adieu, meine Liebe. Verzeihen Sie die Störung. Leicht wird's mir nicht, aber ich muß Ihnen sagen, daß von heute ab zwischen uns alles aus ist. So hoch ich Iwan Andrejitsch schätze, die Tür meines Hauses ist für Sie verschlossen.«

Sie sagte das sehr feierlich und war selbst ganz erdrückt durch ihren feierlichen Ton. Ihr Gesicht erzitterte wieder und nahm den weichen Lindenblütenausdruck an, sie streckte der erschreckten verwirrten Nadeschda Fjodorowna beide Hände hin und sagte beschwörend:

»Erlauben Sie mir, nur eine Minute lang Ihre Mutter zu sein, Ihre ältere Schwester, meine Liebe. Ich werde offen sprechen wie eine Mutter.«

Nadeschda Fjodorowna fühlte in ihrer Brust eine Wärme, eine Freude und solch ein Mitleid mit sich selbst, als wäre wirklich ihre Mutter von den Toten erstanden und stände vor ihr. Sie umarmte Marja Konstantinowna heftig und legte den Kopf an ihre Schulter. Beide weinten sie. Sie setzten sich auf das Sofa und schluchzten eine Weile, ohne sich anzusehen oder ein Wort hervorzubringen.

»Meine Liebe, mein Kind,« begann Marja Konstantinowna, »ich werde Ihnen harte Wahrheiten sagen, ohne Sie zu schonen.«

»Sprechen Sie nur, sprechen Sie.«

»Vertrauen Sie mir, meine Liebe. Sie wissen, von allen hiesigen Damen verkehre ich allein mit Ihnen. Vom ersten Tag an war ich entsetzt über Sie, aber ich hatte nicht die Kraft, Sie mit Verachtung zu behandeln, wie alle es taten. Ich litt für den lieben, guten Iwan Andrejitsch wie für meinen Sohn. So ein junger Mensch in fremdem Lande, unerfahren, schwach, mutterlos. Ich habe mich so um ihn gegrämt. Mein Mann war gegen die Bekanntschaft mit ihm, ich habe zugeredet, gebeten. Wir fingen an, Iwan Andrejitsch einzuladen und Sie natürlich mit ihm. Sonst hätte er sich ja beleidigt gefühlt. Ich habe eine Tochter und einen Sohn. Sie begreifen, der zarte Kindesgeist, das reine Herz. – Wer dieser Kleinen einmal ein Leid tut – Ich habe Sie eingeladen und für meine Kinder gezittert. Oh, wenn Sie einmal Mutter sind, werden Sie meine Furcht verstehen. Und alle wunderten sich, daß ich mit Ihnen verkehrte, wie mit, entschuldigen Sie, mit einer anständigen Frau, man machte allerlei Anspielungen, ach natürlich, Geklatsch, Hypothesen – In der Tiefe meiner Seele verurteilte ich Sie, aber Sie waren unglücklich, elend, ich litt vor Mitleid.«

»Aber warum? Warum?« Nadeschda Fjodorowna zitterte am ganzen Körper. »Wem habe ich denn etwas getan?«

»Sie sind eine furchtbare Sünderin. Sie haben den Eid gebrochen, den Sie Ihrem Mann vor dem Altar geleistet hatten. Sie haben einen ausgezeichneten jungen Mann verführt. Wenn er Ihnen nicht begegnet wäre, hätte er sich vielleicht eine legitime Lebensgefährtin aus einer guten Familie seiner Bekanntschaft gewählt und wäre jetzt wie alle. Sie haben seine Jugend zerstört. Sagen Sie nichts, meine Liebe. Ich glaub' es doch nicht, daß die Männer an unseren Sünden schuld sein können. In solchen Sachen trägt immer die Frau die Schuld. Und außerdem sind Sie auf den Pfad des Lasters getreten und haben dabei alle Schamhaftigkeit vergessen. Eine andere Frau in Ihrer Lage hätte sich vor den Menschen verborgen, sich zu Hause eingeschlossen, die Leute hätten sie nur im Tempel des Herrn gesehen, ganz schwarz gekleidet und weinend, und jeder hätte aufrichtig ergriffen gesagt: ›Lieber Gott, dieser gefallene Engel kehrt wieder zu dir zurück.‹; Sie aber, meine Liebe, haben alle Scham vergessen, haben offen gelebt, als wollten Sie sich mit Ihrer Sünde brüsten. Sie haben gescherzt und gelacht, und wenn ich Sie ansah', hab' ich vor Schrecken gezittert und gemeint, der Donner des Himmels müßte unser Haus zerstören, wenn Sie bei uns saßen. Sagen Sie nichts, meine Teure,« rief Marja Konstantinowna, als sie merkte, daß Nadeschda Fjodorowna sprechen wollte, »vertrauen Sie mir, ich betrüge Sie nicht und verberge keine Wahrheit vor den Augen Ihrer Seele. Hören Sie auf mich, meine Teure. Gott merkt sich die großen Sünder, und Ihr Name war angemerkt. Denken Sie doch, wie entsetzlich immer Ihre Toiletten waren.«

Nadeschda Fjodorowna hatte immer die beste Meinung von ihren Toiletten gehabt. Sie hörte auf zu weinen und sah Marja Konstantinowna erstaunt an.

»Ja, entsetzlich,« fuhr diese fort, »aus der Gesuchtheit und Buntheit Ihrer Kostüme kann jeder auf Ihre Lebensführung schließen. Alle lachten und zuckten die Achseln über Sie, ich aber litt so sehr dabei. Und dann, verzeihen Sie, Sie sind nicht reinlich. Als wir uns im Badehaus trafen, machten Sie mich zittern. Das Oberkleid war noch so so, aber die Untertaille, das Hemd! Meine Liebe, ich werde rot. Dem armen Iwan Andrejitsch bindet auch niemand seine Kravatte, wie es sich gehört, und an der Wäsche, an den Stiefeln des armen Menschen sieht man, daß sich zu Hause niemand um ihn kümmert. Er wird auch nie satt bei Ihnen, meine Liebe. Und wirklich, wenn zu Hause niemand für Tee und Kaffee sorgt, muß er ja, ob er will oder nicht, seine halbe Gage im Pavillon durchbringen. Und in Ihrer Wohnung ist es schrecklich, schrecklich! Bei niemand in der ganzen Stadt gibt es Fliegen, bei Ihnen kann man sich ihrer gar nicht erwehren, alle Teller und Schüsseln sind schwarz. Auf den Fensterbrettern, den Stühlen, sehen Sie nur, Staub, tote Fliegen, Gläser. Warum stehen die Gläser da? Und, meine Liebe, der Tisch ist jetzt noch nicht abgeräumt. Und Ihr Schlafzimmer zu betreten schämt man sich einfach. Ueberall liegt Wäsche herum, an den Wänden hängen Ihre verschiedenen Gummisachen, da steht ein gewisses Gefäß. – Meine Liebe, der Mann darf davon nichts wissen, und die Frau muß vor ihm rein sein wie ein Engel. Ich stehe jeden Morgen beim ersten Dämmern auf und wasch' mir das Gesicht mit kaltem Wasser, damit mein Nikodim Alexandrowitsch nicht bemerkt, daß ich verschlafen bin.«

»Das ist alles Unsinn!« schluchzte Nadeschda Fjodorowna. »Wenn ich glücklich wäre, aber ich bin so unglücklich.«

»Ja, Sie sind sehr unglücklich,« seufzte Marja Konstantinowna und hielt das Weinen kaum zurück, »und Sie erwartet in der Zukunft schreckliches Leid. Ein einsames Alter, Krankheiten, und dann die Verantwortung beim jüngsten Gericht. Schrecklich, schrecklich! Das Schicksal selbst reicht Ihnen jetzt die helfende Hand, und Sie stoßen sie töricht zurück. Lassen Sie sich trauen, möglichst bald.«

»Ja, es muß sein,« sagte Nadeschda Fjodorowna, »aber es ist unmöglich.«

»Warum?«

»Es ist unmöglich. Oh, wenn Sie wüßten!«

Nadeschda Fjodorowna wollte von Kirillin erzählen und davon, wie sie gestern abend am Hafen den jungen Atschmianow getroffen hatte und ihr der wahnsinnige Gedanke gekommen war, von ihren Schulden loszukommen, und wie sie spät abends nach Hause zurückgekommen war und sich unrettbar gefallen und verkäuflich gefühlt hatte. Sie wußte selbst nicht, wie das gekommen war. Und sie wollte jetzt vor Marja Konstantinowna den Schwur leisten, die Schuld sicher zu bezahlen, aber Schluchzen und Scham ließen sie nicht sprechen.

»Ich reise fort,« stieß sie hervor, »Iwan Andrejitsch kann hierbleiben, ich fahre fort.«

»Wohin?«

»Nach Rußland.«

»Aber wovon wollen Sie da leben? Sie haben doch nichts.«

»Ich werde Uebersetzungen machen oder – oder ich eröffne eine Leihbibliothek.«

»Phantasieren Sie nicht, meine Liebe. Zu einer Leihbibliothek braucht man Geld. Uebrigens will ich Sie jetzt allein lassen, Sie aber sollen sich beruhigen und nachdenken. Und morgen kommen Sie fröhlich zu mir. Das wird entzückend sein. Nun leben Sie wohl, mein Engelchen. Warten Sie, ich muß Ihnen einen Kuß geben.«

Marja Konstantinowna küßte Nadeschda Fjodorowna auf die Stirn, schlug ein Kreuz über sie und ging leise hinaus. Es dämmerte schon, und Olga zündete das Feuer in der Küche an. Immer noch weinend ging Nadeschda Fjodorowna ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Ein heftiges Fieber begann sie zu schütteln. Liegend entkleidete sie sich, schob das Kleid ans Fußende hinunter und kroch unter der Decke ganz in sich zusammen. Sie war durstig, und keiner war da, der ihr Wasser geben konnte.

»Ich geb's ihm zurück,« sprach sie zu sich selbst. Ihr kam es in ihren Phantasien vor, als säße sie neben einer Kranken und sähe, daß sie selbst die Kranke wäre: »Ich geb's ihm zurück. Zu dumm, zu glauben, daß ich des Geldes wegen ... Ich reise fort und schick' ihm das Geld aus Petersburg. Zuerst hundert, dann wieder hundert, und dann noch einmal hundert –«

Spät in der Nacht kam Lajewskij heim.

»Zuerst hundert,« sagte Nadeschda Fjodorowna zu ihm, »dann wieder hundert –«

»Du solltest Chinin nehmen,« sagte er und dachte: ›Morgen ist Mittwoch, da geht das Schiff, und ich kann nicht fort. Also muß ich bis Sonnabend hier leben.‹;

Nadeschda Fjodorowna kniete im Bett auf.

»Ich habe jetzt eben doch nichts gesagt?« fragte Nadeschda Fjodorowna, lächelnd und ins Licht blinzelnd.

»Nein. Morgen früh muß man den Doktor holen. Schlaf' jetzt.«

Er nahm ein Kopfkissen und ging zur Tür. Seitdem er sich endgültig entschlossen hatte, abzureisen und Nadeschda Fjodorowna zu verlassen, erregte sie in ihm Mitleid und ein Gefühl der Schuld. Er fühlte in ihrer Gegenwart sein Gewissen schlagen, wie in der Gegenwart eines kranken oder alten Pferdes, das man zu töten beschlossen hat. In der Tür blieb er stehen, wandte sich um und sagte:

»Beim Picknick war ich erregt und grob gegen dich. Verzeih' mir das, um Gottes willen.«

Dann ging er in sein Kabinett, legte sich hin und konnte lange nicht einschlafen.

Am nächsten Morgen kam Samoilenko, des Feiertags wegen in voller Paradeuniform mit Epaulettes und Orden. Er befühlte Nadeschda Fjodorownas Puls und ließ sich ihre Zunge zeigen. Als er aus dem Schlafzimmer trat, stand Lajewskij an der Schwelle und fragte zitternd:

»Nun, wie steht es?«

Auf seinem Gesicht lag Furcht, äußerste Unruhe und gierige Hoffnung.

»Nur ruhig Blut. Es ist nichts Gefährliches,« sagte Samoilenko, »das gewöhnliche Fieber.«

»Ich spreche ja nicht davon,« sagte Lajewskij erregt und ungeduldig, »hast du das Geld bekommen?«

»Entschuldige, lieber Freund,« flüsterte Samoilenko und sah sich verwirrt nach der Tür um, »entschuldige um Gottes willen. Kein Mensch hat übriges Geld, und ich habe bis jetzt so zu fünf und zehn Rubeln alles in allem hundertundzehn zusammenbekommen. Heute sprech' ich noch mit jemand. Hab' Geduld.«

»Aber der letzte Termin ist Sonnabend,« flüsterte Lajewskij und zitterte vor Ungeduld, »bei allen Heiligen, bis Sonnabend! Wenn ich Sonnabend nicht reisen kann, brauch' ich nichts, nichts! Ich begreife nicht, wie ein Doktor kein Geld haben kann.«

»Ja, Herrgott,« flüsterte Samoilenko schnell und angestrengt, und etwas piepste in seiner Kehle, »mir haben sie alles abgepumpt, siebentausend hab' ich ausgeliehen, und ich selbst hab' rundherum Schulden. Kann ich was dafür?«

»Aber bis Sonnabend bekommst du es? Ja?«

»Ich werde mich bemühen.«

»Ich bitte dich inständig, alter Freund! So daß Freitag früh das Geld in meinen Händen ist.«

Samoilenko setzte sich und verschrieb Chininlösung, Kalii bromati, Rhabarbertropfen, tincturae gentianae, aquae foeniculi, alles in einer Mixtur, dazu fügte er Rosensirup, damit es nicht bitter schmeckte. Dann ging er.


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