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XIX

Herr von Koren trat auf die Lichtung. Er wies mit beiden Händen gen Osten und sagte:

»Wie schön, zum erstenmal in meinem Leben seh ich es. Grüne Strahlen!«

Im Osten schossen hinter den Bergen zwei grüne Lichtstrahlen empor. Es war wirklich schön. Die Sonne ging auf.

»Guten Morgen,« fuhr der Zoolog fort und nickte Lajewskijs Sekundanten zu, »ich hab' mich doch nicht verspätet?«

Ihm folgten seine Sekundanten, Boiko und Goworowskij, zwei sehr junge, gleich große Offiziere in weißen Interimsröcken, und der hagere, zugeknöpfte Doktor Ustimowitsch. Dieser trug in der rechten Hand ein Etui, die Linke, in der er den Spazierstock trug, hatte er nach seiner Gewohnheit auf dem Rücken. Als er das Etui, ohne irgend jemand zu begrüßen, auf den Boden gelegt hatte, legte er auch die rechte Hand auf den Rücken und begann in der Lichtung herumzuspazieren.

Lajewskij fühlte sich müde und unbehaglich wie ein Mensch, der vielleicht bald sterben muß und deshalb die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er wollte möglichst schnell sterben oder aber nach Hause fahren. Zum erstenmal im Leben sah er einen Sonnenaufgang; diese Morgenfrühe, die grünen Strahlen, die Feuchtigkeit und diese Leute in ihren nassen Stieseln, all das schien ihm unnütz und überflüssig in seinem Leben und bedrückte ihn. Es hatte alles so gar keine Beziehungen zu der durchlebten Nacht, zu seinen Gedanken und seinem Schuldgefühl. Darum wäre er am liebsten gegangen, ohne das Duell abzuwarten.

Herr von Koren war merklich erregt und bemühte sich, das zu verbergen. Darum tat er, als interessierten ihn die grünen Strahlen so außerordentlich. Die Sekundanten waren verlegen und wechselten Blicke, als wollten sie fragen: wozu sind wir hier und was sollen wir tun?

»Meine Herren,« sagte Scheschkowskij, »ich glaube, noch weiter zu gehen, hat keinen Zweck. Der Ort ist ganz geeignet.«

»Gewiß,« stimmte Herr von Koren bei.

Wieder trat eine Pause ein. Doktor Ustimowitsch schlenderte auf und ab. Plötzlich wandte er sich abrupt zu Lajewskij und sagte halblaut:

»Ihnen sind wahrscheinlich meine Bedingungen noch nicht bekannt. Jede Partei zahlt mir fünfzehn Rubel, und falls einer von Ihnen fällt, zahlt der Ueberlebende die ganzen dreißig Rubel allein.«

Lajewskij kannte diesen Menschen von früher, aber jetzt sah er zum erstenmal mit Bewußtsein diese dunkeln Augen, den spärlichen Schnurrbart und den schwindsüchtigen Hals. Das war ein Wucherer, aber kein Arzt. Sein Atem hatte einen unangenehmen, faulen Geruch.

›Herrgott, was für Leute es doch gibt,‹; dachte Lajewskij und sagte:

»Gut.«

Der Doktor nickte und begann wieder auf und abzugehen. Jeder fühlte, daß es schon Zeit war anzufangen oder das Angefangene zu beenden. Aber sie fingen nicht an und endeten nicht, sondern gingen und standen umher und rauchten. Die jungen Offiziere betrachteten aufmerksam ihre Waffenröcke und strichen sie glatt, als wären sie zu einem Ball gekommen. Scheschkowskij trat auf sie zu und sagte leise:

»Meine Herren, wir müssen alle Kräfte in Bewegung setzen, damit dieses verfluchte Duell nicht zustande kommt. Wir müssen sie versöhnen.« Er wurde rot und fuhr fort: »Gestern war Ihr Kirillin bei mir und erzählte mir, Lajewskij hätte ihn gestern bei Nadeschda Fjodorowna überrascht, und solche Geschichten.«

»Ja, wir wissen das,« sagte Boiko.

»Nun, sehen Sie, Lajewskij zittern die Hände und – solche Geschichten. Er kann ja keine Pistole halten. Mit ihm sich zu schlagen ist ebenso unmenschlich wie mit einem Betrunkenen oder Typhuskranken. Wenn es zu keiner Aussöhnung kommt, meine Herren, muß man das Duell wenigstens aufschieben, wie meinen – das ist so eine verfluchte Sache, daß –«

»Sprechen Sie mit Herrn von Koren.«

»Ich kenne die Duellregeln nicht, hol' sie überhaupt der Teufel, und ich will sie nicht kennen lernen. Er könnte am Ende denken, Lajewskij hätte Angst bekommen und mich hingeschickt. Uebrigens, wie er mag, ich geh' hin.«

Scheschkowskij trat zaudernd und ein wenig hinkend, als wäre ihm der Fuß eingeschlafen, auf Herrn von Koren zu. Und während er so ging und sich räusperte, atmete seine ganze Gestalt Faulheit.

»Ich muß Ihnen eine Mitteilung machen, mein Herr,« begann er und betrachtete aufmerksam das Blumenmuster auf dem Hemd des Zoologen, »streng vertraulich. Ich kenne die Duellregeln nicht, hol' sie überhaupt der Teufel, und will sie nicht kennen lernen. Ich urteile nicht als Sekundant und solche Geschichten, sondern als Mensch, und so –«

»Ja, und?«

»Gewöhnlich hört man nicht auf den Versöhnungsvorschlag der Sekundanten und schlägt sich. Die liebe Eitelkeit usw. Aber ich bitte Sie, sehen Sie Iwan Andrejitsch an. Er ist heute nicht in seinem normalen Zustand, sozusagen nicht bei Verstand. Ihm ist ein Unglück passiert. Ich kann Klatschgeschichten nicht leiden,« Scheschkowskij wurde rot und sah sich um, »aber in Anbetracht des Duells halte ich mich für verpflichtet, es Ihnen mitzuteilen. Gestern abend hat er im Mjuridowschen Haus seine Madame mit Kirillin überrascht.«

»Wie ekelhaft,« murmelte der Zoolog; er wurde bleich, runzelte die Stirn und spuckte geräuschvoll aus: »Pfui!«

Seine Unterlippe erzitterte, er entfernte sich von Scheschkowskij, er wollte nichts mehr hören. Und als fühlte er plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge, spuckte er noch einmal geräuschvoll aus und sah zum erstenmal an diesem Morgen Lajewskij voll Haß an. Seine Erregung und das unbehagliche Gefühl waren vorbei, er warf den Kopf zurück und sagte laut:

»Meine Herren, worauf warten wir, möcht' ich wissen? Warum fangen wir nicht an?«

Scheschkowskij wechselte einen Blick mit den Offizieren und zuckte die Achseln.

»Meine Herren,« sagte er laut, ohne sich an einen von ihnen zu wenden, »meine Herren, wir schlagen Ihnen vor, sich zu versöhnen.«

»Kommen wir etwas schneller mit de» Formalitäten zu Ende,« sagte Herr von Koren, »von der Aussöhnung ist schon gesprochen worden. Was kommt jetzt für eine Formalität?«

»Aber wir bestehen auf der Aussöhnung,« sagte Scheschkowskij, und in seiner Stimme lag etwas wie eine Bitte um Entschuldigung, daß er sich in fremde Angelegenheiten mischte. Er wurde rot, legte die Hand aufs Herz und fuhr fort: »Meine Herren, wir sehen keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Beleidigung und dem Duell. Die Beleidigungen, die wir uns zuweilen in unserer menschlichen Schwäche zufügen, und das Duell haben nichts miteinander gemein. Sie sind studierte, gebildete Leute und sehen natürlich selbst im Duell nur eine veraltete, leere Formalität und – solche Geschichten. Wir sehen es ebenso an, sonst wären wir nicht mitgefahren. Denn wir können es nicht dulden, daß in unserer Gegenwart die Leute sich gegenseitig totschießen.« Scheschkowskij trocknete sich den Schweiß von der Stirn und fuhr fort: »Meine Herren, machen Sie ein Ende mit Ihren Zwistigkeiten, reichen Sie sich die Hand, und fahren wir heim und trinken eine Versöhnungsflasche. Auf Ehre, meine Herren!«

Herr von Koren schwieg. Lajewskij fühlte, daß man ihn ansah, und sagte:

»Ich habe nichts gegen Nikolai Wassiljewitsch. Wenn er findet, daß ich ihn beleidigt habe, bin ich bereit, meine Entschuldigung zu machen.«

Herr von Koren ärgerte sich.

»Meine Herren,« sagte er, »Sie wollen wohl, daß Herr Lajewskij als edelmütiger Ritter nach Hause zurückkehrt. Aber ich kann Ihnen und ihm das Vergnügen nicht machen. Es wäre ja auch nicht nötig gewesen, so früh aufzustehen und zehn Werst weit aus der Stadt zu fahren, nur um einen Versöhnungsschluck zu trinken, zu frühstücken und zu hören, daß das Duell eine veraltete Formalität ist. Ein Duell ist ein Duell und braucht nicht dümmer und falscher gemacht zu werden, als es wirklich ist. Ich will mich duellieren.«

Es trat ein allgemeines Schweigen ein. Der Offizier Boiko nahm die Pistolen aus dem Kasten und gab eine Herrn von Koren, die andere Lajewskij. Darauf entstand eine Verwirrung, die den Zoologen und die Sekundanten auf kurze Zeit erheiterte. Es erwies sich, daß keiner von den Anwesenden in seinem Leben ein Duell mitgemacht hatte. Niemand hatte eine Ahnung, wie man sich aufstellen mußte und was die Sekundanten zu sagen und zu tun hatten. Boiko sagte, man müsse zwanzig Schritte abschreiten und an den äußersten Punkten dieser Entfernung je einen Säbel in die Erde stecken. Dann müßten die Gegner auf das Kommando »Los« aufeinander zugehen bis auf zehn Schritt Distanz und dann schießen. Das schien gezwungen und unverständlich.

»Meine Herren, wer erinnert sich der Schilderung bei Lermontow?« fragte Herr von Koren lachend. »Auch bei Turgenjew schießt sich Basarow mit jemand –«

»Wozu das?« fragte Doktor Ustimowitsch und blieb stehen. »Messen Sie eine Entfernung von zehn Schritt ab und Schluß.«

Und er ging dreimal auf und ab, als wollte er zeigen, wie man Entfernungen abschreitet. Boiko schritt zehn Schritte ab, und der andere Offizier zog den Säbel und machte mit ihm an den äußersten Punkten je einen Strich, um die Barriere zu bezeichnen.

Die Gegner nahmen unter allgemeinem Schweigen ihre Plätze ein.

›Wie die Maulwürfe,‹; dachte der Diakon, der im Gebüsch saß.

»Die Forderung ging von Nikolai Wassiljitsch aus,« sagte Scheschkowskij, »also schießen Sie zuerst,« nickte er Lajewskij zu, »so ist es doch, glaub' ich?«

»Jawohl,« sagte Boiko.

Scheschkowskij sprach etwas, Boiko erklärte wieder etwas, aber Lajewskij hörte nichts, oder er hörte es wohl, verstand aber kein Wort. Er spannte den Hahn und hob die schwere, kalte Pistole, die Mündung nach oben. Er hatte vergessen, den Mantel aufzuknöpfen, und der drückte ihn in der Schulter, und es war ihm so unbequem, den Arm aufzuheben, als wäre sein Aermel aus Blech. Er dachte an gestern, an seinen Haß gegen diese dunkle Stirn und die lockigen Haare und fühlte, daß er nicht einmal damals, im Augenblick des heftigsten Hasses und Zornes hätte auf einen Menschen schießen können. Er fürchtete, die Kugel könnte durch irgendeinen Zufall doch seinen Gegner treffen und hob die Pistole immer höher und höher. Dabei fühlte er, daß diese allzu offenkundige Großmut weder taktvoll noch edelmütig war, aber er konnte und wollte nicht anders. Er blickte in das bleiche, spöttisch lächelnde Gesicht des Zoologen, der wohl von Anfang an die Ueberzeugung gehabt hatte, daß sein Gegner in die Luft schießen würde. Und er dachte: ›Gott sei Dank. Gleich ist alles vorbei. Ich brauche nur etwas stärker auf den Abzug zu drücken ...‹;

Es gab ihm einen heftigen Schlag in der Schulter, der Schuß krachte und in den Bergen antwortete das Echo: »Pach-tach«.

Herr von Koren sah zu Doktor Ustimowitsch hinüber, der nach wie vor, die Hände auf dem Rücken, auf und ab ging und sich um die ganze Sache gar nicht kümmerte.

»Herr Doktor,« sagte der Zoolog, »seien Sie so gut und laufen Sie nicht wie ein Perpendikel. Mir wird ganz schwindlig davon.«

Der Doktor blieb stehen. Herr von Koren hob die Pistole und begann auf Lajewskij zu zielen.

›Es ist aus,‹; dachte Lajewskij.

Die gerade auf sein Gesicht gerichtete Pistolenmündung, der Ausdruck von Haß und Verachtung in Herrn von Korens ganzer Haltung, dieser Mord, den sogleich ein anständiger Mensch am hellen Tage in Gegenwart anderer anständiger Menschen begehen sollte, diese Stille und die unbekannte Kraft, die Lajewskij zwang, stehen zu bleiben, anstatt zu fliehen – wie geheimnisvoll, unverständlich und schrecklich war das alles! Die Zeit, während Herr von Koren zielte, schien Lajeswskij länger als die Nacht. Er blickte flehend auf die Sekundanten, sie waren bleich und rührten sich nicht. Es schien nach Mord und Tod zu riechen.

›Schieß doch schneller!‹; dachte Lajewskij und fühlte, daß sein bleiches, zitterndes, elendes Gesicht Herrn von Korens Haß noch erhöhen mußte.

›Gleich schieß ich ihn tot,‹; dachte Herr von Koren, zielte auf Lajewskij Stirn und berührte mit dem Finger schon den Drücker. – ›Natürlich schieß ich ihn tot!‹;

»Er schießt ihn tot!« ertönte plötzlich ein verzweifelter Schrei irgendwo ganz in der Nähe.

Im selben Moment krachte der Schuß. Als sie gesehen hatten, daß Lajewskij an seinem Platz stand und nicht gefallen war, wandten sich alle nach der Richtung des Schreies und erblickten den Diakon. Bleich, die feuchten Haare an Stirn und Wangen geklebt, ganz naß und schmutzig stand er am anderen Ufer im Maisfeld, lächelte sonderbar und winkte mit seinem nassen Hut. Scheschkowskij lachte vor Freude hell auf, brach dann in Tränen aus und ging beiseite.


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