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XVII

 

– – ich hör' im Herzen, schmerzdurchbebt,
Viel irre Nachtgedanken reden;
Vor meinem trüben Blick in tiefem Schweigen webt
Erinn'rung ihre langen Fäden.

Voll Widerwillen les' ich meines Lebens Buch
Und fühl' mich jäh vor Furcht erbleichen,
Doch keine Klage, keine Träne und kein Fluch
Kann eine einz'ge Zeile streichen.

Puschkin

 

Ob er morgen früh fiel oder ausgelacht wurde, das heißt am Leben blieb, – er war in jedem Fall zugrunde gerichtet. Und ob dies lasterhafte Weib aus Verzweiflung und Scham seinem Leben ein Ende machte oder seine traurige Existenz weiterschleppte, sie war in jedem Fall zugrunde gegangen.

So dachte Lajewskij, als er spät abends an seinem Tisch saß. Plötzlich sprang klappernd das Fenster auf, ein starker Windstoß fuhr ins Zimmer, und die Papiere flogen vom Tisch. Lajewskij schloß das Fenster und bückte sich, sie aufzuheben. Dabei spürte er an seinem Körper etwas Neues, eine Ungewandtheit, die er früher nicht bemerkt hatte, und seine Bewegungen kamen ihm fremd vor. Sein Körper hatte die Biegsamkeit verloren.

Am Vorabend seines Todes muß man seinen Lieben schreiben, fiel Lajewskij ein. Er nahm die Feder und schrieb in zitterigen Zügen:

»Geliebte Mutter!«

Er wollte seine Mutter bitten, im Namen des barmherzigen Gottes, an den er glaubte, der unglücklichen, von ihm entehrten Frau eine Heimstatt zu bereiten und ihr wärmende Freundlichkeit zu bieten. Durch ihr Opfer sollte sie die schreckliche Sünde des Sohnes an dem armen, einsamen, schwachen Wesen wenigstens zum Teil sühnen. Aber dann stellte er sich seine Mutter vor, wie die korpulente, gewichtige alte Dame in ihrer Spitzenhaube morgens in den Garten hinaustrat, gefolgt von der Gesellschafterin mit dem Bologneserhündchen. Er dachte daran, wie befehlshaberisch sie mit dem Gärtner und den Dienstboten zankte, wie stolz und gemessen ihr Gesicht war – und er durchstrich die Worte, die er geschrieben.

Alle drei Fenster erleuchtete plötzlich ein greller Blitz, und gleich darauf dröhnte ein betäubender, rollender Donnerschlag, anfangs dumpf, dann krachend und prasselnd. Die Scheiben klirrten davon. Lajewskij stand auf, ging ans Fenster und lehnte die Stirn an die Scheibe. Draußen raste ein starkes, schönes Gewitter. Am Horizont fuhren ununterbrochen die Blitze wie weiße Bänder aus den Wolken ins Meer und erleuchteten weithin die schwarzen Wellen. Und rechts und links und wahrscheinlich auch über dem Haus leuchteten Blitze.

»Gewitter,« flüsterte Lajewskij. Er hatte den Wunsch zu beten, wenn auch nur zum Blitz oder zu den Wolken. »Schönes Gewitter!«

Er erinnerte sich, wie er einst als Kind bei einem Gewitter mit unbedecktem Kopf in den Garten gelaufen war und hinter ihm her zwei kleine weißblonde Mädchen mit blauen Augen, und wie sie der Regen durchnäßt hatte. Sie hatten laut gelacht vor Freude, beim ersten prasselnden Donnerschlag, hatten sich aber zutraulich an ihn geschmiegt, und er hatte ein Kreuz geschlagen und hastig gebetet: »Heilig, heilig, heilig –« Wohin seid ihr gegangen, in welches Meer seid ihr versunken, ihr Keime eines schönen, reinen Lebens? Jetzt fürchtete er sich nicht mehr vor dem Gewitter, er liebte die Natur nicht mehr und glaubte nicht an Gott. Und alle zutraulichen Mädchen hatte er verdorben, er und seine Kameraden. Im Garten seines Lebens hatte er nicht einen Baum gepflanzt, kein Gräschen war dort entsprossen. Unter Lebenden hatte er gelebt und keine Fliege gerettet, nur zerstört hatte er, vernichtet und gelogen, gelogen ...

›Welche Stunde in meiner Vergangenheit ist nicht voll Sünde?‹; fragte er sich, und suchte nach einer hellen Erinnerung, um sich daran zu klammern wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.

Das Gymnasium? Die Universität? Das war ein Betrug. Er hatte nicht gearbeitet und das vergessen, was man ihn gelehrt hatte. Sein Staatsdienst? Auch das war Betrug. Er hatte seine Pflicht nicht erfüllt und seine Gage umsonst bezogen. Sein Dienst war weiter nichts, als ein gemeiner Diebstahl an der Staatskasse, für den man nicht eingesperrt werden konnte.

Die Wahrheit hatte er nicht gebraucht und nicht gesucht. Sein Gewissen war bezaubert gewesen von Laster und Lüge und hatte geschlafen und geschwiegen. Wie ein Fremdling von einem andern Planeten hatte er mit den Menschen gelebt, gleichgültig gegen ihre Leiden, Ideen, Religionen, Wissenschaften, Forschungen, Kämpfe. Er hatte keinem ein gutes Wort gesagt, keine Zeile geschrieben. Er hatte den Menschen für keinen Pfennig gedient, sondern nur ihr Brot gegessen, ihren Wein getrunken, ihre Frauen verführt, von ihren Gedanken gelebt. Um sein verächtliches Parasitenleben vor ihnen und sich selbst zu rechtfertigen, hatte er immer versucht, sich den Anschein zu geben, als wäre er edler und besser als sie. Lüge, Lüge, Lüge...

Klar erinnerte er sich dessen, was er heute in Mjuridows Haus gesehen, und er fühlte sich unerträglich elend vor Ekel und Kummer. Kirillin und Atschmianow waren widerlich, aber sie hatten nur fortgesetzt, was er begonnen, sie waren seine Helfershelfer und Schüler. Einem jungen, schwachen Weibe, das ihm mehr vertraute als einem Bruder, hatte er Mann, Freundschaft und Heimat geraubt. Er hatte sie hierhergebracht in Hitze, Fieber und Langeweile. Tag für Tag mußte sie wie ein Spiegel seine Trägheit, Lasterhaftigkeit und Verlogenheit in sich aufnehmen. Davon war ihr ganzes Leben ausgefüllt worden. Dann hatte er sie satt bekommen, sie aber nicht verlassen, sondern fester und fester mit Lüge umstrickt. Atschmianow und Kirillin hatten das Werk vollendet.

Lajewskij setzte sich bald an den Tisch, bald ging er wieder ans Fenster; bald löschte er das Licht, bald zündete er es aufs neue an. Er verfluchte sich laut, weinte, klagte, flehte um Verzeihung. Mehrmals lief er verzweifelt zum Tisch und schrieb:

»Geliebte Mutter!«

Außer seiner Mutter hatte er keine Verwandten und Freunde. Aber wie konnte die Mutter ihm helfen? Und wo war sie? Er wollte zu Nadeschda Fjodorowna gehen, ihr zu Füßen fallen, ihr Hände und Füße küssen, sie um Verzeihung bitten. Aber sie war sein Opfer, und er fürchtete sich vor ihr wie vor einer Leiche.

»Mein Leben ist verdorben,« flüsterte er, »Herrgott, wozu leb' ich noch?«

Er stieß seinen bleichen Stern vom Himmel. Der stürzte nieder, und seine Spur verschwand im nächtlichen Dunkel. Er würde nie wieder an den Himmel zurückkehren, denn das Leben wird uns nur einmal geschenkt und wiederholt sich nicht. Ja, wenn er die vergangenen Tage und Jahre zurückrufen könnte, er würde ihre Lügen in Wahrheit wandeln, ihre Trägheit in Arbeit, ihre Langeweile in Freude. Wem er die Reinheit geraubt hatte, dem würde er sie wiedergeben, und er würde einen Gott finden und eine Gerechtigkeit. Aber wie man einen gefallenen Stern nie wieder an den Himmel heften kann, so unmöglich war auch dies. Und weil es unmöglich war, verzweifelte er.

Als das Gewitter vorüber war, saß er am offenen Fenster und dachte ruhig an das, was ihm bevorstand. Herr von Koren würde ihn wahrscheinlich erschießen. Die klare, kalte Weltanschauung dieses Menschen gestattete die Vernichtung der Schlechten und Unnützen. Und sollte sie ihm im entscheidenden Augenblick nicht treu bleiben, so würden der Haß und der Ekel, die Lajewskij in ihm erregte, nachhelfen. Sollte er aber fehlen oder ihn nur verwunden oder in die Luft schießen, um sich über den verhaßten Gegner lustig zu machen, was dann? Wohin sollte er dann?

Nach Petersburg? fragte Lajewskij. Aber das hieße, das alte Leben aufs neue beginnen, dies Leben, das er verfluchte. Wer das Heil in anderen Ländern sucht, ist auf einem Irrweg. Die Erde ist überall gleich. Oder sollte er das Heil bei den Menschen suchen? Nein, auch das nicht. Samoilenkos Güte und Großmut konnten ihm ebensowenig helfen, wie die Spottsucht des Diakons oder der Haß des Zoologen. Das Heil darf man nur in sich selbst suchen, und wenn man es da nicht findet, muß man ein Ende machen mit sich ...

Er hörte das Rasseln eines Wagens. Es dämmerte schon. Der nasse Sand knirschte unter den Rädern. Dann hielt der Wagen vor der Tür. Zwei Leute saßen darin.

»Einen Augenblick, sofort,« sagte Lajewskij, »ich schlafe nicht mehr. Ist es schon Zeit?«

»Ja, es ist vier. Bis wir draußen sind –«

Lajewskij zog den Mantel an und nahm die Mütze. Dann steckte er Zigaretten zu sich und blieb nachdenklich stehen. Ihm war, als hätte er etwas vergessen. Draußen unterhielten sich die Sekundanten halblaut und schnaubten die Pferde, und diese Laute am frühen Morgen, wo alles noch schlief und der Himmel kaum dämmerte, erfüllten Lajewskijs Seele mit Trauer, gleich einer bösen Vorahnung. Einen Augenblick noch stand er sinnend da, dann ging er ins Schlafzimmer.

Nadeschda Fjodorowna lag in ihrem Bett, lang ausgestreckt, den Plaid über den Kopf gezogen. Sie rührte sich nicht und sah mit dem verhüllten Kopf wie eine ägyptische Mumie aus. Lajewskij blickte sie voll Kummer an, bat sie in Gedanken um Verzeihung und dachte: ›Wenn der Himmel nicht leer ist und dort wirklich ein Gott lebt, wird er sie beschützen; gibt es aber keinen Gott, so möge sie zugrunde gehen, ihr Leben hat keinen Zweck.‹;

Sie zuckte plötzlich zusammen und setzte sich im Bett auf. Dann erhob sie ihr bleiches Gesicht, sah Lajewskij voll Schrecken an und fragte:

»Bist du's? Ist das Gewitter vorbei?«

»Ja.«

Sie besann sich, preßte das Gesicht in beide Hände und erzitterte am ganzen Körper.

»Wie entsetzlich mir ist,« stieß sie hervor, »ach wüßtest du, wie entsetzlich mir ist. Ich habe erwartet,« fuhr sie blinzelnd fort, »du würdest mich totschlagen oder aus dem Haus jagen in Regen und Gewitter. Aber du zögerst, zögerst –«

Er umarmte sie fest und überschüttete ihre Knie und Hände mit Küssen. Dann, als sie etwas flüsterte und in der Erinnerung erzitterte, streichelte er ihr Haar, schaute lange in ihr Gesicht und begriff, daß dieses unglückliche, lasterhafte Weib für ihn der einzige Freund, der einzige Verwandte, der einzige unersetzliche Mensch war.

Als er aus der Tür trat und in den Wagen stieg, hatte er den Wunsch, lebend heimzukehren.


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