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V

Am nächsten Morgen ging Nadeschda Fjodorowna zum Baden, begleitet von ihrer Köchin Olga, die einen Krug, eine große Messingschüssel, die Handtücher und den Schwamm trug. Auf der Reede lagen zwei fremde Dampfer mit schmutzig-weißen Schornsteinen, offenbar ausländische Frachtschiffe. Einige Männer in weißer Kleidung gingen am Bollwerk entlang und schrien laut auf französisch; von den Schiffen wurde geantwortet. Von der kleinen Stadtkirche klang helles Glockengeläut herüber.

»Heute ist ja Sonntag,« erinnerte sich Nadeschda Fjodorowna und freute sich darüber.

Sie fühlte sich vollkommen gesund und war in fröhlicher Feiertagsstimmung. In dem neuen, weiten Kleid aus Rohseide und mit dem großen Strohhut, dessen breite Ränder an den Seiten herabgebogen waren, so daß ihr Gesicht wie aus einem Körbchen hervorlugte, kam sie sich sehr niedlich vor. Wußte sie doch, daß es in der ganzen Stadt nur eine junge, hübsche und intelligente Dame gab. Und das war sie. Und sie allein verstand sich billig, elegant und geschmackvoll zu kleiden. Dieses Kleid zum Beispiel kostete nur zweiundzwanzig Rubel, und wie nett war es doch. In der ganzen Stadt vermochte sie allein zu gefallen, und Männer gab es viel. So mußte jeder wohl oder übel auf Lajewskij neidisch sein.

Sie war froh, daß Lajewskij sie in der letzten Zeit kühl, gezwungen höflich und zeitweise sogar unverschämt und grob behandelte. Früher hätte sie auf seine Ausfälle, seine verachtungsvollen, kühlen oder seltsam unverständlichen Blicke mit Tränen geantwortet, mit Vorwürfen oder der Drohung, fortzulaufen oder ihrem Leben durch Verhungern ein Ende zu machen. Jetzt errötete sie nur darauf, sah ihn schuldbewußt an und freute sich, daß er nicht zärtlich war. Hätte er Scheltworte und Drohungen ausgestoßen, so wäre es ihr noch lieber und angenehmer gewesen. Denn sie fühlte sich ihm gegenüber durch und durch schuldig. Vor allem deswegen, weil sie seine Gedanken von einem arbeitsamen Leben nicht teilte, die ihn getrieben hatten, Petersburg zu verlassen und in den Kaukasus zu ziehen. Sie war überzeugt, dies wäre der Grund seiner augenblicklichen Mißstimmung gegen sie.

Während der Reise nach dem Kaukasus glaubte sie, dort am ersten Tage ein bescheidenes Stückchen Land am Strande zu finden, ein gemütliches, schattiges Gärtchen mit Vögeln und Bächen, wo man Blumen und Gemüse ziehen, Enten und Hühner halten, wo man Besuch von seinen Nachbarn empfangen und Bettler erquicken und Traktätchen an sie verteilen könnte. Aber was war der Kaukasus? Kahle Berge, Wälder und weite Täler. Dort mußte man lange wählen, beraten und erwägen, bevor man ein Stück Land kaufte. Nachbarn gab es überhaupt nicht, furchtbar heiß war es, und außerdem war man in steter Furcht vor Räubern. Lajewskij beeilte sich nicht mit dem Landkauf, und sie freute sich darüber. Sie hatten sich gleichsam in Gedanken verabredet, des arbeitsamen Lebens nicht zu erwähnen. Er spricht nicht davon, dachte sie, also ärgert er sich darüber, daß ich nicht davon spreche.

Zweitens war sie ohne sein Wissen in diesen zwei Jahren für verschiedene Kleinigkeiten dreihundert Rubel im Laden von Atschmianow schuldig geblieben. Bald hatte sie etwas Stoff gebraucht, bald etwas Seide, bald einen Sonnenschirm und so hatte sich unmerklich diese Schuld angehäuft.

»Heute noch will ich's ihm sagen,« beschloß sie, aber sofort fiel ihr ein, daß es bei der jetzigen Stimmung Lajewskijs nicht der rechte Moment sei zu beichten.

Drittens hatte sie schon zweimal in Lajewskijs Abwesenheit den Polizeipristaw Kirillin bei sich empfangen. Einmal am Morgen, als Lajewskij im Bade war, und einmal in der Nacht, als er Karten spielte. Als Nadeschda Fjodorowna daran dachte, wurde sie ganz erregt und schaute sich nach der Köchin um, als fürchte sie, die könnte ihre Gedanken lesen. Wie war das gekommen? Die langen, unerträglich heißen, langweiligen Tage, die schönen, quälenden Abende, die schwülen Nächte und dies ganze Leben, wo man vom Morgen bis zum Abend nicht wußte, was man mit seiner freien Zeit anfangen sollte, der hartnäckige Gedanke, daß sie die hübscheste und jüngste Frau in der Stadt wäre und daß ihre Jugend so ungenutzt vorbeigehen mußte, und dann Lajewskij – er war ja ein anständiger, idealistischer Mensch, aber so eintönig, ewig schlürfte er mit seinen Pantoffeln, kaute seine Nägel und langweilte sie mit seinen Launen. Das alles hatte gemacht, daß sie allmählich von Wünschen erfaßt wurde und schließlich wie irrsinnig Tag und Nacht nur das eine dachte. In ihrem eigenen Atem, in ihren Blicken, dem Tonfall ihrer Stimme und ihrem Gang spürte sie nur diesen Wunsch. Das Rauschen des Meeres, das nächtliche Dunkel, die Berge riefen ihr zu: Du sollst lieben. Und als der Pristaw Kirillin anfing, ihr den Hof zu machen, hatte sie nicht die Kraft noch den Wunsch, sich zur Wehr zu setzen, und gab sich ihm hin ... Jetzt riefen ihr die ausländischen Dampfer und die Leute in Weiß seltsamerweise einen großen Saal ins Gedächtnis. Zugleich mit den französischen Worten ertönten in ihren Ohren die Klänge eines Walzers, und ihre Brust erzitterte vor grundloser Freude. Sie bekam Lust zu tanzen und französisch zu sprechen.

Fröhlich erwog sie, daß ihre Untreue nicht so schlimm sei. Ihre Seele hatte keinen Teil daran gehabt. Sie liebte Lajewskij noch immer, sonst wäre sie nicht eifersüchtig auf ihn und würde nicht traurig sein und sich langweilen, wenn er nicht zu Hause war. Kirillin erschien ihr dumm, ungehobelt und uninteressant. Zwischen ihr und ihm war schon wieder alles aus, für immer. Was vergangen, kam nicht wieder. Niemand ging das was an, und wenn man Lajewskij davon erzählte, würde er es nicht glauben.

Am Strande gab es nur ein Badehaus für die Damen, die Herren badeten unter freiem Himmel. Nadeschda Fjodorowna traf im Badehaus eine ältliche Dame, die Beamtenfrau Marja Konstantinowna Bitjugow mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter Katja, die noch zur Schule ging. Beide saßen auf der Bank und zogen sich aus. Marja Konstantinowna war eine gute, sentimentale, ewig entzückte und rücksichtsvolle Dame, sie sprach singend und voll Pathos. Bis zu ihrem zweiunddreißigsten Jahre war sie Gouvernante gewesen, dann hatte sie den Beamten Bitjugow geheiratet, ein kleines kahlköpfiges Männchen, das seine Haare über die Schläfen gekämmt trug und sehr friedlicher Natur war. Bis zum heutigen Tag war sie verliebt in ihn und eifersüchtig. Sie errötete, wenn sie das Wort »Liebe« hörte, und versicherte allen, daß sie glücklich wäre.

»Meine Teuere,« sagte sie entzückt, als sie Nadeschda Fjodorowna erblickte, und nahm den Ausdruck an, den ihre sämtlichen Bekannten ihr Lindenblütengesicht nannten, »meine Liebe, wie nett, daß Sie kommen. Wir werden zusammen baden. Das ist entzückend!«

Olga streifte schnell Kleid und Hemd ab und begann ihre Herrin zu entkleiden.

»Heute ist es nicht so heiß wie gestern. Nicht wahr?« sagte Nadeschda Fjodorowna und erschauerte unter den rauhen Berührungen der nackten Köchin, »gestern wäre ich fast gestorben vor Hitze.«

»Ach ja, meine Liebe, ich selbst wäre bald erstickt. Werden Sie es glauben? Ich habe gestern dreimal gebadet. Stellen Sie sich das vor, dreimal. Nikodim Alexandrowitsch hat sich wirklich geärgert. – Na, na, Mascha, hat er gesagt, was soll das denn sein?«

›Kann man denn wirklich so häßlich aussehen?‹; dachte Nadeschda Fjodorowna und sah Olga und die alte Dame an, dann blickte sie auf Katja und dachte: ›Das Mädel ist nicht übel gewachsen.‹;

»Ihr Herr Gemahl ist reizend,« sagte sie dann, »ich bin einfach verliebt in ihn.«

»Hahaha,« lachte Marja Konstantinowna gezwungen, »das ist entzückend!«

Als sie entkleidet war, fühlte Nadeschda Fjodorowna das Verlangen zu fliegen. Und es war ihr, als brauchte sie nur die Arme zu heben, um emporgetragen zu werden.

Sie bemerkte, daß Olga ihren weißen Körper verächtlich musterte. Olga war eine junge Soldatenfrau und lebte mit ihrem gesetzmäßigen Mann, darum hielt sie sich für höherstehend und besser als ihre Herrin. Nadeschda Fjodorowna empfand auch, daß Marja Konstantinowna und Katja sie nicht achteten. Das war unangenehm, und um in ihren Augen zu steigen, sagte sie:

»Bei uns in Petersburg ist jetzt das Villenleben in vollem Flor. Ich und mein Mann, wir haben sehr viel Bekannte. Ich würde gern mal hin, sie wiedersehen.«

»Nicht wahr, Ihr Herr Gemahl ist Ingenieur?« fragte Marja Konstantinowna schüchtern.

»Ich meine Lajewskij. Er hat sehr viel Bekannte. Leider ist seine Mutter eine stolze Aristokratin, eine beschränkte ...«

Sie sprach nicht aus und sprang ins Wasser. Marja Konstantinowna und Katja folgten ihr.

»In unseren Kreisen gibt's so viele Vorurteile,« fuhr Nadeschda Fjodorowna fort, »das Leben da ist nicht so leicht, als man glaubt.«

Marja Konstantinowna war in aristokratischen Häusern Gouvernante gewesen und kannte die Gebräuche der vornehmen Welt.

»O ja,« sagte sie, »denken Sie sich, meine Liebe, bei Garatynskijs wurde zum Frühstück und zu Mittag Toilette verlangt. So bezog ich, wie eine Schauspielerin, außer meiner Gage noch ein Garderobengeld.«

Sie stellte sich zwischen Nadeschda Fjodorowna und Katja, als wollte sie ihre Tochter von dem Wasser fernhalten, das Nadeschda Fjodorowna umspülte. Durch die offene Tür, die ins Meer hinausführte, sah man, wie jemand hundert Schritt vom Badehaus umherschwamm.

»Mama, das ist unser Kostja,« sagte Katja.

»Ach Gott, ach Gott,« jammerte Marja Konstantinowna erschrocken. »Ach Gott, Kostja«, schrie sie, »kehr um! Kostja, kehr um!«

Der vierzehnjährige Kostja kokettierte vor Mutter und Schwester mit seinem Mut, tauchte unter und schwamm weiter, aber bald wurde er müde und schwamm schnell zurück. Seinem ernsthaften, angestrengten Gesicht sah man an, daß er seinen Kräften nicht traute.

»Es ist ein Unglück mit dem Jungen, meine Liebe,« sagte Marja Konstantinowna, als sie sich beruhigt hatte, »eins, zwei, drei, bricht sich so einer den Hals. Ach, meine Liebe, wie schön und doch wie schwer ist es, eine Mutter zu sein. Man ist immer in Angst.«

Nadeschda Fjodorowna setzte ihren Strohhut auf und schwamm ins Meer hinaus. Sie schwamm zehn Meter weit, dann legte sie sich auf den Rücken. Sie sah das Meer bis zum Horizont, die Dampfer, die Leute am Ufer, die Stadt, und das alles im Verein mit der Hitze und den klaren Wellen erregte sie und flüsterte ihr zu: Du sollst leben, leben. An ihr vorbei schoß schnell, energisch durch Wellen und Luft schneidend, ein kleines Segelboot. Der Mann am Steuer schaute sie an, und es war ihr angenehm, daß sie angeschaut wurde –

Nach dem Bade zogen die Damen sich an und gingen zusammen heim.

»Ich habe jeden zweiten Tag Fieber, aber ich nehme dadurch nicht ab,« sagte Nadeschda Fjodorowna, leckte ihre Lippen, die vom Bade salzig waren, und erwiderte lächelnd die Grüße der Bekannten, »ich war immer ziemlich voll, aber ich glaube, ich bin jetzt noch voller geworden.«

»Da kommt es ganz auf die Anlage an. Wenn einer keine Anlage hat, stark zu werden, wie zum Beispiel ich, so hilft keine Mastkur. Aber, meine Liebe, Sie haben Ihren Hut ja ganz aufgeweicht.«

»Macht nichts, er trocknet wieder.«

Nadeschda Fjodorowna sah wieder die Männer in Weiß, die auf dem Kai auf- und abgingen und französisch sprachen; in ihrer Brust regte sich wieder – sie wußte selbst nicht, warum – ein freudiges Gefühl und sie erinnerte sich eines großen Saales, in dem sie einst getanzt, oder von dem sie vielleicht nur geträumt hatte. Und etwas flüsterte ihr aus der Tiefe ihrer Seele zu, daß sie ein gemeines, kleinliches, verworfenes Frauenzimmer sei ...

Marja Konstantinowna blieb an ihrer Tür stehen und lud sie ein, auf einen Augenblick einzutreten.

»Meine Teuere, kommen Sie,« sagte sie mit flehender Stimme und sah Nadeschda Fjodorowna ängstlich an und hoffte, sie würde nein sagen und nicht kommen.

»Mit Vergnügen,« sagte Nadeschda Fjodorowna, »Sie wissen, wie gern ich bei Ihnen bin.«

Und sie trat ein. Marja Konstantinowna nötigte sie zum Sitzen und setzte ihr Kaffee und Buttersemmeln vor. Nachher zeigte sie ihr die Photographien ihrer früheren Schülerinnen, der Garatynskijs, die jetzt schon verheiratet waren. Auch Katjas und Kostjas Schulzeugnisse zeigte sie vor. Sie waren vortrefflich, aber sie mühte sich, sie in noch besseres Licht zu setzen durch Klagen darüber, wie schwer es jetzt die Kinder in den Schulen hätten. Sie war überaus liebenswürdig gegen ihren Gast, aber gleichzeitig litt sie unter dem Gedanken, daß Nadeschda Fjodorownas Anwesenheit einen schlechten Einfluß auf Katjas und Kostjas Moral ausüben könnte. Froh war sie, daß ihr Nikodim Alexandrowitsch nicht zu Hause war. Da nach ihrer Ansicht alle Männer »diese Sorte« liebten, so hätte Nadeschda Fjodorowna auch auf Nikodim Alexandrowitsch einen schlechten Einfluß ausüben können.

Während des ganzen Gespräches dachte Marja Konstantinowna daran, daß heute abend ein Picknick stattfinden sollte und Herr von Koren flehentlich gebeten hatte, den Schmeißfliegen, das heißt Lajewskij und Nadeschda Fjodorowna, nichts davon zu sagen. Aber unverhofft verplapperte sie sich, wurde feuerrot und sagte verwirrt:

»Ich hoffe, Sie kommen auch ...«


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