Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVI

Die Humanitären Wissenschaften, von denen Sie sprechen, werden erst dann den menschlichen Gedanken befriedigen, wenn sie in ihrer Entwicklung auf die exakten Wissenschaften stoßen und mit diesen zusammengehen. Ob sie sich unter dem Mikroskop, oder in den Dialogen eines neuen Hamlets begegnen, oder in einer neuen Religion, – weiß ich nicht, aber ich glaube, daß die Erde sich eher mit einer Eiskruste überzieht, als daß es dazu kommt. Die dauerhafteste und lebensfähigste von allen humanitären Disziplinen ist natürlich die Lehre Christi, aber schauen Sie nur, wie verschieden sie aufgefaßt wird! Die einen lehren, daß wir alle unsern Nächsten lieben sollen, nehmen aber dabei die Soldaten, Wahnsinnigen und Verbrecher aus. Es ist gestattet, die ersteren im Kriege zu töten, die Verbrecher zu isolieren oder hinzurichten, und den Wahnsinnigen verbietet man die Ehe. Die anderen sagen, daß wir alle Nächsten ohne Ausnahme lieben müssen, ohne Plus und Minus zu unterscheiden. Wenn also zu ihnen ein Schwindsüchtiger, oder Mörder, oder Epileptiker kommt und um ihre Tochter freit, so müssen Sie sie ihm nach dieser Lehre hergeben: wenn Kretins gegen physisch und geistig gesunde Menschen Krieg führen, so soll man ihnen den Nacken bieten. Diese Predigt der Liebe um der Liebe willen, wie der Kunst um der Kunst willen, würde, wenn sie die Kraft hätte, die Menschheit zum Aussterben bringen, und so würde das allergrößte Verbrechen geschehen, das je auf Erden verübt worden ist. Es gibt eben sehr viele Auslegungen, und da es ihrer viele gibt, so kann sich der ernsthafte Gedanke mit keinem von ihnen begnügen und beeilt sich, zu der Menge schon vorhandenen, auch seine eigene Auslegung hinzuzufügen. Darum dürfen Sie niemals die Frage auf den philosophischen, wie Sie ihn nennen, oder sogenannten christlichen Boden stellen; auf diese Weise entfernen Sie sich nur von der Lösung der Frage.«

Der Diakon hörte den Zoologen aufmerksam an, überlegte eine Weile und fragte:

»Haben das sittliche Gesetz, das jedem der Menschen eigen ist, die Philosophen erfunden, oder ist es zugleich mit dem Körper von Gott geschaffen worden?«

»Das weiß ich nicht. Aber dieses Gesetz ist dermaßen allgemein für alle Völker und Zeiten, daß man, wie ich glaube, annehmen muß, es sei organisch mit dem Menschen verbunden. Es ist nicht erfunden, sondern es ist und wird immer sein. Ich will nicht sagen, daß man es einst unter dem Mikroskop sehen wird, aber seine organischen Zusammenhänge sind schon ganz offensichtlich bewiesen: schwere Gehirnkrankheiten und alle sogenannten Geisterkrankheiten äußern sich, soweit mir bekannt ist, zuallererst in einer Perversion des sittlichen Gesetzes.«

»Schön. Also ebenso wie der Magen nach Essen verlangt, so will das sittliche Gesetz, das wir unsere Nächsten lieben? Nicht wahr? Aber unsere körperliche Natur widerstrebt aus Eigenliebe der Stimme des Gewissens und der Vernunft, und daraus entstehen viele Fragen zum Kopfzerbrechen. An wen sollen wir uns nun mit diesen Fragen wenden, wenn Sie nicht wollen, daß man sie auf den philosophischen Boden stellt?«

»Wenden Sie sich an die wenigen exakten Wissenschaften, die wir haben. Vertrauen Sie sich der Augenscheinlichkeit und der Logik der Tatsachen an. Es ist allerdings recht dürftig, dafür aber nicht so schwankend und verschwommen wie die Philosophie. Nehmen wir an, das sittliche Gesetz verlangt, daß wir die Menschen lieben. Was heißt das? Die Liebe muß in der Beseitigung dessen bestehen, was den Menschen so oder anders schadet oder sie in Gegenwart oder Zukunft mit einer Gefahr bedroht. Unser Wissen und die Augenscheinlichkeit lehren, daß der Menschheit eine Gefahr seitens der sittlich und körperlich anormalen Menschen droht. Wenn dem so ist, so müssen Sie gegen die Anormalen kämpfen. Wenn Sie nicht die Kraft haben, sie zur Norm emporzuheben, so müssen Sie Kraft und Fähigkeit haben, sie unschädlich zu machen, d. h. zu vernichten.«

»Die Liebe besteht also darin, daß der Starke den Schwachen besiegt?«

»Gewiß!«

»Die Starken haben aber unsern Herrn und Heiland Jesum Christum gekreuzigt!« sagte der Diakon mit großem Feuer.

»Das ist es ja eben: gekreuzigt haben ihn nicht die Starken, sondern die Schwachen. Die Menschenkultur hat den Kampf ums Dasein und die natürliche Auslese geschwächt und will sie auf Null reduzieren; daher die schnelle Vermehrung der Schwachen und ihre Vorherrschaft über die Starken. Stellen Sie sich vor, daß es Ihnen gelungen ist, den Bienen die humanen Ideen in ihrer rohen, rudimentären Form beizubringen. Was geschieht? Die Drohnen, die man töten muß, bleiben am Leben, fressen den Honig auf, verderben und bedrängen die Arbeitsbienen. Und das Resultat ist die Vorherrschaft der Schwachen über die Starken und die Entartung der letzteren. Dasselbe geschieht jetzt mit der Menschheit: die Schwachen unterdrücken die Starken. Bei den Wilden, die von der Kultur noch unberührt sind, schreitet der Stärkste, Weiseste und Sittlichste als Führer und Herrscher an der Spitze. Und wir, die wir eine Kultur haben, haben Christum gekreuzigt und kreuzigen ihn alle Tage. Also stimmt bei uns etwas nicht ... Dieses ›etwas‹; müssen wir also in Ordnung bringen, sonst hören alle die Mißverständnisse niemals auf.«

»Was für ein Kriterium haben Sie aber zur Unterscheidung der Starken und der Schwachen?«

»Das Wissen und die Augenscheinlichkeit. Man erkennt die Tuberkulösen und Skrophulösen an ihren Krankheiten, die Unsittlichen und Wahnsinnigen aber an ihren Handlungen.«

»Es sind aber dabei Fehler möglich!«

»Gewiß, man darf aber nicht Angst haben, sich die Füße naß zu machen, wenn die Sintflut droht.«

»Das ist ja Philosophie!« bemerkte lachend der Diakon.

»Durchaus nicht. Sie sind durch Ihre Seminarphilosophie dermaßen verdorben, daß Sie in allen Dingen einen Nebel sehen wollen. Die abstrakten Wissenschaften, mit denen Ihr junger Kopf angefüllt ist, heißen ja darum abstrakt, weil sie ihren Geist von der Augenscheinlichkeit abstrahieren. Schauen Sie doch dem Teufel gerade ins Gesicht, und wenn er ein Teufel ist, so sagen Sie offen, daß er ein Teufel ist, und gehen Sie nicht zu Kant und Hegel, um Aufklärungen zu verlangen.«

Der Zoolog schwieg eine Weile und fuhr dann fort:

»Zweimal zwei ist vier, ein Stein ist ein Stein. Morgen hab' ich ein Duell. Wir beide werden natürlich sagen, daß das dumm und abgeschmackt ist, daß das Duell sich überlebt hat, daß das aristokratische Duell sich in seinem Wesen durchaus nicht von der besoffenen Prügelei in der Kneipe unterscheidet. Aber dennoch machen wir nicht Halt, wir fahren hinaus und duellieren uns. Es gibt also eine Kraft, die stärker ist als unsere Ueberlegungen. Wir schreien: der Krieg ist Räuberei, Barbarei, Schrecken, Brudermord, wir fallen in Ohnmacht, wenn wir Blut sehen. Aber die Franzosen oder die Deutschen sollen uns nur mal beleidigen, sofort fühlen wir einen Zuwachs an Mut, schreien aufs aufrichtigste Hurra und stürzen uns auf den Feind, Sie werden den Segen Gottes auf unsere Waffen herabrufen, und unser Sieg wird allgemeinen und dabei aufrichtigen Jubel hervorrufen. Also abermals eine Kraft, die höher ist als wir und unsere Philosophie. Wir können sie ebensowenig aufhalten, wie jene Wolke, die dort über dem Meer aufsteigt. Heucheln Sie nicht, machen Sie ihr keine Faust im Sack und sagen Sie nicht: ›Ach wie dumm, immer dasselbe, ihre Gestalt gefallt mir nicht!‹; – Sehen Sie ihr fest in die Augen, erkennen Sie ihre vernünftige Gesetzmäßigkeit an. Und wenn sie z. B. ein hinfälliges, skrophulöses, entartetes Geschlecht vernichten will, so stören Sie sie nicht mit Ihren Pillen und Ihren mißverstandenen Zitaten aus dem Evangelium. Bei Ljeskow kommt ein gewissenhafter Daniel vor, der vor der Stadt einen Aussätzigen findet und ihn speist und unter sein Dach nimmt im Namen der Liebe und des Heilands. Hätte dieser Daniel die Menschen wirklich geliebt, er hätte den Aussätzigen weiter von der Stadt weggeschleppt und ihn in den Abgrund geworfen und wäre hingegangen und hätte den Gesunden gedient. Christus hat uns, hoff' ich, eine vernünftige, überlegte und nützliche Liebe gelehrt.«

»Was Sie für einer sind!« lachte der Diakon, »Sie glauben ja doch nicht an Christus, warum führen Sie ihn soviel im Munde?«

»Nein, ich glaube an ihn. Aber natürlich nicht auf Ihre Art, sondern auf meine. Ach, Diakon, Diakon!« lachte der Zoolog, faßte den Diakon um die Taille und sagte lustig: »Nun, wie ist's? Fahren Sie morgen mit zum Duell?«

»Mein Amt erlaubt es nicht. Sonst käm' ich mit.«

»Was heißt das: Ihr Amt?«

»Ich bin geweiht. Gottes Segen ruht auf mir.«

»Ach, Diakon, Diakon,« wiederholte Herr von Koren lachend, »ich plaudere zu gern mit Ihnen.«

»Sie sagen, Sie wären gläubig,« sagte der Diakon, »was ist das für ein Glaube? Sehen Sie, ich hab' einen Onkel, einen alten Popen, der hat einen starken Glauben. Wenn er eine Prozession ins Feld führt, um Regen zu bitten, dann nimmt er Regenschirm und Ledermantel mit, um auf dem Heimweg nicht naß zu werden. Das nenn' ich Glauben! Wenn er von Christus spricht, geht ein Leuchten von ihm, und die Bauern und Weiber weinen laut. Er würde auch diese Wolke zum Stehen bringen und all die Kräfte, von denen Sie reden, in die Flucht schlagen. Jawohl, der Glaube versetzt Berge.«

Der Diakon lachte und klopfte den Zoologen auf die Schulter.

»Ja, ja,« fuhr er fort, »Sie studieren alles, erforschen die Tiefen des Meeres, teilen die Menschen in Starke und Schwache, schreiben Bücher und fordern Leute zum Duell, aber es bleibt alles beim Alten. Aber sehen Sie, es braucht nur ein schwächlicher Greis voll des heiligen Geistes ein einziges Wörtlein zu flüstern oder ein neuer Mohammed mit dem Schwert aus Arabien herangesprengt zu kommen, und alles fliegt im Wirbel in die Luft, und kein Stein in Europa bleibt auf dem anderen.«

»Na, das weiß man noch nicht, Diakon!«

»Der Glaube ohne Taten ist tot, und Taten ohne Glauben sind noch schlimmer: nichts als Zeitverlust.«

Am Strande erschien der Doktor. Er erblickte den Diakon und den Zoologen, ging auf sie zu und sagte atemlos:

»Alles in Ordnung, glaub' ich. Deine Sekundanten sind Goworowskij und Boiko. Zusammenkunft morgen um fünf Uhr. – Der Himmel hat sich bezogen,« er blickte nach oben, »es ist ja ganz dunkel. Gleich regnet's.«

»Du fährst doch hoffentlich mit?« fragte Herr von Koren.

»Gott soll mich bewahren, ich habe schon so genug Plackerei davon gehabt. Statt meiner fährt Ustimowitsch. Ich hab' schon mit ihm gesprochen.«

Weit hinten über dem Meer zuckte ein Blitz, und das dumpfe Rollen des Donners dröhnte.

»Wie schwül ist's vor dem Gewitter,« sagte Herr von Koren, »ich wette übrigens, du warst bei Lajewskij und hast dich an seiner Brust ausgeweint.«

»Warum sollte ich zu ihm gehen?« sagte der Doktor und wurde verlegen, »das fehlte mir gerade.«

Vor Sonnenuntergang war er mehrere Male durch den Boulevard und die Straße geschlendert in der Hoffnung, Lajewskij zu treffen. Er schämte sich seines Aufbrausens und des plötzlichen Ausbruches von Gutmütigkeit, der diesem Aufbrausen gefolgt war. Er wollte sich bei Lajewskij in scherzhaftem Ton entschuldigen, ihm ein wenig den Text lesen, ihn beruhigen und ihm sagen, das Duell wäre ein Ueberrest mittelalterlicher Barbarei, in diesem Fall aber hätte die Vorsehung selbst auf das Duell als auf ein Mittel der Versöhnung hingewiesen. Morgen würden sie beide, zwei so reizende, hochbegabte Männer, nachdem die Schüsse gewechselt, den gegenseitigen Edelmut schätzen lernen und Freunde werden. Aber er hatte Lajeweskij nicht getroffen.

»Warum sollte ich zu ihm gehen?« wiederholte Samoilenko. »Ich habe ihn doch nicht beleidigt, sondern er mich. Sag' mir doch, bitte, warum er mich so anfiel. Ich hab' ihm doch nichts getan. Ich komm' ins Wohnzimmer und plötzlich, mir nichts dir nichts, krieg' ich einen Spion an den Kopf. Haft du nicht gesehen! Sag' mal, womit hat die Geschichte angefangen? Was hattest du zu ihm gesagt?«

»Ich hatte ihm gesagt, seine Lage wäre hoffnungslos. Und ich hatte recht. Nur ehrliche Menschen und Spitzbuben finden einen Ausweg aus jeder Lage. Wer beides zugleich sein will, für den gibt's keinen Ausweg. Uebrigens, meine Herren, es ist elf Uhr. Und morgen heißt's früh aufstehen.«

Plötzlich erhob sich ein Wind, er wirbelte den Sand am Meer empor, heulte los und überschrie das Rauschen der Brandung.

»Sturm,« sagte der Diakon, »man muß nach Hause, sonst kriegt man die ganzen Augen voll Sand.«

Als sie gingen, seufzte Samoilenko und sagte, seine Mütze festhaltend:

»Ich glaube, heute Nacht schlaf' ich nicht.«

»Reg' dich nur nicht auf,« lachte der Zoolog, »du kannst ganz ruhig sein, es kommt nichts heraus bei dem Duell. Lajewskij wird großmütig in die Luft knallen, er kann ja nicht anders. Und ich werde wahrscheinlich überhaupt nicht schießen. Lajewskijs wegen vor Gericht kommen, Zeit verlieren – das ist die Sache nicht wert. Apropos, was für eine Strafe steht auf Zweikampf?«

»Arrest, und wenn der Gegner fällt, Festungshaft bis zu drei Jahren.«

»In der Peter-Paulsfestung?«

»Nein, ich glaube in einer richtigen Militärfestung.«

»Eigentlich sollte man diesem Burschen doch einen Denkzettel geben.«

Hinten über dem Meere leuchtete ein Blitz auf und erhellte auf einen Augenblick die Dächer und die Berge. Auf dem Boulevard trennten sich die Freunde. Als der Doktor im Dunkel verschwunden war und seine Schritte schon verhallten, schrie Herr von Koren ihm nach:

»Wenn uns das Wetter morgen nur nicht stört.«

»Was sagst du? Gott geb es!«

»Gute Nacht.«

»Was? Nacht? Was sagst du?«

Im Tosen des Windes, im Rauschen des Meeres und Prasseln des Donners war es schwer, etwas zu verstehen.

»Nichts,« rief der Zoolog und ging eiligst nach Hause.


 << zurück weiter >>