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Kämpfe der Seele.

Der Abend dämmerte.

Seitab von den erleuchteten und belebten Straßen wandelte, in tiefe Gedanken versunken, der junge Isispriester Apäcides. Eine nagende Unruhe quälte sein Herz, denn er vermochte darüber nicht schlüssig zu werden, ob er den strengen Eid des Priestertums auch ferner halten sollte, nachdem er hinter das Gaukelspiel der Wunder und Orakelsprüche der Isis gekommen. Bei jedem Geräusch schrak er zusammen; überall fürchtete er die finstere, drohende Gestalt des Ägypters zu sehen, welchem auszuweichen er bestrebt war. Dieser Fall trat auch jetzt ein, als ein Schatten an ihm vorüberglitt.

Apäcides sprang zur Seite und erblickte einen Mann, der ihn fest ins Auge faßte und sich ihm sogleich näherte.

»Apäcides,« sprach der Fremde, mit der Hand das Zeichen des Kreuzes schlagend.

»Ah, Nazarener,« erwiderte der Priester, und sein blasses Gesicht erbleichte noch mehr. »Was willst du?«

»Bin ich dir unwillkommen?« lautete die Gegenfrage.

»Gewiß nicht, Olinth,« versicherte Apäcides, »aber ich bin traurig und abgemattet und für diesen Abend nicht imstande, über diejenigen Gegenstände zu sprechen, welche dir am angenehmsten sind.«

»O, du Kleinmütiger,« entgegnete Olinth mit bitterem Eifer; »du bist traurig und abgemattet und willst dich von eben der Quelle abwenden, die erfrischt und heilt.«

»O Erde,« rief der junge Priester leidenschaftlich. »Von welchem Ort aus sollen meine Augen in den wahren Olymp dringen, wo deine Götter wirklich wohnen? Soll ich diesem Nazarener glauben, der die Altäre unserer Götter umstürzen will, – oder soll ich den Lehren des Arbaces folgen?«

»Mich wundert's nicht, mein Freund,« versetzte Olinth ruhig, »daß du im Zweifel verloren bist; aber wache und bete und sei gewiß, die Finsternis wird schwinden, der Sturm einschlafen, und Gott selbst wird deine Seele befreien. Unsere Religion ist eifersüchtig in ihren Forderungen, aber verschwenderisch in ihren Gaben! Sie macht dir eine unruhige Stunde und belohnt dich mit Unsterblichkeit.«

»Dergleichen Zusagen,« entgegnete Apäcides finster, »sind Vorspiegelungen, durch welche der Mensch stets getäuscht wird. O, herrlich waren die Verheißungen, welche mich zum Altar der Isis führten.«

»Aber,« erwiderte der Nazarener, »frage deine Vernunft, kann eine Religion richtig sein, die auf Täuschung gegründet ist, die im geeigneten Moment unsichtbare Chöre erschallen läßt, in ihren ausgehölten Götterbildern willfährige Kreaturen birgt, die auf ein gegebenes Zeichen ihren Hokuspokus vollführen?« –

»Woher weißt du,« unterbrach Apäcides erschrocken.

»Das laß mein Geheimnis bleiben,« erwiderte der Christ, »genug, ich kenne alle Schliche der Isispriester, ihre versteckten Treppen und Gänge, die dazu dienen, geheimnisvolle Orakelsprüche der lauschenden Menge zu verkünden. Vermagst du solche betrügerischen Künste Religion zu nennen? Oder kann die Religion deiner Väter deine Seele ausfüllen? Was sind denn eure Götter nach eurem eigenen Geständnis? Die schwärzesten Verbrecher. Jupiter selbst ist ein Vatermörder. Und dennoch sollt ihr ihn und die übrigen verehren? Ist das nicht ein Possenspiel, das mit dem Heiligsten in der Menschennatur getrieben wird? – Wende dich jetzt zu dem einzigen und wahren Gott, zu dessen Altar ich dich leiten möchte. Vermagst du ihn nicht zu begreifen, so betrachte ihn in seinem Sohn, der sich in Sterblichkeit hüllte, wie wir selbst. In ihm sind die strengsten Grundsätze mit dem liebevollsten Herzen vereinigt. Komm, folge mir. Einige von uns sind jetzt versammelt, das Wort des Herrn auszulegen. Komm, laß mich dich zu ihnen führen. Du bist traurig, abgemattet. Höre also auf die Worte Gottes. ›Kommt zu mir,‹ spricht er, ›alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.‹«

»Ich kann jetzt nicht,« erwiderte Apäcides, »ein andermal!«

»Jetzt,« rief Olinth dringend und ergriff ihn am Arm. Aber Apäcides, noch nicht bereit zur Entsagung eines Glaubens, eines Lebens, dem er so viel geopfert, und durch jenen dem Ägypter geleisteten Schwur noch allzusehr in Bann gehalten, riß sich gewaltsam los.

Atemlos und erschöpft langte der junge Isispriester endlich in einem entfernten, abgelegenen Teil der Stadt an; vor ihm stand die einsame Wohnung des Ägypters. Er hatte die Nähe dieses Mannes bisher geflohen, aber eine geheimnisvolle, magische Gewalt zog ihn jetzt zu ihm, seinem Vormund und Herrn. Indem er still hielt, um sich zu erholen, tauchte der Mond aus einer Wolke und leuchtete hell auf die Wände des geheimnisvollen Gebäudes. Kein anderes Haus befand sich in der Nähe, dunkle Rebenblätter umrankten weithin die Vorderseite, und rückwärts erhoben sich die breiten Stämme mehrerer, in schwermütigem Mondlicht schlafender Waldbäume; jenseits derselben zog der dämmernde Umriß der fernen Berge hin, unter ihnen der ruhige Kamm des Vesuvs.

Apäcides trat durch das Rebengewölbe und gelangte zu dem breiten, geräumigen Portikus. Vor demselben, zu beiden Seiten der Treppe, lag das Bild der ägyptischen Sphinx. Weiter oben, aus halber Höhe der Treppe, dunkelte das grüne, markige Laub der Aloe, und über einen Teil der marmornen Stufen warf der Schatten einer morgenländischen Palme sein langes, regungsloses Gezweig.

In der Stille des Ortes, in dem seltsamen Anblick der Sphinx lag etwas, was das Blut des Priesters mit namenlosem, gespensterhaftem Schauder durchrieselte; er sehnte sich, auch nur einen Widerhall seiner geräuschlosen Schritte zu vernehmen, als er zu der Schwelle emporschritt.

Er klopfte an die Tür. Ohne einen Laut öffnete sich das Tor, und ein großer äthiopischer Sklave winkte ihm ohne Frage oder Gruß zu, weiter zu gehen.

Die große Vorhalle war durch zahlreiche Kandelaber von künstlich gearbeiteter Bronze erleuchtet, und längs den Wänden liefen mächtige Hieroglyphen in dunkeln, ernsten Farben hin. Am Ende der Halle trat ein anderer Sklave aus Apäcides zu.

»Ich suche Arbaces,« sagte der Priester in zitterndem Ton.

Der Sklave verneigte sich schweigend und führte Apäcides in einem Flügel jenseits der Halle eine enge Treppe hinauf; nachdem sie hier mehrere Zimmer, in welchen die ernste, gedankenvolle Schönheit der Sphinx abermals den Hauptgegenstand für das Auge des Jünglings bildete, durchschritten hatten, stand dieser in einem dämmernden, halberleuchteten Gemach dem Ägypter gegenüber.

Arbaces saß vor einem Tischchen, auf welchem mehrere offene Papyrusrollen lagen, alle mit denselben Charakteren beschrieben, wie diejenigen am Eingang des Hauses. In einiger Entfernung stand ein kleiner Dreifuß, von welchem der Weihrauch in langsamen Wolken ausstieg, neben demselben eine große Kugel, mit den Himmelszeichen bemalt, und auf einem andern Tisch lagen verschiedene Instrumente von seltsamer, eigentümlicher Form, deren Gebrauch Apäcides nicht kannte.

»Setze dich, mein Sohn,« hob der Ägypter an, ohne aufzustehen.

Der junge Mann gehorchte.

»Es freut mich,« fuhr Arbaces fort, »daß du mich endlich aufsuchst, nachdem du mich so lange geflohen. Deine Abneigung tat mir weh, denn ich liebe dich wie einen Sohn und glaube, dir meine Zuneigung schon in der Eigenschaft als Vormund bewiesen zu haben.«

»Es wäre schlecht von mir, dies leugnen zu wollen.« erwiderte Apäcides zaghaft.

»Warum entzogst du dich also meiner Gesellschaft?« fragte der Ägypter aufsehend. Der durchdringende Blick seines Auges, sowie die geheimnisvolle Art seines ganzen Wesens, das den Jüngling an die Sphinx vor dem Palaste mahnte, wirkten so erschütternd auf Apäcides, daß er nur eine verworrene Antwort zu geben vermochte. Dennoch hielt er mit der Wahrheit seiner Empfindungen nicht zurück, und, nachdem er sich wieder gefaßt, gab er dem aufhorchenden Ägypter seinen ganzen Abscheu vor dem Lug und Trug zu erkennen, dessen sich die Priester der Isis schuldig machten.

Arbaces zuckte mit keiner Miene – er lächelte nur. Aber es war das versteinerte Lächeln einer Sphinx, und Apäcides begann es vor ihm zu grauen.

»Du schiltst Betrug,« begann der Ägypter endlich nach langer Pause, »was nur fromme Täuschung ist. Jeder Mensch muß etwas glauben, wenn das schwanke Schiff seiner Hoffnung nicht scheitern soll. Die weise, strenge Ordnung des Weltalls offenbart uns eine ewige Kraft, für welche die Völker verschiedene Namen gefunden. Ihre Offenbarungen finden sich in dem großen Buche der Natur; wir stehen staunend vor der geheimnisvollen Schrift, die für uns aber doch nur unenträtselte Hieroglyphen enthält. Ich frage dich, was bliebe dem armen Volke, als die Verzweiflung, wenn weise Männer sich nicht herbeiließen, ihnen diese Hieroglyphen zu entziffern?«

»Die Offenbarung Gottes ist keine geheimnisvolle Schrift,« widersprach Apäcides, »denn der gekreuzigte Christus hat der Menschheit den Schlüssel dazu überbracht.«

»O,« rief der Ägypter mit einer verächtlichen Handbewegung, »hat der Lufthauch des Nazareners deine Seele gestreift? Der neue christliche Glaube ist nur ein Plagiat aus einer der vielen Allegorien, welche unsere alten Priester erfanden. Es ist die geheimnisvolle Geschichte des Osiris, wie er den Tod erleidet, wie er im Grabe liegt, und wie er, eine heilige Sühne vollziehend, von den Toten wieder aufersteht.«

Dieses Argument genügte, die nach Wahrheit dürstende Seele des Apäcides von neuem ins Schwanken zu bringen, und an dem Felsenriff von des Ägypters Weisheit strandete das Schiff seines Glaubens. Die reinen strengen Lehren des Christentums, zu welchen ihn Olinth zu bekehren gesucht, zerstoben wie Spreu vor dem spöttischen Ton, mit dem Arbaces die neue Lehre in den Staub zog. Der sophistischen Gewandtheit des Meisters war der Schüler noch nicht gewachsen, und so gab er sich denn schließlich dem Glauben hin, den Arbaces ihm offenbarte.

In dem Sieg, den der Ägypter über Apäcides errungen, begrüßte er ein günstiges Vorzeichen bei dessen Schwester.

Er besuchte Ione jetzt täglich, und seine hingestreuten Bemerkungen über Glaukus verfehlten nicht, die Mißstimmung des jungen Mädchens gegen den Griechen zu erhöhen.

Die stolze Ione verbarg sorgfältig die Qual, welche ihr Herz empfand, denn auch sie befand sich, ohne es zu wissen, in dem magischen Bann des Ägypters. Kaum sah sie ihn wie ein irdisches Wesen an, vielmehr erschien er ihr als ein dunkles, heiliges Orakel.

Bei seinem nächsten Besuch kam sie auf ihren Bruder zu sprechen, indem sie äußerte:

»Hast du Apäcides gesehen? Ich hoffte vergebens auf seinen Besuch, den ich um so mehr herbeisehnte, als mich das Aussehen meines Bruders bei seiner letzten Anwesenheit erschreckte. Ich fürchte, er war zu vorschnell in der strengen Wahl, die er getroffen, und bereut einen unwiderruflichen Schritt.«

»Sei guten Mutes, Ione,« erwiderte der Ägypter. »Allerdings war er einige Zeit hindurch trübe, niedergeschlagenen Geistes; Zweifel befielen ihn, wie sie in einem Menschen sehr natürlich sind, dessen glühendes Temperament beständig ebbt und flutet. Aber ich habe sein Gemüt beruhigt, habe seine Zweifel entfernt, habe ihn von der Schwelle der Weisheit in den Tempel eingeführt, und von der Majestät der Göttin ward seine Seele gestillt und gesänftigt. Sei unbesorgt, er wird sich fortan keiner Reue mehr hingeben; wer sich dem Arbaces vertraut, bereut nie länger als einen Augenblick.«

»Deine Mitteilung erfreut mich,« erwiderte Ione, »denn in der Zufriedenheit meines Bruders finde ich mein Glück. Ein anderes besitze ich ja nicht,« fügte sie seufzend hinzu.

Arbaces verstand den Sinn der letzten Worte nur zu wohl; er wußte, daß die Erinnerung an den vielgeschmähten Glaukus noch immer nicht aus Iones Herzen gewichen sei. Dieser unter der Asche glimmende Funke mußte aber erstickt werden. So wollte es der Plan und die geheime Absicht des Ägypters.

Als er sich zum Gehen anschickte, warf Ione die Frage auf, ob sie ihren Bruder nicht bald wiedersehen könne.

»Zu jeder Zeit,« antwortete Arbaces, »aber nicht hier in deinem Hause.«

»Warum nicht?«

»Apäcides will vorerst der Welt mit ihrem Verkehr fern bleiben, um in der Einsamkeit jene Weisheit zu erringen, durch welche einzig und allein der Mensch wahrhaft glücklich werden kann. Das einzige Wesen, nach welchem sich der junge Priester sehnt, ist seine Schwester. Willst du ihn beglücken, so lenke deine Schritte nach meinem abgeschiedenen Hause, in welchem er gegenwärtig weilt. Widme ihm und deinem väterlichen Freunde einen von diesen hellen Sommerabenden, und gönne mir den Ruhm, daß mein düsteres Haus von der bewunderten Ione beehrt worden sei.«

Ione, welche ihren Bruder zärtlich liebte, nahm die Einladung an, und der Abend ward für den Besuch festgesetzt.

Der Ägypter entfernte sich mit heiterer Stirn, im Innern frohlockend.

Kaum war er fort, als eine Sklavin mit der Meldung ins Zimmer trat:

»Eine Botin von Glaukus wünscht vorgelassen zu werden.«

Ione zauderte einen Augenblick.

»Sie ist blind, die Botin,« bemerkte die Sklavin; »sie will sich ihres Auftrags nur gegen dich selbst entledigen.«

Nicht sobald hatte Ione gehört, daß die Botin blind sei, als sie die Unmöglichkeit fühlte, eine kalte Antwort zu geben. Glaukus hatte einen Herold gewählt, der wirklich heilig war – einen Herold, der nicht abgewiesen werden konnte.

Der Vorhang an der Türe ward weggezogen, ein sanfter Tritt bewegte sich auf dem Marmor, und Nydia, von einer Dienerin geleitet, trat ein.

Sie stand einen Augenblick still und lauschte, dann sagte sie:

»Will die edle Ione mich eines Wortes würdigen, damit ich weiß, wohin ich diese umnachteten Schritte zu lenken habe?«

»Schönes Kind,« erwiderte Ione gerührt mit milder Stimme, »gib dir nicht die Mühe, über diesen glatten Boden zu gehen; meine Dienerin wird mir bringen, was du mir zu geben hast.« Damit winkte sie ihrer Sklavin zu, das mit Blumen gefüllte Gefäß zu übernehmen, welches Nydia behutsam in Händen hielt.

»Ich darf es niemand, als dir selbst überreichen,« antwortete Nydia und näherte sich, von ihrem Ohr geleitet, langsam dem Ort, wo Ione saß und hielt ihr sofort die Vase entgegen.

Ione nahm sie aus ihrer Hand und stellte sie neben sich auf den Tisch.

»Ich habe meinen Auftrag noch nicht ganz erfüllt,« sagte Nydia weiter und zog einen Brief von Glaukus aus ihrem Gewand hervor. »Dieses Schreiben erklärt vielleicht, warum der, welcher mich gesandt, einen so unwürdigen Boten für Ione auslas.«

Die Griechin nahm den Brief aus den Händen des Mädchens und entließ die Dienerin. Noch einmal schaute sie in Verwunderung und schönem Mitleid auf die junge Sklavin, trat dann ein wenig von ihr zurück, öffnete und las folgenden Brief:

 

»Glaukus sendet Ionen mehr, als er auszusprechen wagt. Ist Ione unwohl? Deine Sklavinnen sagen mir nein, und diese Versicherung tröstet mich. Hat Glaukus Ione beleidigt? Seit fünf Tagen bin ich aus Deiner Gegenwart verbannt. Hat man mich Dir verleumdet, Ione? Du kannst einer solchen Verleumdung nicht glauben. Nimm die Blumen an, die ich Dir sende. Die Gabe überbringt eine Botin, die Du, wenn nicht um meinetwillen, doch um ihrer selbst willen in Dein Haus aufnehmen wirst. Sie ist gleich uns fremd im Römerreich, die Asche ihrer Väter ruht unter einem schönern Himmel; aber minder glücklich als wir, ist sie blind und eine Sklavin. Die arme Nydia! Ich suche, indem ich um die Erlaubnis bitte, sie Dir zuzugesellen, ihr die Härte des Schicksals und der Natur bestmöglichst zu vergüten. Sie ist sanft, behend und gelehrig, in Musik und Gesang wohlunterrichtet und eine wahre Chloris für die Blumen. Sie glaubt, Ione, Du werdest sie lieb gewinnen, wenn nicht, so schicke sie mir zurück.

Noch ein Wort. Laß mich kühn sein, Ione. Warum denkst Du so hoch von jenem dunkeln Ägypter? Er hat nicht das Wesen eines ehrlichen Mannes an sich. Wäre es möglich, daß er mich bei Dir verleumdet hätte? Mir ist es nicht unwahrscheinlich, denn ich ließ ihn bei Dir zurück; Du sahst, wie unangenehm ihm meine Gegenwart war, von da an hast Du mich nicht wieder vorgelassen. Glaube das nicht, was er zu meinem Nachteil sagt; hast Du aber etwas geglaubt, so sag es mir gerade heraus, denn dies ist Ione dem Glaukus schuldig.«

 

Ione war es, als sie diesen Brief las, als sei ein Nebel von ihren Augen gesunken. Sie wandte sich an Nydia und sprach, auf ein Polster deutend:

»Setze dich, während ich die Antwort auf diesen Brief schreibe.«

»Soll ich die Antwort zurücktragen?« fragte Nydia mit Spannung, »oder der Sklave, der mich hierhergebracht hat.«

»Wenn es dir recht ist,« erwiderte Ione sanft, »so bleibe du bei mir; dein Dienst soll leicht sein.«

Nydia verneigte das Haupt.

»Wie ist dein Name, liebes Mädchen?«

»Sie nennen mich Nydia.«

»Deine Heimat?«

»Das Land des Olympus, Thessalien.«

»Du sollst mir eine Freundin sein,« entgegnete Ione liebkosend, »wie du mir eine halbe Landsmännin bist.«

Die Blinde küßte die zarte Hand Iones, welche jetzt in etwas stockendem Tone fortfuhr:

»Und dein Herr – wie geht es ihm? Jedenfalls gut in dem Strudel der Vergnügungen.«

»Vergnügungen?« wiederholte Nydia erstaunt. »Davon weiß ich nichts. Wie hätte der edle Glaukus auch wohl Zeit dazu, da er bis tief in die Nacht hinein mit seinen Studien beschäftigt ist.«

»Wie sagst du, Mädchen?« rief Ione freudig.

»Ei,« gab Nydia verwundert zurück, »weißt du denn nicht, daß er mit der Ausarbeitung einer gelehrten Schrift beschäftigt ist, die ihm von neuem Lorbeeren erringen soll? Klodius und die übrigen Freunde stören ihn freilich zuweilen, aber er läßt sich gar oft vor ihnen verleugnen.«

Ione drückte einen innigen Kuß auf die Stirn des blinden Mädchens und setzte sich dann zur Beantwortung des Briefes nieder. Sie schrieb:

 

»Ione grüßt den Glaukus und bittet ihn um seinen Besuch. Vielleicht, daß ich ungerecht gegen Dich war; aber ich will Dir mindestens das Vergehen sagen, das Dir zur Schuld gelegt wurde. Fürchte fortan den Ägypter nicht. Lebe wohl.«

 

Als Ione sich mit dem Brief wieder erhob, fragte Nydia:

»Ist die Antwort derart, daß sich der edle Glaukus darüber zu freuen vermag?«

»Bist du um ihn so ängstlich besorgt?« gab Ione fragend zurück.

»Edle Ione, er ist mir mehr wert als Bruder und Vater,« antwortete Nydia, die Rechte auf ihr Herz legend, »er hat mich dem Elend entrissen. Er ist mir ein wahrer Freund.«

Mit ungezwungener Einfachheit erzählte die Blinde die kurze Geschichte ihres jungen Lebens bis zu dem Zeitpunkt, wo Glaukus sie ihren Peinigern abgekauft.

»Die Götter mögen es ihm vergelten,« schloß sie tief bewegt, »ich armes Kind vermag es nicht.«

Ione beugte sich gerührt nieder und küßte das dankbare Kind. »Geh, meine Nydia,« fügte sie hinzu, »bringe deinem Wohltäter selbst diesen Brief – aber kehre wieder zurück. Bin ich bei deiner Zurückkunft nicht zu Haus – wie heut abend wahrscheinlich der Fall sein wird – so soll dir dein Zimmer neben dem meinigen bereitet werden. Nydia, ich habe keine Schwester, willst du mir eine sein?«

Die Thessalierin küßte unter dankbaren Freudentränen Ionen die Hand und entfernte sich.

*


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