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15. Kapitel.

Silas Inail erzählt weiter.

Herr Broadbent hatte mir den Auftrag erteilt, die Wohnung der Filberts zu durchsuchen, aber meine Mühe schien ganz vergeblich zu sein. Schon wollte ich meine Nachforschungen aufgeben, als mir ein altmodisches Sofa mit imitiertem Lederüberzug auffiel. Es war mir in meiner Praxis schon des öfteren begegnet, daß sich Gegenstände in den Schlitz zwischen Sitzpolster und Rückenlehne geschoben hatten und ich fuhr unwillkürlich mit meiner Hand in den Schlitz und längs desselben von einem Ende zum anderen.

Welch ein Triumph! Meine Hand hielt einen Brief, den ich hervorzog und der folgendermaßen lautete:

174, Winnivale Straße, Sheffield.
Montag.

Der Mittwoch paßt trefflich. Den Revolver bringe ich mit.

Felix Greeson.

Was hatte das zu bedeuten? In zehn Minuten war ich auf der Post, sandte eine Chiffredepesche an Broadbent und befand mich mit seiner Antwort in der Tasche anderthalb Stunden später im Zuge auf dem Wege nach Sheffield.

Ich fand bald das in dem Briefe angegebene Haus, das wie die meisten Häuser der Straße einen Zettel trug, wonach hier Zimmer zu vermieten waren. An der Tür befand sich ein Messingschild mit dem Namen »Spayle«, ich klopfte, fragte nach der Frau des Hauses und befand mich wenige Minuten später einer starken freundlichen Frau gegenüber.

»Habe ich die Ehre mit Frau Spayle? Wie ich sehe, vermieten Sie Zimmer, dürfte ich Sie nach dem Preise derselben fragen?«

Sie willfahrte meinen Wünschen, und bald wußte ich alle ihre Preise und die Vorteile, die ihre Wohnung vor anderen hatte. Jetzt hieß es geradeswegs auf mein Ziel losgehen.

»Ich erinnere mich,« sagte ich, »daß einer meiner Freunde mir von jemand erzählt hat, der bei Ihnen wohnte und der mit der Wohnung sehr zufrieden gewesen ist. Ich kann mich im Augenblick nur nicht gleich auf den Namen besinnen.«

Sie nannte mir nun eine Reihe von Namen, aber der Rechte war nicht darunter.

»Es ist schon eine oder zwei Wochen her,« bemerkte ich.

»O, dann weiß ich, wen Sie meinen. Nur Herr Walterslide wohnte damals mehrere Tage lang bei mir.«

»Nein, so hieß er nicht. Warten Sie, jetzt fällt es mir ein – Greevey, Greeley – ah! jetzt hab' ich's – Greeson hieß er.«

»Greeson,« meinte sie, während sie mich aufmerksam ansah, »das ist merkwürdig, denn er hat nie hier gewohnt. Herr Walterslide sprach zwar davon, daß er bei mir wohnen wollte, aber das geschah nicht. Es kam nur ein Brief für Herrn Greeson an, den Herr Walterslide an sich nahm, um ihn seinem Freunde einzuhändigen oder nachzusenden – ich weiß nicht mehr recht was.«

»Frau Spayle,« antwortete ich, »wissen Sie zufälligerweise Herrn Walterslides Adresse?«

»Ja, ich habe sie in meinem Rechnungsbuch eingetragen und will sie Ihnen gern mitteilen.«

Sie schien über mein Verlangen nicht im mindesten erstaunt, verließ das Zimmer und kam bald darauf mit der Adresse zurück, die folgendermaßen lautete:

 

Benjamin Walterslide, Schiffsausrüstungsgeschäft.
Dockport Street, Hull.

 

Ich schrieb mir diese rasch ab, dann versprach ich ihr, wegen ihrer Zimmer nochmals vorzusprechen und eilte nach dem Bahnhof. Es war bereits spät, als ich in Hull anlangte, aber ein oder zwei Läden waren noch offen, als ich in der Dockport Street war, und glücklicherweise befand sich darunter auch der Gesuchte, auf dessen Ladenschild der Name »B. Walterslide« prangte. In seinem Innern waren alle möglichen Schiffsausrüstungsgegenstände aufgehäuft – Stapel von Käse, Zinnschachteln voller Biskuits, Töpfe mit Fruchtmus und dazwischen Kompasse, Taurollen, Flaschenzüge, Ölzeug usw.

Ich war in den Laden eingetreten und fand hinter dem Ladentisch eine ungefähr dreißigjährige Frau mit frischem Gesicht aber in ziemlich nachlässiger Kleidung vor.

»Kann ich mit Herrn Walterslide sprechen?« fragte ich.

»Er ist auf dem Lagerraum, Herr,« entgegnete sie, »aber ich werde ihn gleich holen.«

Es dauerte auch nicht lange und hinter ihr trat ein großer breitschultriger Mann ein, der halb einem Schiffskapitän und halb einem Krämer glich.

»Sie wollten mich sprechen?« begann er.

»Falls Sie Herr Walterslide sind, dann entschuldigen Sie, daß ich Sie noch so spät störe. Es handelt sich nur für mich darum, die Adresse eines Herrn zu erfahren, der Felix Greeson heißt und dessen Wohnung Sie mir, wie man mir sagte, angeben könnten.«

Er erschrak und wurde so bleich, wie das bei seiner dunklen, sonnverbrannten Hautfarbe möglich war, faßte sich aber rasch und fragte in möglichst gleichgültigem Tone, wer denn eigentlich diese Adresse benötigte.

»Einer seiner Geschäftsfreunde, glaube ich,« fuhr es mir heraus, indem ich die erste beste mir gerade einfallende Notlüge aussprach. »Ich denke, es handelt sich um eine Schuld von einem Pfund 8 Schillingen und 3 Pence.«

»Das wäre nicht gerade viel, aber weshalb sollte ich gerade die gewünschte Adresse wissen?«

»Ich habe mir das so gedacht; stimmt es nicht auch?«

»Eigentlich sollte ich Ihnen die Adresse nicht geben, aber ich will es dennoch tun, nur bitte ich, meinen Namen ihm gegenüber nicht zu erwähnen.«

»Das soll gern geschehen,« entgegnete ich.

»Maria,« wandte er sich zu seiner Frau, »hast Du hier nicht irgendwo einen hellblauen Geschäftsbriefbogen gesehen?«

»Nein,« antwortete sie.

»Ich habe ihn irgendwo hingelegt,« murmelte er und begann seine Bücher und darauf eine leere Zinnbüchse, die voll von Geschäftsrechnungen war, zu durchsuchen; schließlich zog er eine Schieblade auf, in der die Ladenkasse stand. Hier wurde sein Suchen abgelenkt und er wandte sich ärgerlich zu seiner Frau.

»Maria, wie oft soll ich es Dir denn eigentlich sagen, daß Du nicht so viel Geld in der Ladenkasse liegen lassen sollst; das ist geradezu eine Versuchung für Leute, die in den Laden kommen.«

Mit diesen Worten zählte er eine Anzahl Silberstücke und ein Goldstück auf den Ladentisch aus und schob dann das Geld in die Tasche. Hierauf suchte er in der Schieblade nach dem blauen Bogen, schließlich auch in seinen Taschen, aber ohne Erfolg.

»Maria,« begann er aufs neue, »welchen Rock hatte ich gestern früh an.«

»Denselben, den Du heute trägst, Ben.«

Er suchte nochmals alle Taschen durch, dann schlug er sich plötzlich an die Stirn.

»Wie dumm von mir!« brummte er, »ich habe den Wisch ja oben im Zimmer gelassen. Einen Augenblick, bitte.«

Damit verließ er den Laden, aber es verging Minute nach Minute, ohne daß er zurückkehrte. Nach zehn Minuten fing ich an mißtrauisch zu werden und bat nach einer Viertelstunde seine Frau, ihn suchen zu gehen. Bald kehrte sie mit erstauntem Gesicht zurück und berichtete, daß ihr Mann nicht zu finden sei und Hut und Überrock mitgenommen habe. Ich war überlistet, das war klar, und sein ganzes Suchen hatte nur die Notwendigkeit verdecken sollen, das für eine Flucht nötige Geld unauffällig an sich zu nehmen. Dann war es ihm ein Leichtes, seine Flucht zu bewerkstelligen. Und noch ein anderer Gedanke schoß mir durch den Kopf – natürlich war er selber Greeson! – das mußte ich sofort herausbekommen.

»Frau Walterslide,« sagte ich streng, »Ihr Gatte hat eine merkwürdige Art und Weise, mit den Leuten umzugehen. Ich bin geradezu empört, aber ich nehme an, Sie wollen ihm keine Ungelegenheiten bereiten?«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann,« erwiderte sie etwas einfältig, »denn Ben ist mir immer ein liebevoller Mann gewesen.«

»Dann ersuche ich Sie, mir irgendein von ihm eigenhändig geschriebenes Schriftstück zu zeigen.«

Sie öffnete ein ziemlich unsauberes Kassenbuch.

»Das hat er alles selbst geschrieben,« sagte sie, »denn er führt seine Bücher selber.«

Ich verglich die Eintragungen mit dem Briefe, den ich in Frau Filberts Hause gefunden hatte. Die Handschrift war die gleiche! Ich hatte nun einen wesentlichen Punkt hergestellt – Walterslide und Greeson waren ein- und dieselbe Person. Deshalb nahm ich einen von Walterslide geschriebenen Brief mit der Erlaubnis seiner Gattin an mich und verabschiedete mich von der ganz verwirrten und ängstlich gewordenen Frau, um sofort nach dem Polizeiamt zu eilen und dann ein Hotel aufzusuchen, wo ich einen eingehenden Bericht an Herrn Broadbent schreiben konnte.

Während ich schlief, wurden nach allen Seiten hin Telegramme ausgesandt, um Walterslide aufzufinden, aber erst um 10 Uhr morgens hatte man eine Spur aufgefunden, die jedoch wieder durch die Ungeschicklichkeit eines Beamten verloren ging.

Ich telegraphierte deshalb an Broadbent, dessen Antwort rasch eintraf

»In Hull bleiben. Weiteren Spuren im Laden nachforschen. Verfolgung des Flüchtlings eingeleitet.«

Diesen Befehlen gemäß stellte ich weitere Nachforschungen an und fand, daß Walterslides Ruf ein guter war. Er war ein hart arbeitender Mann, der sein leidliches Auskommen hatte. Drei oder vier Jahre vorher hatte er geheiratet und besaß zwei Kinder, von denen das eine erst einige Monate alt war. Als Gatte und Vater galt er in der ganzen Nachbarschaft geradezu als Muster. Ich sprach auch nochmals in dem Laden vor und fand Frau Walterslide in Tränen aufgelöst vor.

»Er hat mich niemals vorher so behandelt,« schluchzte sie, »er war immer freundlich zu mir und auf mein Wohl bedacht.«

»Aber er ist doch sicher früher auch schon abwesend gewesen?«

»Gewiß, sogar oft, aber er sagte mir immer vorher, wohin er reiste und schrieb stets seine Adresse hier auf die letzte Seite dieses Geschäftsbuches, so daß ich wußte, wohin ich ihm schreiben konnte.«

Damit öffnete sie ein Buch und wies mir einige Eintragungen vor. Es befanden sich darin einige wenige Adressen, aber die zuletzt eingetragene Adresse war von ungeheuerer Wichtigkeit für mich. Sie lautete:

»Mittwoch, 20. März frage ich beim Postamt in Bexcliffe nach Briefen nach. Ebenso auch am Donnerstag.«

Der 20. März war der Tag des Verbrechens in der Efeuvilla, ich war also auf der rechten Spur und telegraphierte sofort an Broadbent, dessen Antwort nach drei Stunden eintraf:

»Brief für W. liegt hier auf Postamt seit dem 21. Entdeckte, daß er unter dem Namen Greeson hier im Hotel »Goldener Bär« Zimmer bestellte. Hat es aber nicht benutzt. Weitere Spuren verfolgen.

Broadbent.«

Das war wieder etwas Neues, und Walterslide wußte sicher mehr von dem Verbrechen, als wir bisher geahnt hatten. Die Bestellung des Zimmers am Tage des Verbrechens, das er dann später überhaupt nicht benutzt hatte, machte ihn außerordentlich verdächtig, aber es war meine Pflicht, Nachforschungen anzustellen, statt mich mit müßigen Vermutungen abzugeben. Die Polizei half mir mit einer Verkleidung aus und ich begab mich in der Tracht eines polnischen Juden am Nachmittag nochmals in Walterslides Laden.

»Is sich Herr Walterslide da?« fragte ich seine nichtsahnende Frau in schlechtem und gebrochenem Englisch.

»Nein, er ist ausgegangen.«

»Oh, das is mir serr unangenehm. Ich habe gemacht diesen Besuch, zu bezahlen die Pistole, die sie auch nennen Revolver. Dreißig Schillinge.«

»Ich kann Ihnen leider keine Auskunft geben.«

»Ach, dann muß ich schicken das Geld durch die Post, da ich nicht mehr kann bleiben länger hier.«

Mit diesen Worten ging ich nach der Tür zu, kehrte aber kurz vor derselben nochmals um, als ob mir plötzlich etwas einfiele.

»Ach, ich habe vergessen noch etwas, worüber ich wollte sprechen mit Ihrem Mann – wissen Sie auch genau, ob die Pistole war seine? Sie trug einen Namen, der nicht war der Seinige!«

Ein Blitz des Verständnisses huschte über das Gesicht der Frau.

»Ach Sie meinen wohl, daß er an Sie eine Pistole verkaufte, die einen fremden Namen trug? Ich besinne mich, auf ihr befand sich ein Plättchen mit dem Namen Gareth Roystock.«

»Ja so war es – Roystock stand darauf.«

»Dann können Sie beruhigt sein, der Revolver gehört ihm schon seit Jahren, und ich habe ihn schon so lange ich verheiratet bin in seinem Besitz gesehen.«

»Das is serr gut, dann wird ihn mir auch abfordern keiner und ich will das Geld gleich bezahlen hier. Aber wollen Sie geben mir etwas Schriftliches, daß er hat gehabt die Pistole schon jahrelang in seinem Besitz, so daß ich mich kann berufen darauf, wenn ich haben sollte Schwierigkeiten.«

Damit legte ich das Geld auf den Tisch und die nichtsahnende Frau entsprach bereitwillig meinem Wunsche. Ein paar Minuten später befand ich mich auf der Straße und hatte ein Schriftstück des nachfolgenden Inhalts in meinem Besitz:

»Hierdurch bescheinige ich, daß der Revolver, den mein Gatte an Herrn Isidor Levy für dreißig Schillinge verkaufte und der den Namen »Gareth Roystock« trug, sich meines Wissens bereits seit über drei Jahren in seinem Besitz befand.

Maria Walterslide.«



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