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32.

Als der Nachtnebel sich endlich vor der späten Morgensonne des Novembertages zerstreute, stand ganz Skalunga vom Reif versilbert da. Die Luft war still, und der Reif lag dick wie Schnee auf jedem Ast und Zweig, auf jeder Fichtennadel wie auf jedem Dach und Feld.

Helwig schlug ihr Fenster auf und war hingerissen von der Schönheit, während sie mit tiefen Zügen die herrliche frische Luft einatmete und ihre Seele der unbeschreiblichen Reinheit öffnete.

Daß ihr letzter Morgen in Skalunga so war! Schmückte Skalunga sich wie zu einer Brautfeier, damit es noch schwerer wurde, sich von hier loszureißen? dachte sie.

Während der letzten Wochen (der sonderlichen Zeit, wie sie sie nannte) hatte sie sich in der Kunst geübt, nur gerade für den Augenblick zu leben. Das kam ihr jetzt am Abschiedstag zustatten. Dadurch wurde es ihr möglich, vor dem Aufbruch mit wenig Trost auszukommen.

Sie brauchte sich nicht am selben Tag von Skalunga und von dessen Pastor zu trennen. Er sollte nämlich die Mutter und sie an die Eisenbahnstation bringen, wo sie übernachten mußten, um den Zug am folgenden Morgen benutzen zu können. Er sollte auch die Nacht da bleiben und ihnen dann in den Zug helfen. Daher konnte sie sich beim Abschied von Skalunga noch auf eine lange Fahrt mit Ols Erik Larsson freuen, auf einen ganzen Abend und einen Morgen.

Helwig weinte nicht leicht, also blieben ihre Augen trocken, obgleich sich in ihrem Innern ein starker, dumpfer Schmerz fühlbar machte; waren es doch die letzten Stunden ihres Aufenthalts in dem Heim, wo ihr Herz Wurzel geschlagen hatte!

Die Baronin dagegen weinte. Unter Tränen sah sie sich zum letztenmal in dem gemütlichen Zimmer um, das sie jetzt verlassen sollte. Hier hatte sie schwere Schmerzen erduldet und bange Stunden verbracht, aber die Freude der Genesung war doch noch größer gewesen. Nun überwältigte sie die Erinnerung an die vielen Augenblicke größter Gemütlichkeit, die die letzten Monate erfüllt hatte.

Weinend umarmte sie Mutter Ols, die die Umarmung verlegen, aber würdig und nicht ohne Herzlichkeit erwiderte. Sie hatten einander lieb, obgleich sie den gehörigen Abstand zwischeneinander wahrten; denn beide waren sie ja aus der alten Zeit und standen fest in ihren Standesvorurteilen.

Selbst von Mutter Karin, der ungebildeten, aber tüchtigen und zuverlässigen Nachtpflegerin, trennte sich die Baronin mit Wärme, wenngleich die Herzlichkeit nicht bis zur Umarmung und zu Tränen ging. Sie fand aber ihren Ausdruck in einer klingenden Gabe außer dem festgesetzten Lohn. Bei Mutter Ols konnte so etwas nicht in Frage kommen, aber Karin nahm es gut auf.

Helwig erinnerte sich ihrer Vereinbarung mit Ols Erik zu Anfang ihres Aufenthalts. Sie dachte an ihre absichtlich verletzende Haltung und an die Zurechtweisung, die er ihr in seiner ruhigen Art gab, als er vorschlug, sie möchte ihm und seiner Mutter bei der Abreise ein Trinkgeld geben. Damals hatte keins von ihnen geahnt, wie sich das Verhältnis zwischen ihnen bis zum Abschied gestalten würde.

Später am Tage schmolz die Sonne den Reif, sie sahen es während der Fahrt, aber zur Nacht senkte sich der frostige Nebel wieder auf die Erde, und am nächsten Morgen war wieder alles weiß. Aber an dem Morgen erwachte Helwig nicht in Skalunga. Hier beim Bahnhofsgasthaus wurde das Weiß bald schmutzig; nur wenn man den Blick zu den Höhen erhob, sah man es in strahlender Reinheit.

Nach einem Frühstück zu dritt im Speisesaal des Gasthauses, bei dem die Unterhaltung oft stockte und die Eßlust fehlte, kam der Abschied.

Ols war bis zuletzt voller Fürsorge, ohne aufdringlich zu sein. Stark wie er war, hob er die Baronin in den Wagen. Im Damenabteil suchte er ihr die geschützteste Ecke aus und hüllte sie in Decken und Kissen. Zuletzt legte er ihr ein Buch zur Unterhaltung auf der Reise in den Schoß. Es war ein Werk, von dem sie kürzlich gesprochen hatten. Er hatte es verschrieben, aber bis zur Abschiedsstunde aufgehoben.

Helwig gab er nichts, aber sein Blick und sein Händedruck beim Abschied sagten ihr, was er ihr früher in Worten gesagt hatte, daß er ihr eigen war, ihr eigen seit dem Tage, da sie sich entschloß, ihm ihr Herz zu öffnen.

Der Zug setzte sich in Bewegung, ein letzter Gruß, ein letzter Blick auf das Gesicht, das ihr in seiner großzügigen Häßlichkeit so lieb geworden war. Vom bleichen Novemberlicht erhellt und in beherrschter Rührung erstarrt, glich es noch mehr als an dem Tage, da sie es zum erstenmal erblickt hatte, einer unvollendeten, aber geistvollen Holzschnitzerei, und doch war seitdem etwas Neues hineingetreten, das früher nicht darin zu finden war. Helwig wußte, daß sie das verursacht hatte.

Fast unerträglich wurde ihr Seelenschmerz, und sie wünschte, weinen zu können.

Draußen auf der Plattform stand sie und lehnte sich über die Gittertür, solange sie noch eine Spur von der festen, untersetzten Gestalt sehen konnte.

Wann würde sie ihn wiedersehen?

Ende Januar sollte er nach Stockholm kommen, so hatten sie verabredet.

Mit unerklärlicher Beklemmung fragte sich Helwig, wie alles dann sein würde, was für Veränderungen mit ihm oder ihr vorgegangen sein würden. Fast fürchtete sie, daß sie einander nicht so wiederfinden würden, wie sie jetzt waren.

Ein Beisammensein, wie sie es jetzt gehabt hatten, würde sich nicht wiederholen können. Was würde statt dessen kommen? Würde sie ihm eine klare Antwort geben, und welche?

Immer schneller entfernte sich der Zug, und mit ihm wuchs der Abstand von Skalunga. Alles, was Helwig dort erlebt hatte, drängte sich noch einmal zusammen und erschien verklärt vor ihrem geistigen Auge.

Würde sie, wenn sie wieder zu Hause war in ihrer alten Welt, erwachen und wie auf einen Traum zurückschauen, der nun hinter ihr lag? Oder würde sie eine Leere spüren und daran erkennen, daß das, was sie in Skalunga erfahren hatte, ihr Wirklichkeit war und ihre Zukunft werden müßte?

Eine unsagbare Angst befiel sie, als sie an die verhängnisvolle Entscheidung dachte, die ihr bevorstand, und sie wünschte, es möchte irgend etwas geschehen, was einen Entschluß herbeiführte, dem sie sich nur zu fügen hätte. Ein solches Gefühl war eine Seltenheit bei ihr, die trotz ihrer oft qualvollen Unentschlossenheit so eigenwillig war. –

Die letzte Spur der schönen, jungen Gestalt war verschwunden. Ols hatte bemerkt, daß sie sich noch im Abschiedsaugenblick zusammennahm, und daß ein Zug der Selbstverspottung auf ihrem Gesicht lag. Was er selbst fühlen mochte, zeigte er niemand. Er dachte auch nicht mehr viel darüber nach. Ehe er die Rückfahrt antrat, hatte er noch viel zu besorgen. Und außerdem kamen alle die Leute, die von seiner Anwesenheit gehört hatten, um ihn über dies oder jenes zu befragen. So hatte er vollauf zu tun. Er widmete sich allen und ging mit der Vertrauen einflößenden und gewinnenden Art, die ihm eigen war, auf die Anliegen eines jeden ein. Wer eben mit ihm sprach, hatte den Eindruck, daß niemand und nichts anderes die Teilnahme des Pastors in Anspruch nahm. Hellte schien er sich sogar mehr als sonst allen zu widmen. Das kam daher, daß ihm alles angenehm war, was ihn den eben erlittenen Abschiedsschmerz ein wenig vergessen ließ. Aber trotzdem fühlte er dieselbe Beklemmung wie Helwig, und er hatte dasselbe Gefühl, daß all das Schöne, was gewesen war, nicht mehr wiederkommen könnte. Wie sich auch das Verhältnis zwischen ihnen in Zukunft gestalten mochte, so schön konnte es doch nicht wieder werden, wie es in der »sonderlichen Zeit« gewesen war! Die hatte etwas Paradiesisches gehabt.


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