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25.

Der strahlende Oktobermorgen war gar zu verlockend. Helwig empfand eine unbezwingliche Lust, in die frische, freie Natur hinauszueilen.

»Mach du nur einen weiten Spaziergang,« sagte ihre Mutter; »aber sieh zu, ob nicht jemand mit dir geht. Ich habe es nicht gern, wenn du die einsamen Wege allein gehst.«

»O, da ist keine Gefahr!« versicherte Helwig.

Sie wußte wohl, welche Gesellschaft sie gern gehabt hätte! Vielleicht war es nicht ganz unmöglich, die zu bekommen. Sie wollte einen leisen Versuch machen.

Beim Frühstück erklärte sie ihre Absicht, bei dem herrlichen Herbstwetter den ganzen Vormittag zu wandern.

»Meine Mutter beunruhigt sich, daß ich allein gehen wollte; aber auf den hiesigen Wegen ist doch keine Gefahr?«

Halb behauptend, halb fragend sagte sie es zu Ols.

Er antwortete nicht gleich, er überlegte stillschweigend.

»Haben Sie ein bestimmtes Ziel für Ihre Wanderung?« fragte er.

»Mein einziges Ziel ist, auszugehen.«

»Ich habe Besorgungen in Holderfeld, jenseits des Flusses, zu machen. Es ist ein paar Stunden bis dorthin. Vielleicht wollen Sie mit mir gehen, dann braucht die Frau Baronin sich nicht zu beunruhigen.«

Auf solch ein Anerbieten hatte Helwig gerade gehofft; aber sie antwortete nicht gleich zustimmend.

»Sie werden wohl dort bei Leuten zu Gast sein, da kann ich doch nicht mit?«

»Ich nehme Essen im Rucksack mit, dann sind wir unabhängig.«

»Aber Sie haben amtliche Geschäfte, da störe ich?«

»Ich muß ein paar Kranke besuchen, und während ich das besorge, können Sie sich mit den anderen unterhalten. Ich schlug es nur vor, damit Sie nicht allein zu gehen brauchen,« fügte er gleichsam entschuldigend hinzu.

»Wenn ich mitgehen darf, bin ich sehr dankbar,« versicherte Helwig schnell.

Also gingen sie. Die ernste, großartige Landschaft strahlte in der Sonne, die frische Lust hatte eine anspornende Kraft, man ging wie von unsichtbaren Flügeln getragen, und die Wangen röteten sich. Helwig fühlte sich unbeschreiblich wohl. Sie ließ ihren Blick am Horizont entlang schweifen und nahm die ganze Schönheit in sich auf, die heute etwas Überirdisches hatte. Dabei glitt ihr Blick auch über das derbe Gesicht neben ihr, und sie hatte das Gefühl, als wäre alles, was sie an Schönem sah, darin zusammengefaßt. Die Seele der Natur begegnete ihr in seinem Ausdruck.

Seiner Stimme und seinen kurzen Reden lauschte sie, als hätte sie ihn noch nie gehört. Und doch war sie es, die am meisten sprach. Sie sprach von sich selbst. Aber die Aufmerksamkeit, mit der er zuhörte, und seine kurzen, taktvollen Fragen gaben ihr das Gefühl, als leitete er das Gespräch.

Noch nie war sie so offenherzig gewesen wie heute.

Sie erzählte ihm von ihrem Leben seit der Kindheit, wie sie durch ihre unglückliche Vielseitigkeit nach den verschiedensten Richtungen hin und her gezogen worden war, und was für Reibungen das verursacht hatte.

Sie blieb nicht bei dem Äußerlichen stehen, sondern vertiefte sich in Selbstprüfung. Dabei bat sie ihn, ihr zu helfen, daß sie zur Klarheit über sich selbst käme. Gern wollte er das, verlangte aber, dann müsse sie durchaus aufrichtig sein, sonst könne er sich kein richtiges Urteil über sie bilden. Und sie versprach es. War es doch ein eigenartiges Entzücken, das sie bei allen diesen Gedanken bewegte!

Von dem Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter bekannte sie, daß ihre Mutter sie immer verzogen habe. Sie war das einzige Kind und hatte ihren Vater früh verloren. In äußerer Hinsicht hatten sie es immer mehr als gut gehabt. Weder Geldmangel noch Bevormundung durch die Mutter, oder sonst irgend etwas hatten Helwigs Wünschen je im Wege gestanden.

»Ich habe immer tun dürfen, was ich wollte; aber das trägt seine Strafe in sich; denn es wird einem dann oft schwer, zu wissen, was man will,« sagte Helwig und lächelte in herzgewinnender Aufrichtigkeit.

Nur bei einer Gelegenheit war die Mutter ihren Wünschen entgegengetreten, nämlich als Helwig sich dem Gesang widmen wollte und sich die Oper als Ziel gesetzt hatte.

»Ich erkenne jetzt nachträglich, daß ich es wohl nicht im Ernst gewollt habe, denn dann hätte mich meine Mutter nie dazu gebracht, zu verzichten,« sagte Helwig in unbefangener Selbsterkenntnis. »Im Grunde genommen war ich ihr wohl nur dankbar für ihren Widerstand. Denn ich konnte nun die Schuld auf jemand anders schieben, als ich von der Musik zur Malerei überging.

»Warum wollten Sie denn nicht zur Oper?«

Helwig schwieg ein Weilchen; denn mit der Frage hatte er ein inhaltsreiches Kapitel ihres Lebens berührt. Dann antwortete sie eingehend und lebhaft, so daß man merken konnte, wie gern sie von sich redete. Trotz seiner großen Teilnahme an allem, was sie betraf, war Ols doch nicht blind. Er lernte sie vielleicht noch besser kennen durch die Art, wie sie von sich sprach, als durch das, was sie von sich sagte.

Sehr eifrig entwickelte sie die Gründe für und wider die Opernlaufbahn, die ihr einst inneren Kampf und Aufregung verursacht hatten. Aber der Grund, auf den er wartete, war nicht darunter. Wenn sie schließlich darauf verzichtet hatte, so war das teils ihrem Geburtsstolz, teils ihrer Trägheit zuzuschreiben. Sie hatte eingesehen, daß die Opernlaufbahn einen Schritt bedeutet haben würde, der sie außerhalb alles gesellschaftlichen Ansehens geführt hätte; es hätte anhaltende und strenge Arbeit gekostet, die Laufbahn zu betreten, und noch viel mehr, darin zu beharren.

»Ich hätte mich nur mit einem Platz in der Reihe der Besten begnügt,« erklärte sie.

»Hatten Sie denn nie Gewissensbedenken?«

Die Frage setzte sie in Erstaunen, dann fiel ihr aber ein, daß er ja Geistlicher war, und da war es natürlich, daß er so fragte.

»Die hatte ich nicht. Ich sehe nichts Unrechtes in der Opernlaufbahn.«

Da ging Ols nicht tiefer auf diese Frage ein.

»Aber warum gaben Sie die Musik auf, weil Sie nicht zur Oper gehen wollten?«

»Ja, sehen Sie, da trat die ›Ganzseinsforderung‹ dazwischen, die ich trotz aller meiner Zersplitterung so stark in mir trage. Ich wollte mich dem ganz widmen, was ich erwählte. Und wie hätte ich die Musik außerhalb der Oper zum Lebensberuf machen können? Konzertsängerin war mir nicht genug, und Musiklehrerin, das hätte ich nie aushalten können! Nein, lieber wollte ich etwas anderes ergreifen.«

»Kann die Malerei Sie ganz befriedigen?«

»Das weiß ich noch nicht,« antwortete sie und zweifelte wohl selbst daran. »Ich bin noch nicht soweit gekommen, daß ich darüber urteilen könnte. Es ist zwar viel Arbeit dabei, aber es interessiert mich doch ungeheuer. Ich muß aber mal sehen. Wenn ich merke, daß ich nicht genug Begabung habe, um es bis aufs höchste zu bringen, werfe ich den ganzen Kram eines schönen Tages in die Ecke!«

»Sie sind ehrgeizig!«

»Ja, und das hat seine guten wie seine bösen Seiten. – Ich habe viel in mir, was mich unglücklich machen kann.«

Nun öffnete sie einen noch geheimeren Raum ihres Herzens. Es war so verführerisch, von sich selbst zu sprechen. Dazu mit einem verständnisvollen und mitfühlenden Zuhörer, der wohl ihres Wesens Rätsel zu lösen vermochte. Es war ja auch sein Amt, die verschiedenartigsten Menschen zu verstehen und ihnen zurecht zu helfen.

»In meiner Seele, ganz drinnen im Herzen, sitzt ein kalter, kritischer Geist,« erzählte sie in gedämpftem Ton, als wenn sie eine Spukgeschichte zum besten gäbe. »Der sieht mich mit höhnischem Eisesblick an und erkältet jedes warme Gefühl, das in mein Herz hinein will. Ich wage nicht, mich für irgend etwas zu erwärmen. Dann hohnlacht der Geist, und ich schäme mich. Über so etwas wie Ehrgeiz und Stolz lacht er nicht. Aber alle warme Herzlichkeit vertreibt er. Haben Sie einen ähnlichen Geist in Ihrer Seele?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich möchte wissen, ob er ein Teil meines Ichs ist, oder nur ein Fremdkörper? Mitunter freue ich mich über ihn, denn er hindert mich daran, mich lächerlich zu machen. Aber mitunter, wenn ich einem Gefühl nachhängen möchte und jener Geist mich daran hindert, leide ich. Er sitzt da drinnen und beobachtet mich und lacht mich aus, so daß ich mir selbst lächerlich vorkomme und kalt werde. Was meinen Sie wohl, was das für ein Geist ist?«

»Ich glaube, Sie denken zuviel an sich selber.«

»Denke ich wirklich soviel an mich selbst?« fragte sie mit sanftem Vorwurf, der sagen wollte, daß er jetzt wohl zu streng in seinem Urteil wäre.

»Sie denken bewußtermaßen soviel über sich selbst nach, daß Sie es dann auch unbewußt aus Gewohnheit tun. Und das erweckt in Ihnen das Gefühl, als säße ein beobachtender Geist in Ihrer Seele.«

»Aber warum verhöhnt der mich? und gerade meine warmen Gefühle? In meinem bewußten Nachdenken verhöhne ich mich nicht selbst.«

»Ich möchte Ihnen raten, den Geist als Ihren Feind anzusehen und Ihr Herz nicht von ihm ersticken zu lassen.«

Ach, wie das Gespräch Helwig interessierte! Ihn mit solchem Ernst über sie reden zu hören, und dazu mit ihr selbst, machte ihn ihr so lieb, daß sie kaum ihre Gefühle zurückhalten konnte.

»Da haben Sie sehr recht. Ich habe die höhnische Selbstbeobachtung stets als einen Feind empfunden, und gewünscht, daß etwas noch Mächtigeres kommen und von mir Besitz nehmen möchte,« sagte sie voll schmerzlichen Sehnens.

Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter, dann sagte Helwig in ruhigerem Ton:

»In Ihrer Gesellschaft bleibt der Geist stille, und dafür bin ich Ihnen so sehr dankbar.«

In den Worten lag viel, gefährlich viel; aber doch mußte sie so sprechen.


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