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18.

»Daß er den ganzen Tag nicht gekommen ist!« seufzte Eline, die junge Frau in der Seehofskate, und wandte sich vom Fenster. »Nun zur Nacht kommt er gewiß nicht.«

»Er kommt doch sonst immer, wenn man nach ihm schickt,« sagte die alte Mutter, die an dem Krankenbett ihres Sohnes Jonas, des Kätners, saß.

Die junge Frau blickte wieder durch das Hüttenfenster, obgleich sie an dem trüben, dunklen Septemberabend nichts mehr sehen konnte.

»Vielleicht ist es ›unserm Ols‹ gar nicht bestellt worden,« meinte die Alte.

»Niels hat sich sonst immer zuverlässig gezeigt, und er versprach es so bestimmt.«

Es war unbegreiflich, daß der Pastor nicht kam! Schon heute morgen war Niels, der Nachbar, von Haus fortgegangen, nachdem er versprochen hatte, einen Abstecher nach dem Predigerhof zu machen. Dort führte sein Weg vorbei, und er wollte den Pastor bitten, zu Jonas zu kommen. Hätte Ols die Botschaft erhalten, so hätte er um die Mittagszeit in der Kate sein können, und nun brach die Nacht herein und er war noch nicht da!

Das abgehärtete Volk hier oben belästigte niemand unnötig mit seinen Sorgen. Sie halfen sich selbst solange wie irgend möglich. Aber nun ging es nicht länger, Hilfe war unbedingt nötig, und da wandte man sich selbstverständlich an »unsern Ols«.

Zwei Nächte hatte Eline nicht geschlafen. Jonas war schwer krank, und am schlimmsten wurde es in den Nächten. Sie hatte auch zwei kleine Kinder zu versorgen, eins an der Brust und eins, das eben laufen lernte. Dabei konnte die Großmutter ihr etwas helfen, aber sehr wenig bei dem Kranken; denn ihre Glieder zitterten vor Alter und sie pflegte meist zu liegen. Aber nun hatte sie versucht, sich aufzuraffen, um am Bett zu sitzen und Jonas zu betreuen, während die junge Frau draußen das Vieh besorgte.

Jonas litt schwere körperliche Schmerzen, und seine Seele war beunruhigt. Er sehnte sich danach, mit dem Pastor zu sprechen; aber am allermeisten sehnte er sich nach den wundertätigen Händen, die Schmerzen stillen und Schlaf bringen konnten.

Kein Mensch war jemals in der Kate so herbeigesehnt worden wie Ols; aber der Tag verging und auch die Nacht, ohne daß er kam. Diese Nacht war schwerer als die vorhergehende. Die müden Augen der jungen Frau waren vom Wachen überanstrengt, als endlich der Morgen kam und ein wenig Linderung in des Kranken Zustand brachte.

»Wir müssen wieder nach ›unserm Ols‹ schicken,« sagte die Alte.

»Wen kann ich schicken?« fragte Eline in hoffnungsloser Ergebung.

Sie selbst konnte Jonas nicht so lange verlassen, Großmutter war zu schwach, um zu gehen, und im einzigen Nachbarhof gab es auch niemand zum Schicken, seit Niels fort war. Er war weit fort an seine Arbeit gegangen und würde erst in einigen Wochen wiederkommen.

Die Dämmerung ging in den Morgen über, und der Morgen in den Tag. Sogar Elines ungeübte Augen merkten heute eine entschiedene Veränderung zum Schlechteren in ihres Mannes Zustand. Die alte Frau, die trübe sah, merkte nur, daß er ruhiger war, und hielt es für ein gutes Zeichen. Die Ruhe war aber nur ein Beweis, daß die Kräfte abnahmen.

»›Unser Ols‹ muß gestern fort gewesen sein. Sobald er nach Hause kommt, haben wir ihn auch hier,« tröstete die Großmutter.

»Wenn er gestern gekommen wäre, hätte er etwas tun können, heute ist es gewiß zu spät,« seufzte Eline mit einem Blick aus den armen Jonas. –

Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, als die Tür sich öffnete und der ersehnte Ols eintrat mit seinem: »Gott segne euch hier drinnen!«

Die beiden Frauen freuten sich und faßten Hoffnung, als sie ihn sahen, und sogar Jonas öffnete die Augen mit einem Hoffnungsschimmer.

Ols brauchte nicht zu fragen, wie es ginge, das sah er gleich. Er setzte sich zum Kranken, fühlte den Puls und beobachtete alles genau. Sein ernstes Gesicht zeigte einen unruhigen Ausdruck, den es nur zu tragen pflegte, wenn der Fall hoffnungslos war. Aber hier war es nicht nur Jonas' Zustand, was ihn beunruhigte.

»Wir hatten gar nicht mehr gedacht, daß du kommst,« sagte die Alte.

»Niels hat die Botschaft vielleicht nicht ausgerichtet, oder vielleicht war der Pastor verreist?« sagte Eline.

»Ich traf Niels nicht, bekam aber die Botschaft und wäre eher gekommen, wenn ich gekonnt hätte.«

Die junge Frau sah Ols an und seufzte.

»Das war gestern ein langer Tag und eine schwere Nacht, und seit heute früh ist es schlimmer mit ihm,« sagte sie.

Ols Eriks Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an, und seine geraden Lippen drückten sich wie im Schmerz zusammen.

Er war immer sorgsam mit seinen Kranken, aber heute übertraf er sich selbst. Er blieb lange in der Kate und schonte sich nicht. Als er endlich ging, versprach er, zur Nacht wiederzukommen. Das tat er auch und wachte am Krankenbett, so daß die ermüdete junge Hausfrau schlafen konnte.

Die ganze Nacht kämpfte der heilkundige Pastor mit der Krankheit, aber nur, um immer deutlicher einzusehen, wie nutzlos der Kampf war, weil er zu spät aufgenommen war. Wäre er gekommen, ehe die Verschlimmerung eintrat, so wäre der Erfolg aller Wahrscheinlichkeit nach ein anderer gewesen. Der Gedanke brannte wie Feuer in seinem Gemüt.

Trotz der Hoffnungslosigkeit des Kampfes führte er ihn mit grimmer Entschlossenheit, um womöglich gegen alles Vermuten den Sieg davonzutragen. Er wollte es, um eine begangene Sünde wieder gut zu machen. Daß nicht er sie begangen hatte, sondern jemand anders, machte ihn nicht weniger eifrig, sie zu tilgen.

Hier in der Kate hatte ihn ein Kranker in schweren Schmerzen einen ganzen langen Tag erwartet, und er war nicht gekommen. Ihm war es der Meister selbst, der gewartet hatte. »Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.« Das war die Sünde.

Daß er selbst keine Schuld an dem Versäumnis trug, machte es nicht geringer. Die Schuld ruhte auf einer anderen, und um der anderen willen litt er in seinem Gewissen. Am Helwigs willen. Denn sie war es, die auf dem Weg zum Pastorat Niels getroffen und seine Botschaft an den Pastor angenommen, aber sie erst am folgenden Morgen ausgerichtet hatte. Es ist schlimm genug, wenn man solch eine Botschaft von einem Kranken vergißt; noch schlimmer aber ist es, wenn sie einem plötzlich am Abend einfällt und man sie dann nicht ausrichtet, teils weil man einen gemütlichen Vorleseabend nicht stören will, teils weil man dem Pastor, dem Hirten der Armen und Kranken, eine lange Nachtwanderung ersparen will! Aber am allerschlimmsten ist es doch, wenn man keine Reue fühlt, sondern am nächsten Morgen von der Sache spricht, als hätte man gar keine Schuld, und als wäre alles in der besten Ordnung. Der schönen Helwig Sünde gegen seine Pflicht, gegen die Kätnersleute und gegen Gott ging Ols zu Herzen und brannte dort, als wäre es seine eigene Sünde.

Wie ging das zu? War denn das junge Weib, das unter seinem Dach wohnte, ein Stück von seinem Herzen geworden?

Er hatte sie nicht gesucht, und sie ihn auch nicht. Durch das Eingreifen Gottes war sie gekommen, um bei ihm zu wohnen. Konnte er da nicht mit Fug und Recht von dem begangenen Versäumnis sagen: Das Weib, das du mir gabst, täuschte mich?

Ganz gewiß hätte er das sagen können. Aber er wollte es nicht, er wollte ihr nicht die Schuld geben, obgleich sie schuldig war. Statt dessen hätte er die Schuld auf sich nehmen wollen, wenn es möglich gewesen wäre. Sein Kummer war, daß er es nicht konnte. Vor den Menschen konnte er es tun. Die Leute in der Kate wußten nichts von Helwigs Anteil an der Verschlimmerung der Krankheit, die vielleicht nicht mehr zu bannen war. Sie sollten auch nie etwas davon erfahren. Niels war weit fort, und bis er zurückkam, würde es vergessen sein, daß die Krankheitsbotschaft nicht ausgerichtet war. Menschen wußten nichts von Helwigs Schuld. Aber Gott sah sie. Würde Gott zulassen, daß er sie entgälte, anstatt Helwig? so grübelte Ols während der Augenblicke, in denen er Zeit fand, sich mit der Frage zu beschäftigen.

Der Kranke ließ ihm in jener Nacht nicht viele Zeit zum Nachdenken. Der Körper bedurfte der Pflege und auch die Seele. Jonas ahnte, daß sich das Ende nähere, und in der Stille der Nacht, während die Familie um ihn her schlief, bekannte er dem Pastor seine Sünden und empfing das Sakrament der Vergebung.

»Nun mag es werden, wie es will, Leben oder Tod, ich bin in des Herrn Hand und verlasse mich auf Jesus Christus,« sagte Jonas friedvoll mit matter Stimme.


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