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4.

Als Ols Mutter Brittas Hütte verließ, folgte er unbegangenen Pfaden, die er endlich auch aufgab, um quer durch den wilden Wald zu gehen, auf einen anderen Weg zu. Der Richtweg verkürzte seine Wanderung wohl um anderthalb Stunden.

Als er nahe bei seinem Heim aus dem Walde trat, wurde er einer schlanken Gestalt gewahr, die mit jedem Muskel gespannt dastand, bereit, die Flucht zu ergreifen. Ein schönes Gesicht voller Unruhe spähte ihm entgegen, aber die Furcht veränderte sich in fröhliche Zuversicht, als er vollends sichtbar wurde.

»Ach, das sind Sie? Ich dachte, es wäre ein Stier!« rief Helwig Furuclou erleichtert aus.

»Nicht ganz so gefährlich,« lächelte er.

Da sie beide aus dem Heimweg waren, gingen sie zusammen.

»Gehen Sie ohne Weg im Wald?« fragte sie und sah sich nach der Stelle um, wo sie sich getroffen hatten. »Ich sah keinen Weg dort münden.«

»Ich finde mich ohne Weg zurecht.«

»Und verirren Sie sich nie?«

»Jetzt nicht mehr. Im Anfang konnte es wohl geschehen, aber niemals ohne Grund.«

»Was für einen Grund kann man haben, sich zu verirren?«

»Ich kam dahin, wo ich nicht hinwollte, aber es war immerhin gut, daß ich kam. Ich hatte zu Menschen gefunden, die ich bei Vorgängen traf, wo mein Eingreifen nötig war.«

»Haben alle unsere Schritte Bedeutung, wenn sogar unsere Irrwege es haben?«

»Ich glaube, daß es so ist.«

»Sollte es auch Bedeutung haben, daß meine Mutter das Bein brach und hier liegen blieb?«

»Ganz gewiß.«

»Welche?«

»Das wird sich schon zeigen.«

Seine Sicherheit weckte in ihr die Lust, ihn aus der Fassung zu bringen.

»Vielleicht glauben Sie, daß meine Mutter und ich hier stecken geblieben sind, um von Ihnen bekehrt zu werden?« fragte sie mit herausforderndem Lächeln.

»Ist das nötig?«

Sie hatte ihn aus der Fassung bringen wollen, aber seine kurze, so ruhig gestellte Gegenfrage schlug ihr die Waffe aus der Hand und drohte statt dessen, sie verlegen zu machen. Aber sie hielt doch stand.

»Vermutlich sind Sie der Meinung.«

»Warum sollte ich das?«

»Sie sind doch Pastor, und ein Pastor muß doch gern alle bekehren wollen, und meine Mutter und ich gehören zu keinem ›gläubigen‹ Kreis.«

»Das tue ich auch nicht. Ich gehöre zu gar keinem Kreis.«

»Aber Sie sind doch wohl gläubig?«

Sie hatte einen besonderen, etwas geringschätzigen Ton bei dem Wort »gläubig«.

»Ich glaube an Gott den Vater, den Sohn und den heiligen Geist.«

Er antwortete ihr so einfach und geradezu, daß sie das Gefühl bekam, als wären ihre Fragen kleinlich und unverschämt. Es empörte sie, durch seine Würde in ein so unvorteilhaftes Licht gestellt zu werden.

»Sie begreifen wohl, daß ich nur scherze?« sagte sie halb fragend, halb behauptend.

»Ich dachte es mir.«

Er zeigte ihr in keiner Weise, daß er ihren Scherz dumm gefunden hätte, sie hatte aber das Gefühl, daß es so sei, und ihre eigene Auffassung legte ihm das zur Last. Im geheimen ärgerte sie sich deshalb über ihn. In dieser Stimmung ging sie auf ein anderes Thema über.

»Da wir nun einmal auf meine Mutter und meinen Aufenthalt zu sprechen gekommen sind, so kann ich vielleicht die Gelegenheit benutzen und die pekuniäre Seite der Sache ordnen. Wir sind nun drei Tage hier gewesen und haben noch keinen Finger gerührt, um für uns zu bezahlen. Sie glauben gewiß, daß wir die Absicht haben, als ungeladene Gäste hier zu bleiben?«

»Darüber habe ich mich noch nicht beunruhigt.«

»Da es scheint, daß wir gezwungen sein werden, bis auf weiteres hier zu bleiben, wollen wir doch einen Pensionspreis festsetzen.«

»Das eilt wohl nicht.«

Sie mißverstand seine Antwort.

»Meine Mutter und ich brauchen Ihre Wohltätigkeit nicht in Anspruch zu nehmen. Wir können und wollen für uns bezahlen,« sagte sie steif.

»Was wünschen Sie denn zu bezahlen?« fragte er gutmütig, ohne daß ihre plötzliche Vornehmheit Eindruck auf ihn machte.

»In der Pension bezahlten wir jeder fünf Kronen täglich.«

»Das wäre hier zu viel. Mein Haus ist keine Pension.«

Wieder legte sie seine Antwort anders aus, als sie gemeint war. Dünkelhaft erschien sie ihr und bis aufs äußerste setzte sie sich dem entgegen.

»Wenn wir in den Gasthof ziehen könnten – –. Ich will hingehen und sehen, wie es dort ist.«

»Warum sollten Sie das?«

»Wir wollen in keine Dankesschuld bei Ihnen kommen.«

»Ich glaube, der Umzug würde Ihrer Mutter schaden. Es ist auch nicht so gemütlich im Wirtshaus wie im Pastorat.«

Seine unerschütterliche Ruhe reizte Helwig und es beleidigte ihren übertrieben empfindlichen Stolz, daß er die Vorteile ihres Bleibens im Pastorat hervorhob. Sie sagte sich, daß er ein Protz sei, dieser Bauernpastor, und wäre glücklich gewesen, wenn sie ihn unter ihren Willen hätte zwingen können.

»Ich werde mir den Gasthof ansehen und mit dem Doktor sprechen,« sagte sie von oben herab.

Und er ließ es dabei bewenden. –

Als der Arzt am folgenden Tage kam, richtete Helwig es so ein, daß sie ihn einige Augenblicke allein sprechen konnte, und befragte ihn über den Umzug. Er machte große Augen und konnte nicht begreifen, wozu ein solcher Umzug gut sein sollte.

»In den Gasthof?« rief er aus. »Haben Sie schon jemals in den dortigen Betten gelegen, Fräuleinchen? Wie können Sie bloß daran denken, Ihre Frau Mutter mit dem kranken Bein auf eine solche Pritsche legen zu wollen? Und außerdem wäre allein das Hinüberschaffen ein Experiment, zu dem ich nicht raten möchte. Hat der Pastor Sie hinausgeworfen, oder was ist los?«

»Er ist so komisch wegen der Bezahlung. Er will keinen Preis nennen und sagt nur, daß sein Haus keine Pension ist,« beschwerte sich Helwig.

Der Doktor lachte laut und herzlich.

»Darin hat er furchtbar recht. Wenigstens keine einträgliche Pension. Er ist nur etwas schwerfällig, und es paßt ihm nicht, irgendeinen Preis zu nennen; denn er ist es nicht gewohnt, Bezahlung zu nehmen. Sein Gehalt bekommt er natürlich, aber seine Kranken kuriert er umsonst, und von seinen Gästen hat er bisher nie etwas genommen außer ihrem Segen, den sie dem Gastfreien durchaus geben wollten. Ich will Ihnen aber einen Kniff sagen, Fräuleinchen.«

Hier machte der Doktor ein pfiffiges Gesicht.

»Sagen Sie, daß er die Bezahlung für seine Kranken verwenden soll! Dann wird er sie annehmen.«

Ein Weilchen, nachdem der Doktor fortgefahren war, ging Helwig in des Pastors Zimmer. Sie wappnete sich mit ihrer ganzen Vornehmheit, um ihm nicht zu zeigen oder auch nur vor sich selbst bekennen zu müssen, daß sie unterlegen sei. Es war unsagbar ärgerlich, daß sie sich gezwungenermaßen zum Bleiben entschließen mußte nach dem, was sie zu ihm gesagt hatte. Sie wollte aber bei der Vereinbarung so verletzend gegen ihn sein, daß sein Triumph vergiftet werden sollte. Das war ihr schöner Entschluß, als sie an seine Tür klopfte und eintrat.

Er saß gerade an seinem Schreibtisch, stand aber auf.

»Daß er wirklich so viel Anstandsgefühl hat!« dachte sie.

Mit einer Handbewegung lud er sie ein, auf dem Ledersofa Platz zu nehmen, und erst, als sie das getan hatte, setzte er sich wieder auf den Schreibsessel.

»Ich habe mit dem Doktor gesprochen, und Mutter darf nicht fortgebracht werden.«

Er sagte nicht: »Das wußte ich«, aber sie fühlte, daß er es dachte, und das reizte sie.

»Ich sagte dem Doktor, warum ich so einen Vorschlag machte. Da lachte er und schlug vor, daß ich Ihnen Bezahlung zugunsten Ihrer Kranken geben sollte, dann würden Sie sie bestimmt annehmen. Mir ist es ja gleichgültig, wofür Sie das Geld anwenden wollen, wenn wir nur bezahlen.«

Zwar war sie sich bewußt, daß sie sehr ungezogen gegen ihn war, aber seine unerschütterliche Ruhe erzürnte sie noch mehr. Sie sehnte sich danach, ihm weh zu tun.

Er wandte sich zum Schreibtisch und nahm einen Zettel, der darauf lag.

»Ich habe eine Berechnung gemacht. Wenn Sie zwei Kronen am Tag bezahlen wollen, so sind die Kosten gedeckt, und keiner braucht dem anderen dankbar zu sein.«

Seine Haltung gab ihm immer mehr die Oberhand, die sie nur noch schwer zurückerlangen konnte. Aber sie hielt stand.

»Dann bleibt aber nichts für die Mühe,« sagte sie.

Er blickte auf das Papier in seiner Hand.

»Sie können ja Mutter und mir ein Trinkgeld geben, wenn Sie abreisen.«

Als er das sagte, sah er sie an. Ohne daß seine Lippen lächelten, lag ein Lächeln tief drinnen in seinen Augen, als spotte er ihrer. Aber es war keine Schärfe in dem Spott. Jetzt endlich sah sie ein, daß es nicht in ihrer Macht lag, ihn zu verletzen.

Sie schämte sich, als er ihr so antwortete, und sie fühlte, daß er das beabsichtigt hatte. Aber sie wollte ihm nicht zeigen, daß es ihm geglückt war. Schnell erhob sie sich.

»Wenn Sie nicht mehr annehmen wollen, so müssen wir mit Dank unter Ihren Bedingungen hier bleiben, da sich kein anderer Ausweg findet,« sagte sie.

Dann ging sie auf die Tür zu, hatte sie aber noch nicht erreicht, als er sie anhielt.

»Halt! Bleiben Sie!«

Sie wandte sich und versuchte, über seinen befehlenden Ton beleidigt auszusehen. Er kam ihr aber so entgegen, daß ihr kleinlicher Hochmut zuschanden wurde.

»Lassen Sie uns Freunde sein!« sagte er und reichte ihr die Hand.

An seinem Blick, dem Tonfall und seiner Gebärde sah sie, wie richtig er alles beurteilte, was in ihrer Haltung ihm gegenüber lag, aber auch, wie großherzig er es auffaßte. Seine Art tilgte gleichsam alles Geschehene aus.

Wider Willen wurde sie gezwungen, ihre dumme Kleinlichkeit einzusehen, und dadurch kam sie der Höhe näher, auf der er stand. Durch die Macht seiner Persönlichkeit hob er sie zur Selbstüberwindung empor, die dem verzogenen Mädchen ungewohnt war.

Etwas unsicher und verdrießlich lächelte sie, und es lag, ihr selbst unbewußt, etwas Abbittendes in ihrem Blick, als sie ihm die Hand reichte.

Es kam ihr vor, als ob in dem festen Griff, mit dem sie ihre Hand von der seinen umschlossen fühlte, mehr als eine Einigung lag. Es durchfuhr sie dabei wie eine Schicksalsahnung, ähnlich wie damals, als sie zum erstenmal von der Skalungahöhe über die Gegend mit dem blitzenden Kirchturmskreuz als Mittelpunkt blickte.


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